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Werner Bies
Stoff- und Motivforschung im Internet

1. Facetten

Wollte man die vielfältigen Gegenstände, Fragen und Erkenntnisinteressen der literaturwissenschaftlichen Germanistik auf wenige, Kategorien nicht unähnliche Facetten1) zurückführen, so fänden sich schnell ein: Autor (Hartmann von Aue, Arno Schmidt), Werk (Über das Marionettentheater, Mohn und Gedächtnis), Gattung (Bildungsroman, Ode), Methode/Schule (Positivismus, new historicism), Rezipient/Vermittler (Albrecht Schöne als Interpret von Goethes Faust II, Thomas Carlyle als Übersetzer von Wilhelm Meisters Lehrjahre, Alfred Kubin als Illustrator von Thomas Manns Tristan), Technik (innerer Monolog, Anakoluth), Thema/Stoff/Motiv / Topos (Einsamkeit, Prometheus, Mann zwischen zwei Frauen, locus amoenus), Zeit/Epoche (die Zeit zwischen 1780 und 1830, Barock), Institution (Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn, Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar). Obschon die Literaturwissenschaft, zumindest in ihrer Theorie, einer allzu einseitigen Konzentration auf die Facette 'Autor' abgeschworen hat, bleibt der Autor samt seines Werkes, wie viele Verfasserlexika und biobibliographische Nachschlagewerke bezeugen, weiterhin ein bevorzugter Fokus literaturwissenschaftlicher Referenzliteratur. Auch im Internet finden sich viele Wegweiser zu autorenbezogenen Informationen,2) und literarische Werke stehen in zunehmender Zahl, wenn auch oft in nicht verläßlicher Textgestalt und ohne Quellenangabe oder gar Kommentierung, in elektronischen Volltextdatenbanken zur Verfügung. Favorisiert werden im Internet überdies institutionenbezogene Informationen, zu der auch Hinweise auf wissenschaftliche Vereinigungen, anstehende Kongresse, ja selbst freie Stellen zählen.

Stoffe und erst recht Motive sind von jeher Stiefkinder der Referenzliteratur gewesen, und die Stoff- und Motivforschung ist auch im Internet nicht eigens ausgewiesen. Und doch bietet das Internet, wie im folgenden aufgezeigt wird, vornehmlich unter Etiketten wie 'Mythologie' oder 'Folklore' vielfältige Möglichkeiten der stoff- und (mit Einschränkungen) auch der motivgeschichtlichen Suche; ein eigenes thematologisches Netz muß freilich häufig erst noch geknüpft werden.

2. Stoff, Motiv, Topos, Stoffgeschichte, Thematologie: Arbeitsdefinitionen

Der Gegensatz zwischen Stoff und Form sei hier vernachlässigt, erinnert jedoch an den Unterschied zwischen Stoff und Motiv: Im Kontrast zum Stoff wird Motiv als die kleinere Einheit verstanden, als situationsgebundener "Bestandteil eines stofflichen Komplexes", der "keine Handlungskontinuität" und "keinen erzählbaren inhaltlichen Verlauf besitzt"3): "Der Stoff bietet eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an. Der Stoff ist an feststehende Namen und Ereignisse gebunden und läßt nur gewisse weiße Flecken im bunten Ablauf des Plots stehen, jene Rätsel oder Lücken entfaltungsfähiger Stoffe, die immer wieder neue Autoren zu Lösungsversuchen locken, während das Motiv mit seinen anonymen Personen und Gegebenheiten lediglich einen Handlungsansatz bezeichnet, der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt."4)

Stoffe im Sinne der soeben zitierten Elisabeth Frenzel sind beispielsweise Agamemnons Tod, Antichrist, Bergwerk zu Falun, Don Juan, Dürer, Eulenspiegel, Andreas Hofer, Jungfrau von Orleans, Maria Magdalena, Romeo und Julia, Troilus und Cressida, Undine, Das gerettete Venedig.5) Motive im Sinne von Elisabeth Frenzel sind beispielsweise der verliebte Alte, Arkadien, die verleumdete Gattin, die unbekannte Herkunft, die selbstlose Kurtisane, der herkunftsbedingte Liebeskonflikt, Ruinen, Teufelsbündner und Unterweltsbesuch.6)

Im Unterschied zu Motiven sind Topoi allgemein verwendbare Klischees, aus der Antike stammende Denk- und Ausdrucksschemata, phrasen- und formelhafte Wendungen wie z. B. Gott als Bildner, locus amoenus, Naturanrufung, puer senex oder verkehrte Welt.7)

Stoff- und Motivforschung wird wegen ihrer starken historischen Ausrichtung häufig unter der Bezeichnung 'Stoffgeschichte' subsumiert, die vornehmlich die Variationen von Stoffen und Motiven in verschiedenen literarischen Werken erforscht. Ihr Ziel ist jedoch weniger "die Beschreibung oder Wertung einzelner Werke und Autoren als der Versuch, geistesgeschichtlich orientierte Fixierungen für einen Epochenstil, Nationalstil oder auch für einen historisch veränderten Gattungsbegriff (z. B. Entstehung eines Prosaromans aus einem Epos) zu gewinnen. Stoffgeschichte nähert sich daher einer Formgeschichte, die an Handlungs- und Ereignisstrukturen, Themen, mythologischen oder historischen Figuren und Problemen exemplifiziert wird; sie liefert Fakten und Beobachtungen für eine rezeptionsgeschichtlich bestimmte Literaturerforschung und stellt Material bereit für literatursoziologische Untersuchungen, zum Beispiel bei der Frage der Popularisierung oder Trivialisierung von Stoffen der Hochliteratur."8)

Die neuere Stoff- und Motivforschung, die sich als Thematologie bezeichnet, wehrt sich gegen die Vernachlässigung formaler und ästhetischer Momente in einer oft genug der 'Stoffhuberei' erliegenden Stoff- und Motivgeschichte. "Thematologie umfaßt den herkömmlichen Gegenstand der 'Stoffgeschichte' und überschreitet ihn zugleich sowohl durch die extensive Einbeziehung aller Phänomene des Stofflichen als auch durch die Intensivierung der philologischen Methoden."9) Sie schließt auch die Symbolforschung ein und diejenigen "typologischen Forschungsrichtungen, die den thematischen Zusammenhängen in der Geschichte von Allegorien und Emblemen, poetischen Bildern, Gleichnissen und Topoi nachgehen".10)

Auch um nicht im Einzelfall platzraubende Unterscheidungen zwischen Thema, Stoff, Motiv, Sujet, Symbol oder Topos vornehmen zu müssen und all dies in einem Begriff zusammenzufassen, soll im folgenden in der Regel von 'Thematologie' die Rede sein. Ein solcherart thematologischer Ansatz liegt auch dem - sich hierin von den Lexika Elisabeth Frenzels unterscheidenden - Nachschlagewerk von Horst S. und Ingrid G. Daemmrich11) zugrunde, in dem u. a. vertreten sind: fundamentale anthropologische, philosophische, metaphysische und existentielle Themen (Absurd, Begrenzung - Freiheit, Das Nichts), psychologische Themen und Verhaltensweisen (Aggression, Selbstverwirklichung), Typen (Clown, Dandy), Körperteile (Augen, Hand) sowie einzelne Natur- und Wetterphänomene (Dämmerung, Tagesanbruch, Blauer Himmel).

Aus Platzgründen können im folgenden nur einige wenige Hilfsmittel und exemplarische Web-Sites und Web-Seiten - 'gute' wie 'schlechte' - besprochen, nur einige zentrale exemplarische Fragestellungen und Probleme erörtert werden. Im übrigen stellt 'Thematologie im Internet' ein ideales Thema dar, um stellvertretend Chancen und Risiken sowie mögliche Methoden philologischen Arbeitens im und mit dem Web vorzustellen. Vieles im Internet ist flüchtig, vorläufig, provisorisch, fragil, experimentierend, Auswuchs von Launen und spleens, hat 'Laborcharakter' und ist ständig under construction. Der vorliegende Beitrag will daher das Material nicht auf eine dem Gegenstand unangemessen rigide Weise strukturieren, bietet auch deshalb nicht mehr als erste, im Moment des Schreibens auch schon wieder hoffnungslos überholte Lotsendienste und trifft eine vorsichtige, aber auch subjektive Auswahl. Schließlich wird jeder seine eigenen thematologischen Reisen durchs Internet antreten wollen oder müssen. Auch ist angesichts der Fülle des gesichteten Materials eine Wertung nur begrenzt möglich. Ebenso muß die Theoriediskussion der Thematologie fast durchweg unberücksichtigt bleiben. Wenn im übrigen immer wieder in die Jahre gekommene terminologische Ansätze von Elisabeth Frenzel durchscheinen, die hinter dem umfassenderen Konzept der Thematologie zurückbleiben, so ist dies auch der prominenten Rolle der Autorin zuzuschreiben, die Positionen definiert und zugleich ihre Definitionen bei der Strukturierung wegweisender, bis heute gerne genutzter Lexika zugrundegelegt hat. Und dies fast schon eine Selbstverständlichkeit: Der vorliegende Beitrag ist nicht an einer einzelnen Nationalphilologie, sondern komparatistisch orientiert.

Nicht als strenge Gliederungspunkte, sondern als facettierte Einstiege sind die folgenden Abschnitte zu verstehen: "Lotsendienste und Navigationshilfen - erste Anlaufstellen und Hilfsmittel"; "Die großen Vorratskammern: Mythologie - Bibel - 'Symbolische Formen'"; "Traditionelle Erzählliteratur - Folklore"; "Weltliteratur"; "Gattungen"; "Kolportage-, Unterhaltungs- und Populärliteratur - Mythen des Alltags"; "Epochen"; "Hypertext und Hypermedium im Dienst der Thematologie"; "Web-Literatur/Internetliteratur".

3. Lotsendienste und Navigationshilfen - erste Anlaufstellen und Hilfsmittel

Wichtige erste Anlaufstellen auch für den Thematologen sind geisteswissenschaftliche, insbesondere germanistische Ressourcenseiten und Linksammlungen wie z. B. The Voice of the Shuttle: Web Page for Humanities Research mit Sparten wie "General Humanities Resources" oder "Literature (other than English) Page" mit einer germanistischen Abteilung. In jedem Fall sollten auch konsultiert werden: Germanistik im Internet - Erlanger Liste / Ressourcen, Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek: Germanistik (auch wegen der Sparte "Elektronische Texte") sowie Literaturrecherche im Internet (Michael Mandelartz) und Nützliche Informationen für Geisteswissenschaftler (Armin Fingerhut).

Von großem Nutzen sind auch die Bibliothekskataloge der Verbünde und großen Bibliotheken.12) Für Deutschland ist insbesondere der Karlsruher Virtuelle Katalog zu nennen, der Zugänge u. a. zu folgenden Katalogen ermöglicht: Südwestdeutscher Bibliotheksverbund, Bibliotheksverbund Bayern, Die Deutsche Bibliothek, Österreichischer Bibliothekenverbund, Britischer Verbundkatalog (COPAC) und Library of Congress. Wer hier thematologisch relevante Titelstichwörter eingibt - von "Atlantis" bis "Prometheus", von "Daphnis" bis "Paracelsus", von "Antigone" bis "Tannhäuser", von "Medea" bis "Wilhelm Tell" -, kann sich schnell von der Nützlichkeit dieser großen Bibliothekskataloge überzeugen.

Ergiebig sind auch Suchmaschinen13) wie AltaVista (hier sollen 30 Millionen Seiten auf etwa 600.000 Servern abgesucht werden können), excite (die Treffer erfolgen nach einem in Prozenten ausgedrückten "Confidence Rating", mit dem die vermutete Nähe zum Suchwunsch ausgedrückt wird), infoseek, Inktomi, Lycos, Magellan, Webcrawler und Yahoo (ein hierarchisch strukturiertes directory) (s. hierzu kurz den Abschnitt 8).

4. Die großen Vorratskammern: Mythologie - Bibel - 'Symbolische Formen'

4.1 Mythologien - allgemein

Einen der besten und umfangreichsten Wegweiser stellt Christopher B. Sirens Myths and Legends dar mit pragmatischen, gut strukturierten Abteilungen wie "Encyclopedias, Dictionaries, and Archives", "Myth and Story Collections", regionalen 'Kapiteln' wie "Ancient Near East", "East Asian", "Greek and Roman", "Norse/Teutonic", "British and Celtic", aber auch gattungsnahen Abschnitten wie "Gothic Horror" und "Early Fantasy & SF". - Eine gute Auswahl für einen raschen Überblick bietet Margaret Vail Andersons Digital Librarian: a librarian's choice of the best of the web. Mythology.

M. F. Lindemans' The Encyclopedia Mythica: An encyclopedia on mythology, folklore and legend, das zur Zeit beste elektronische mythologische Nachschlagewerk, enthält mehr als 4.000 mythologische Artikel, vor allem zu mythologischen Figuren. Als "areas" werden u. a. die ägyptische, griechische, keltische, nordische, römische und polynesische Mythologie ausgewiesen. In der "Image gallery" (19.3.98: insgesamt 188 Bilder) sind bislang nur die griechische Mythologie (76 Bilder) und Heldensage (21 Bilder) sowie die römische Mythologie (29 Bilder) recht gut vertreten; alle anderen Mythologien werden bislang eher spärlich bedacht.

4.2 Antike Mythologie

Bulfinch's Mythology: The Age of Fable or Stories of Gods and Heroes bietet eine Hypertext-Version des 1855 erstmals in Boston erschienenen populären Klassikers von Thomas Bulfinch mit Suchmöglichkeit nach einzelnen Wörtern, Links zu Artikeln über Gottheiten und weitere thematologisch interessante Phänomene, zu literarischen Werken und Bildern, überdies zahlreiche nützliche "Webmaster's Links" zu Internet-Ressourcen zur Antike, insbesondere zu ihrer Mythologie.

J. M. Hunts Greek Mythology stellt eine sich noch in ihren Anfängen befindliche Einführung in die griechische Mythologie mit sehr kurzen Informationen in fünf Abschnitten dar: "The Gods", "Heroes", "Creatures", "Stories" und "Family Trees"; noch liegt der Schwerpunkt auf den Titanen und Olympischen Göttern.

Mythology in Western Art will "a collection of art images relating to Classical mythology" bilden. Bislang sind nur wenige Gottheiten aufgenommen: neben Kurzbeschreibungen mit ikonographischem Akzent (d. h. Betonung der Attribute in den bildenden Künsten) können - auch weniger bekannte - bildliche Darstellungen aufgerufen werden.

Kulturelles Erbe und Nachleben der Antike werden in den mythologischen Datenbanken des Internet - so ein Fazit - engagiert, gelegentlich gar enthusiastisch gepflegt. Die Kontinuität der Antike scheint somit auch in dem bislang rezentesten Informationsmedium gesichert. Über vielfältiges Bildmaterial kann der Nutzer in Sekundenschnelle auch an den 'Körper-Inszenierungen' der Antike teilhaben.
(s. a. Abschnitt 9.1 "Antike")

4.3 Nordische Mythologie

Nicole Cherrys Norse Mythology, under construction, als FAQ verstanden, d. h. als Nachschlagemöglichkeit für frequently asked questions, enthält Abschnitte wie "Creation", "The nine worlds" (z. B. "Asgard" und "Niflheim"), "Ragnarok" und "List of gods/goddesses" (u. a. Aegir, Frigg, Nerthus, Odin und Thor). Würde man einer solchen, eher schlichten Kompilation, bislang nur Ankündigung eines Mythologielexikons, überhaupt größere Aufmerksamkeit schenken, wenn sie nicht im Internet, sondern nur in gedruckter Form vorläge? Man beachte auch den großen qualitativen Abstand zu einem Nachschlagewerk wie Rudolf Simeks Lexikon der germanischen Mythologie. (Kröners Taschenausgabe 368). 2., erg. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1995.

4.4 Bibel

Von großem Wert für den Thematologen ist die Luther Bibel, d. h. die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, in der mittels - auch stoff- und motivgeschichtlich relevanter - Suchwörter recherchiert werden kann. Wer z. B. "Rabe" eingibt, erhält 14 Treffer, u. a. auch Lk 12,24: "Seht die Raben an: sie säen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Keller und keine Scheune, und Gott ernährt sie doch."

Nützlich sind auch die Religious Resources des Electronic Text Center der University of Virginia und die dort angezeigte The Holy Bible, King James Version, in der ebenfalls nach einzelnen Wörtern gesucht werden kann.

4.5 the MYSTICA

Das Online-Nachschlagewerk the Mystica widmet sich "past and present ideas, concepts, beliefs, and practices in the worlds of the occult, mysticism and paranormal". Wie bei vielen Datenbanken im Internet zeigt sich eine gewisse Spannung: das Referenzwerk sei noch "in its infancy stage", tritt jedoch jetzt schon mit dem Anspruch auf, "universal" zu sein.14) Für den Thematologen finden sich hier interessante Artikel wie "Atlantis", "Guardian Angel", "Homunculus, "Jacob's Ladder" oder "Metamorphosis".

4.6 Emblematik

Als Träger und Vermittler traditioneller Stoffe und Motive, namentlich aus Mythologie, Bibel, Geschichte und dem Physiologus, verdient das Emblem das besondere Interesse der Thematologie.

University of Glasgow: Emblems Website, an einer Universität mit einer der wohl größten Emblembuchsammlungen der Welt plaziert, ist auf französische Emblembücher spezialisiert und hält einen Kurztitelkatalog der Sammlung bereit.

Alciato's Book of Emblems: The Memorial Web Edition in Latin and English bietet u. a. den lateinischen Text und Bilder aus einer Ausgabe von 1621 des berühmten Emblembuchs sowie eine Übersetzung ins Englische.

Die Bibliothek der University of Illinois besitzt etwa 650 originale, davon 67 deutsche Emblembücher; letztere sollen im Internet als digitalisierte Emblemsammlung angeboten werden - auch im Dienste der Erhaltung und Verfügbarkeit gefährdeter Buchbestände (German Emblem Books: Project Proposal).

4.7 Alchimie

Wer über alchimistische Symbole und Motive - Adler, Koralle, Kröte, Mond, Pelikan, Schwert, Uroboros - forscht, darf bei der Konsultation des Referenzwerkes The alchemy web site and virtual library auf reiche Beute hoffen: mehrere tausend Seiten Text, insgesamt 180 vollständige alchimistische Texte, ausführliches bibliographisches Material, Hinweise auf aktuelle Ressourcen (Gesellschaften, Zeitschriften) und - vielleicht am faszinierendsten - eine eigene Sparte "Images": "Alchemical Imagery, symbolism and music - paintings, images from manuscripts, alchemical apparatus and symbols, database of alchemical emblems". Insgesamt können mehr als 1.500 Bilder betrachtet werden. Mittels eines Retrievalmodus läßt sich nach einzelnen Wörtern suchen (Beispiel "phoenix": 47 Treffer).

5. Traditionelle Erzählliteratur - Folklore

Besondere Anregungen hat die Thematologie, vor allem die Motivforschung, durch die Volkskunde und Erforschung traditionellen Erzählguts erfahren,15) die sich mit Gattungen wie Märchen, Sage, Fabel, Legende, Spruch und Sprichwort befaßt und u. a. genuine Märchenmotive untersucht: Bewährungsproben, die drei Wünsche, Kranker trägt Gesunden, Mädchen sucht seine Brüder, Verwandlung, Verwünschung, Zeichen des Erkennens (z. B. Ring). Wer sich mit der Thematologie des Märchens befaßt, wer nach Informationen zu Märchenfiguren oder Fabeltieren wie Drache oder Einhorn sucht, wer Fabelmotive (z. B. Wolf und Lamm) recherchiert und bei alledem nicht nur wissenschaftliche Ansprüche anmeldet, wird im Internet recht gut bedient. - Als Linksammlung, die auch zentrale Usenet newsgroups aufführt, sei empfohlen: Folklore and Mythology Journals, Societies, University Departments.

5.1 Märchen

Eine umfangreiche Zusammenstellung von Märchentexten, u. a. von Andersen, Bechstein, den Gebrüdern Grimm und Hauff, wie auch La Fontaines Fabeln, eine Auswahl Fabeln aus aller Welt sowie eine Sagensammlung finden sich in Die Bibliothek der Märchen des Projekt Gutenberg-DE (s. hierzu auch Abschnitt 6).

Als "archive of folk and fairy tales", als "small sampling of the rich storytelling art that is the common heritage of humanity" versteht sich Tales of Wonder: Folk and Fairy Tales from Around the World mit Märchen u. a. aus Afrika, dem Mittleren Osten, Indien oder Zentralasien.

5.2 Fabel

Aesop's Fables: Online Collection enthält eine Sammlung von mehr als 655 Fabeln nicht nur Aesops, zu denen - recht beliebig - auch noch 127 Märchen (!) von Hans Christian Andersen hinzugefügt sind. Der Impetus dieser Sammlung liegt auf der Moral der Fabeln, auf "the ageless and timeless wisdom of Aesop". Über "Aesop's Search Engine" kann mit Hilfe einzelner Wörter recherchiert werden, beispielsweise auf der Suche nach (Tier-)Motiven wie Adler, Fuchs, Löwe oder Wolf; die Ergebnisse werden nach vermuteter Relevanz gewichtet.

5.3 The Faerie Encyclopedia

The Faerie Encyclopedia ist in neun 'Bände' eingeteilt wie "Faerie Locales", "Faerie Flora and Trees", "Faerie Poetry" oder "Faerie Superstitions". Am nützlichsten ist vol. I, "Denizens of the Fey Folk", ein Lexikon der Gestalten der 'niederen' Mythologie: Dämonen, Elementargeister, Elfen, Feen, Kobolde, Zwerge. Wie viele elektronische Datenbanken zu Themen, Motiven, Symbolen und Figuren der Folklore und der Mythologie ist auch The Faerie Encyclopedia als Teil einer Konjunktur der fantasy-Literatur und des Esoterikbooms zu sehen.

5.4 Volks- und Kunstlieder

Sehr gute Dienste auf der Suche nach Themen und Motiven des deutschsprachigen Volksliedes bietet der Index Volkslieder Verzeichnis [sic]. Hier kann in einem alphabetischen Register über den Liedtitel bzw. das Incipit gesucht und häufig auch der entsprechende Text aufgerufen werden. Zum Motiv des Abends beispielsweise finden sich im Register verzeichnet: "Abend ist es Herr die Stunde", "Abend ward bald die Nacht", "Abend wird es wieder", "Abend wird's des Tages Stimmen schweigen", "Abendchor", "Abendfrieden", "Abendlied", "Abendruhe", "Abendruhe nach des Tages Lasten", "Abends unterm Weizenkranz", "Abendschritte" und "Abendstille überall" [alle Titel sic]. Zu den Volksliedern zählt hier auch die "Mäckie Messer Moritat". Den gleichen Aufbau haben Anderer Länder Folksongs of various Countries [sic] und Hymns, Gospel Songs & Spirituals.

Ein umfangreiches Archiv des Kunstliedes bietet Emily Ezusts The Lied and Song Texts Page. Über "Search the Collection" kann mit Hilfe eingegebener Suchwörter in allen Texten des Archivs (Lieder u.a. von Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller, Friedrich Nietzsche und aus Des Knaben Wunderhorn) nach bestimmten Topoi und Motiven gesucht werden (Beispiel: "Einsamkeit": 42 Treffer).

5.5 Arthuriana

The Camelot Project, The University of Rochester stellt ein Archiv dar, das "Arthurian Texts, Images, Bibliographies and Basic Information" bereithält - mit besonderer Berücksichtigung der Rezeption in der neueren Literatur und Kunst, freilich mit einseitiger Bevorzugung des englischen Sprachraums; hier läßt sich nach "Knights and Ladies of Arthur's Realm", "Symbols and Motifs" (z. B. "The Holy Grail") und den Orten in Arthurs Reich suchen.

6. Weltliteratur

Auf der Suche nach den Texten einzelner Autoren, ihren Themen, Stoffen und Motiven sollte der Thematologe Sammlungen elektronischer Texte konsultieren wie das Projekt Gutenberg-DE, das Perseus-Projekt, das University of Virginia Library Electronic Text Center, u. a. mit den Abteilungen Deutsche Literatur im Internet: Textsammlungen und Autorenverzeichnis und English Language Resources oder auch The Internet Classics Archive. Während man im Projekt Gutenberg-DE - entgegen einer weitverbreiteten Ansicht - leider keine Volltexte, sondern nur kleinere, jeweils aufgerufene Textsegmente absuchen kann (im übrigen nur von nicht-wissenschaftlich edierten Texten, die keinem Copyright mehr unterliegen), können die Texte des University of Virginia Library Electronic Text Center in Gänze abgesucht werden.

Besonderes Interesse verdienen in unserem Zusammenhang thematologische 'Schlüsseltexte' der Weltliteratur, wirkungsreiche Sammelbecken und Vorratskammern überlieferter Stoffe, Motive, Mythen und Symbole, wegweisend für künftige Entlehnungen und Imitationen, 'Schaltstellen' der Stoff- und Motivgeschichte, häufig auch enzyklopädische 'Weltspiegel' oder 'Welttheater': Homers Odyssee, Vergils Aeneis, Ovids Metamorphosen, Dantes La Divina Commedia, Giovanni Boccaccios Il Decamerone, Shakespeares16) Dramen, Goethes Faust.17)

Hervorragend edierte und kommentierte literarische Texte der Antike bietet The Perseus Project: An Evolving Digital Library vom Classics Department der Tufts University, das auch interessantes Text- und Bildmaterial zur Kunst und Archäologie enthält. Neben den originalsprachlichen Texten gibt es englischsprachige Übersetzungen - beispielsweise von Homers Odyssee, Vergils Aeneis oder Ovids Metamorphosen -, in denen vor allem mythologische Textstellen (z. B. Calypso, Daphne, Hyperion, Phoebe) angeklickt werden können, um entsprechende Erläuterungen zu erhalten. Einen exzellenten Wegweiser stellt Ovid im WWW dar, z. B. mit den Sparten "Illustrationen aus historischen Editionen", "Texte und Übersetzungen", "Rezeption" (u.a. "Antike Mosaiken", "Musik", "Kunst").

In einer Ausgabe der Divina Commedia kann mit Hilfe einer eigens eingerichteten Suchmaske ("Ricerca libera nel testo"18)) nach bestimmten Wörtern, Phrasen und damit auch Topoi, Motiven und Stoffen im gesamten Text recherchiert werden. Einen hervorragenden Wegweiser zu den Dante-Ressourcen im Netz stellt DigitalDante dar u.a. mit "General Resources", "Dante's Works" und "Image Collections" (hier z. B. die Dante-Illustrationen von Gustave Doré). Über die Hölderlin-Homepage - noch ein letztes Beispiel - läßt sich in allen Texten Hölderlins nach einzelnen, oft thematologisch faszinierenden Stichwörtern suchen (Beispiele: "Herbst": 15 Treffer, "Hyperion": "mindestens" 124, "Parzen": 5 Treffer); sodann können die entsprechenden Texte - nach Friedrich Beißners Stuttgarter Ausgabe - aufgerufen werden.

Auf der Suche nach Stoffen und Motiven lassen sich wichtige literarische Werke ebenso über größere Textkorpora - auch diese ein wichtiges Hilfsmittel der philologischen, insbesondere thematologischen Suche im Internet - konsultieren, z. B. in Deutsches Wörterbuch19) von Jacob und Wilhelm Grimm, in dem u. a. Texte wie Sebastian Brants Das Narrenschiff, Faustbuch (1587), Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg oder Novalis' Heinrich von Ofterdingen nach bestimmten Wörtern abgesucht werden können.

7. Gattungen

Eine Verknüpfung zwischen Thematologie und Gattungstheorie ergibt sich mindestens durch das oftmals untersuchte, hier nicht zu vertiefende Problem einer möglichen Gattungsaffinität bestimmter Stoffe und Motive; so hat Elisabeth Frenzel beispielsweise das Falter-Kerze-Motiv den typischen lyrischen Motiven oder Bruderzwist, Tyrannenmord, Doppelgänger, Hahnrei und den überlegenen Bedienten den typischen dramatischen Motiven zugerechnet.20) Daß - von der Thematologie favorisierte - Gattungen traditionellen Erzählguts wie Märchen oder Fabel, insbesondere in bezug auf die Texte, insgesamt gut präsentiert sind, ist bereits deutlich geworden; an dieser Stelle sollen aus Platzgründen nur noch kurz die Gattungen des Bestiariums und des historischen Romans besprochen werden.

7.1 Bestiarium

The Aberdeen Bestiary, aus der Zeit um etwa 1200 stammend, wird in einer - auch kodikologischen und bibliophilen Ansprüchen genügenden - Online-Datenbank bereitgestellt, in der auch nach einzelnen Wörtern, Phrasen oder (Tier-)Motiven gesucht werden kann. Angeboten werden der Originaltext und seine Transkription, die Bilder des Bestiariums, ebenso eine Übersetzung und ein Kommentar zu Text und Bild.

Kein 'Primärbestiarium', sondern ein 'Sekundärbestiarium' stellt The Guide to Unbiological Species dar, der in kurzen Artikeln phantasiegeborene Tiere wie Kerberos oder Leviathan vorstellt, eine Bibliographie und eine "Image Gallery" enthält. Daß die Datenbank ihren Namen einem Fantasy-Roman entlehnt haben soll, markiert ihren Habitus und ihr mentales Umfeld.

Einem einzelnen Fabeltier, dem Einhorn, gewidmet ist die faszinierende The Unicorn Web Page. Die Web-Seite wechselt einen Teil des Bildmaterials (z. B. Einhorn auf Spielkarten, Einhorn und Jungfrau, Einhorn in der Heraldik, Jagd aufs Einhorn) alle 6 - 8 Wochen und enthält einen 'Reiseführer' zum Einhornmotiv in Pariser Museen sowie eine ausgewählte Bibliographie zum Einhorn (sowohl "Essais" als auch Romane).

7.2 Historischer Roman

Aufgrund seines unumstrittenen Bezuges zu geschichtlichen Stoffen hat der historische Roman für die Thematologie stets eine große Rolle gespielt. Das Projekt Historischer Roman,21) das darauf abzielt, "eine sozialhistorisch und literatursoziologisch fundierte Gattungsgeschichte zu verfassen, die nicht nur den gängigen Kanon der bekannten historischen Romane, sondern die ganze Breite des Genres berücksichtigt", hält eine Online-Bibliographie des deutschsprachigen historischen Romans von 1780 bis 1945 mit ca. 6.300 Einträgen bereit. Da Ritter-, Schauer- und Räuberromane keine historischen Tatsachen verarbeiteten, seien sie aus der Datenbank ausgeschlossen. Recherchieren kann der Nutzer im Datenbankregister mittels eines Autorenregisters, eines Registers, das "Gesamtes Schlagwortregister" genannt wird, oder spezifizierter, über ein Personen-, Orts-, Ereignis-, Zeitschlagwort- oder Sachregister. Um das erfreuliche Spektrum der Datenbank exemplarisch zu veranschaulichen: Unter dem Buchstaben N des alle Schlagwortkategorien erfassenden Gesamtregisters finden sich Personen wie Kaiser Nero oder Johann Balthasar Neumann, 'Orte' wie Neapel, Neckartal, Neuengland oder Neustadt in der Kurpfalz, Ereignisse wie Erster niederländisch-englischer Krieg (1652-1654) oder Schlacht bei Nieuwpoort (1600), Zeitschlagwörter wie Neuzeit (1500 bis zur Gegenwart) oder Frühe Neuzeit, Sachschlagwörter wie Nationalitätenfrage oder Nationalsozialismus. Wer das Zeitschlagwortregister unter dem Buchstaben B aufschlägt, findet "Biedermeier" und "Bronzezeit", nicht aber "Barock"; 'numerische' Zeitschlagwörter mit unterschiedlichem Umfang finden sich unter dem Buchstaben J, z. B. neben "19. Jahrhundert" "1. Hälfte 19. Jahrhundert", "2. Hälfte 19. Jahrhundert", "Anfang 19. Jahrhundert", "Mitte 19. Jahrhundert", "Ende 19. Jahrhundert". Besonders ergiebige Funde warten auf denjenigen, der nach Orten oder Landschaften sucht, z.B. finden sich allein drei Norderney-Romane (mit einem zusätzlichen Hinweis auf den Oberbegriff "Ostfriesland"): Adolf, Karl: Die Schmugglerstochter von Norderney. Historischer Roman (1891); Jensen, Wilhelm: Runensteine. Roman (1888); Meymund, A.: Vergangene Tage. Roman aus der Zeit König Georgs V (1900).

8. Kolportage-, Unterhaltungs- und Populärliteratur - Mythen des Alltags

Das Internet, das selbst Kolportage produziert, hat auch ein Faible für die Vermittlung der nicht nobilitierten Gattungen, der Kolportage-, Unterhaltungs- und Populärliteratur, des Kriminalromans und der Science Fiction. Wer den 'gesunkenen Motiven' in der populären Literatur nachstöbert, wird hier schnell fündig. Wer beispielsweise Pathosformeln und Affekte des Abenteuers, Topoi des Abenteuerromans, Motive wie 'der edle Wilde' oder 'Helden des Westens' erforscht, kann die Texte Karl Mays22) und wichtige Sekundärliteratur zu diesem Autor konsultieren und hierbei auch nach einzelnen Wörtern suchen (thematologisch ergiebig sind beispielsweise "Abschied", "edler" und "Fremde"). Und für die Erforschung des Themas 'Erzählte Kriminalität'23) stehen entsprechende Nachschlagewerke zur Kriminalliteratur ebenso wie zentrale Werke dieser Gattung bereit. Von besonderem Interesse sind The Mysterious Home Page: A Guide to Mysteries and Crime Fiction on Internet mit der Möglichkeit der grobthematischen Suche (z. B. "Academic mysteries" oder "Digging for Clues: Mysteries in the Garden") oder Poe's Virtual Library mit Bibliographien, biographischem Material, Texten des Autors, Diskographien und auch einer plot synopsis des Musicals Poe: A Musical Based on the Life of E. A. Poe von Jack Aaronson.

Sofern man der thematologischen Forschung auch das Studium der Mythen des Alltags,24) der Populärkultur und Unterhaltungsindustrie, etwa des Filmgeschäfts und der Comics, zurechnet, kann man die Suchmaschinen des Internet zu vielfältigen Recherchen nutzen; um sich von der geradezu erschlagenden Ergiebigkeit der Recherche zu überzeugen, gebe man einmal in AltaVista [Hauptseite (deutsch)]25) Suchwörter ein wie "Batman" (3.6.98: 182.140 Treffer), "Frankenstein" (2.6.98: 54.210 Treffer), "Godzilla" (2.6. 98: 39.490 Treffer), "Titanic" (3.6.98: 152.230 Treffer), "UFO" (3.6.98: 388.070 Treffer). Lohnend ist aber auch die Suche nach weniger spektakulären Mythen und Topoi der Populärkultur wie z. B. nach dem aus der Blues-Folklore bekannten Motiv des Stormy Monday.

9. Epochen

Die Verknüpfung zwischen Thematologie und Epoche wird augenfällig durch das oft beobachtete Phänomen der zeittypischen Stoffe und Motive. So hat das Barock eine Vorliebe für Motive wie vanitas, Spiegel und theatrum mundi, die Romantik für die Teufels- und Dämonenmotivik, der Realismus für das Motiv des Lebensabends, der Naturalismus für die Figur des Botens aus der Außenwelt, der Expressionismus für das Motiv der Großstadt sowie die Themen Morgue und Krieg.26) Doch auch, wenn es um Stoff- und Motivveränderungen, um Belege für bestimmte Themen in einzelnen Epochen geht, wählen Thematologen die Epoche als Einstieg. Wichtige Ressourcen zu den Epochen der deutschen Literatur bietet die vorzügliche Ressourcenliste Germanistik im Internet - Erlanger Liste / Epochen.

9.1 Antike

Sehr umfangreich ist KIRKE (Katalog der Internet-Ressourcen für die Klassische Philologie aus Erlangen) mit zahlreichen Hinweisen auf thematologisch relevante Ressourcen auf den Gebieten Mythologie und Religion. Besondere Beachtung verdient Gnomon Online. Bibliographische Datenbank. Internationales Informationssystem für die Klassische Altertumswissenschaft, das eine Auswahl aus der Gnomon CD-ROM 1998 mit besonderer Berücksichtigung der Jahre seit 1990, aber auch zahlreiche ältere Titel enthält. Bei der Eingabe von "Artemis" beispielsweise wurden in der gefelderten Suche genau 100 (29.5.98), bei der Eingabe von "Pandora" in der freien Suche 34 Treffer erzielt (30.3.98).

Uwe Wiedemanns GreekWeb, ein Hypertext-Lexikon, das sich mit Engagement der griechischen Philosophie, besonders der Logik und Erkenntnistheorie annimmt, enthält auch konzise Artikel zu Gestalten der griechischen Mythologie (unter dem Buchstaben "P" fehlen z. B. Pandora und Poseidon), die ebenfalls stark philosophisch akzentuiert sind ("Herakles": "Die Philosophen betrachteten ihn als Vorbild, der sich Unsterblichkeit durch seine Leistungen und durch seine Entscheidung zu einem Leben voll Mühe verdient habe.").

Mit Hilfe der Suchmaschinen fuer die Archive der Original- und der Photosammlung von AERIA (Antikensammlung Erlangen Internet Archive) der Universität Erlangen läßt sich ein virtuelles Museum antiker 'Bilder' - viele mit mythologischen Sujets wie Argonauten oder Zeus - einrichten.

Zu empfehlen ist Lisa Auangers A Selected List of Poetry with a Classical Basis, die abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wie Rainer Maria Rilke oder Paul Valéry nur Dichtung englischsprachiger Autoren aufführt. Unter den hier aufgelisteten Gedichten, die die antike Kultur thematisieren, finden sich viele mit mythologischen Sujets wie z. B. Aldrich, Thomas Bailey: "Andromeda"; Browning, Robert: "Orpheus and Eurydice"; Noyes, Alfred: "Actaeon"; Rossetti, Dante Gabriel: "Cassandra"; Shelley, Percy Bysshe: "Hymn of Pan"; Tennyson, Alfred: "The Lotus-Eaters"; Yeats, William Butler: "Leda and the Swan". (s. a. Abschnitt 4.2 "Antike Mythologie")

9.2 Mittelalter

Argos: Limited Area Search of the Ancient and Medieval Internet ist eine 'kontrollierte' Suchmaschine, die, wie aus dem Untertitel schon ersichtlich, nicht das gesamte Internet abdeckt, sondern, um unerwünschte Informationen abzuwehren, nur ausgewählte, der Antike und dem Mittelalter gewidmete Sites. Qualitätskontrolle und freiwillige Beschränkung: so lautet die Philosophie dieser Suchmaschine. Wer z. B. nach "Penelope" sucht, erzielt 98 Treffer, u. a. einen Link zur Übersetzung der Odyssee von Samuel Butler mit dem Hinweis, daß dort 104 Textstellen mit "Penelope" auf ihn warten.

The Labyrinth: Resources for Medieval Studies, das den organisierten Zugang zu elektronischen mediävistischen Ressourcen erleichtern will, bietet u. a. die Sparten "The Labyrinth Library" ("Auctores et fontes" und "Scripta moderna") und "Special Topics" (u.a. "Arthurian Studies"). Die Ergebnisse, die man mittels in "Search the Labyrinth" eingegebener Suchwörter (aus stoffgeschichtlicher Sicht z. B. interessant: "Judith") erzielt, werden nach vermuteter, in Prozenten ausgedrückter Wertigkeit ausgegeben.

Jenseitsdarstellungen des Mittelalters in Text und Bild, Begleitmaterial zu einem mediävistischen Hauptseminar an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Wintersemester 1995/96 (E. Hellgardt, W. Walliczek), enthält eine thematologisch faszinierende Bibliographie: Literatur zu guten und bösen Engeln, Jenseitsgeleiten, Fegefeuerschilderungen und Höllenfahrtsszenen, Teufelsmärchen und -sagen, auch zum geköderten Leviathan. Wichtiger noch ist das aufrufbare Bildmaterial (u. a. "Darstellungen des Himmlischen Jerusalems", "Fegefeuer- und Höllendarstellungen", "Illustrationen der Berliner Eneit-Handschrift zur Höllenfahrt des Äneas", "Illustrationen zum 'Antichrist'"): Erklärtes Projektziel war, den Seminarteilnehmern möglichst bequem das entsprechende Bildmaterial zugänglich zu machen.

9.3 Barock

Das Projekt VD 17 soll alle im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts erfassen, zu denen auch die für die Zeit typischen politischen und religiösen Flugschriften sowie zahlreiche Gelegenheitsdrucke zählen. Erwartet werden 250.000 Exemplare. Nicht nur die Katalogdaten werden eingebracht, zusätzlich werden Schlüsselseiten gescannt und als Pixelbilder zur Verfügung gestellt ("Vom Kupferstich zur multimedialen Datenbank"). Da die Titel im 17. Jahrhundert besonders ausführlich und informativ sind, führt die Suche nach Titelstichwörtern zu thematologisch faszinierenden Funden. Nur ein Beispiel: Wer zum Motiv des Gartens im Barock forscht, findet nach Eingabe des Suchwortes "Garten" 20 Titel, so "Garten Gottes", "Gaistlicher Garten" [sic] und "Garten am Ölberg" (Heermann, Johann: Mons Oliveti, Oder: Christliche Betrachtung Der Blutsauren Arbeit/ Welche unser Hochverdienter Erlöser Jesus Christus Im Garten am Oelberg verrichtet In Zwey und Zwantzig Predigten fürgestellt. Nürnberg: Endter, 1656).

9.4 Klassik

Das Projekt Klassikerwortschatz enthält "Ausgewählte Klassikerwörter mit Textbeispielen", die wie z. B. "ängstlich" (hier im Sinne von "eng") oder "Wahlverwandtschaft" (Textbeispiele von Jean Paul und Goethe) auch aus thematologischer Sicht faszinieren können.

9.5 Romantik

Ein Forschungsarchiv zur romantischen Anthropologie wird im Rahmen des DFG-Projekts Romantische Anthropologie27) an der Fernuniversität Hagen aufgebaut. Die "romantische Anthropologie" - ihre Blütezeit liegt etwa zwischen 1810 und 1840 - behandelte "Grundfragen der Physiologie und der Psychologie, der Individual-, Natur- und Kosmosgeschichte, aber auch Spezialprobleme wie Somnambulismus bzw. Magnetismus, Unbewußtes, Traum, Liebe, Wahnsinn, Doppelgängersyndrom, Geschlechterdifferenzen etc.": Schon diese grobe Themenliste verdeutlicht, welches Interesse auch die Thematologie diesem Projekt entgegenbringen sollte.

10. Hypertext und Hypermedium im Dienst der Thematologie

Hypertexte sind in der Lage, die lineare, sequentielle Ordnung, die Texten eignet, zu durchbrechen. Sie arbeiten mit Schichtungen und vor allem Verknüpfungen, die durch Links realisiert werden können: Per Mausklick kann man innerhalb eines Textes von einer markierten Stelle zu einer anderen und auch zu entsprechenden Stellen in anderen Texten springen. Von der berühmten Stelle "glittering eye" in Samuel Taylor Coleridges The Rime of the Ancient Mariner weist beispielsweise ein Link auf eine mindestens lexikalisch, wohl auch thematisch verwandte Stelle - "Her fair large eyes 'gan glitter bright"28) - in desselben Dichters Christabel.

Als multimediale Dokumente überschreiten Web-Dokumente auch die Grenzen der Sprache und beziehen Bilder und Graphiken ein, als Hypermedien bieten sie auf der multimedialen Ebene Verknüpfungsmöglichkeiten, wie sie soeben am Beispiel des Hypertexts beschrieben worden sind. Weiterhin sind Texte im Internet jedoch manchmal bloß nicht gedruckte elektronisch zugängliche Dokumente, die aber die Möglichkeiten des Netzes noch nicht angemessen nutzen; sie stellen also noch keine Hypertexte dar. Ohnedies befinden wir uns erst am Anfang einer weitreichenden Entwicklung: Die Darstellungsmöglichkeiten, die durch Hypertext und Hypermedia eröffnet werden, müssen wohl erst noch in ihrem vollen Umfang erkundet werden. Aus der Mediengeschichte kennen wir die Erfahrung, daß ein neues Medium noch nicht als Medium sui generis erkannt wurde: In der Frühzeit des Buchdrucks versahen Rubrikatoren das gedruckte Buch mit handschriftlichen Auszeichnungen wie vordem den handgeschriebenen Codex des Mittelalters; der frühe Stummfilm gerierte sich noch teilweise als abgefilmtes Theater; die Fernsehnachrichten blieben über lange Zeit noch visualisierte Hörfunknachrichten, ohne die Möglichkeiten des neuen Mediums zu realisieren.

Doch zurück zu ungenutzten Hypertextoptionen. Ein Beispiel: Die Arbeit von Karin Rädle, "Schwanen-Schnee und Haar aus Gold": Petrarkistischer Schönheitspreis bei Pietro Bembo und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, erlaubt zwar den mausklickgesteuerten Wechsel zwischen jeweils besprochenem Text und seiner Interpretation und auch umgekehrt, stellt jedoch keine thematologischen Links bzw. Korridore bereit, die gerade für die Kommentierung und Deutung petrarkistischer Texte so aufschlußreich wären. Mit deren Hilfe könnte man beispielsweise von jedem Textbeispiel für petrarkistische Pretiosenmotivik zu einer - gleichsam als Relais funktionierenden - Datensammlung dieser Motivik gelangen, von dort aus den Weg in gleichgeartete Textstellen weiterer Autoren antreten und natürlich auch den Weg zurückfinden. So fände sich dann der Weg von Vers 6 des fünften Sonetts der Rime Pietro Bembos - "Rubine und Perlen, aus denen Worte hervorkommen" (Übersetzung: Hans-Jürgen Schlütter) - zu Vers 2 von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus "Sonnet. Beschreibung vollkommener schönheit": "Ein mund / der rosen führt und perlen in sich heget".29)

Insbesondere hinsichtlich der Edition thematologisch ergiebiger Hypertexte möchte man die Mahnung Christoph Kochs beherzigen, die Herstellung elektronischer Texte nicht den philologischen Laien zu überlassen: "Der Inhaber der philologischen Kompetenz muß sich des Herstellungsverfahrens selbst bemächtigen, um die Kontrolle über das Produkt in der Hand zu behalten. Ohne die philologische Kompetenz kann nichts Sinnvolles zustande kommen: Computerkenntnisse allein genügen nicht."30) Zu fragen bleibt jedoch, inwieweit solchen elektronischen Editionen und Kommentaren akademische Dignität zugesprochen werden wird, inwieweit sie beispielsweise als Prüfungsarbeiten oder Dissertationen zugelassen werden. Noch stellen geisteswissenschaftliche Dissertationen, die im Internet angeboten werden, eine Ausnahme dar; dem Verf. ist im übrigen kein Beispiel für eine stoff- und motivgeschichtliche elektronische Dissertation bekannt.31)

11. Web-Literatur/Internetliteratur

Die Thematologie sollte das Internet nicht nur als Reservoir stoff- und motivgeschichtlich ergiebiger Textsammlungen sowie einschlägiger Referenzliteratur nutzen, sondern sich auch mit der Web- bzw. Internetliteratur,32) auch E-Literatur genannt, befassen, d. h. mit den literarischen Texten, die, eigens für das Internet geschrieben, dessen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und u. a. folgende Charakteristika aufweisen: Nicht-Linearität, Verknüpfung und Vernetzung von Texten, interaktive Partizipation des Lesers/Zuschauers durch steuernde Selektion, durch die der Prozeßcharakter dieser Literatur unterstrichen wird, Literatur als Hypertext und Hypermedium mit Optionen, die durch Links geboten werden. Bislang hat man Internet-Literatur vornehmlich unter erzähltheoretischem Aspekt, weniger aus thematologischer Sicht interpretiert.

Von besonderem thematologischem Interesse scheinen hier die Raumvorstellungen und -motive, die in der Literatur stets eine große Rolle gespielt haben: "Zahlreiche Werke der Weltliteratur thematisieren Raum- und Zeiterfahrungen und stellen sie in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Funktion von Raummotiven ist von zentraler Bedeutung für den Figurenaufbau und die Entwicklung von Themen. Die Motive reichen von geometrischen Figuren bis zur Topographie einzelner Orte."33) Zu den prominenten Raummotiven zählen Grenze, Haus, Fenster, Labyrinth, Kreis und Spirale.

Welche Raumvorstellungen und -motive dominieren in der Web- bzw. Internetliteratur? Hier (vgl. z. B. Internet-Literaturwettbewerb 1997 der Wochenzeitung Die Zeit) zeigt sich eine Prävalenz gerne auch postmodern-ironisch zitierter räumlicher, gelegentlich durch Animationen gestützter Motive, Bilder und poetologisch akzentuierter Metaphern wie Labyrinth (Thomas Klausner: Mondristisches Labyrinth; Sasan Seyfi: minotaurus: Ein Dramolett im Net) und Netz (Carsten Lehbrink: Das Netz der Netze). Überdies begegnen häufig Themen und Motive wie der künstliche Mensch (Helmuth Sagawe: homunculus digitalis), alternative Welten oder die Reise, mit denen der Unterschied zwischen Virtualität und Realität, die Dominanz von Simulation und Illusion, die Destabilisierung der Wirklichkeit literarisch verarbeitet werden.

12. Thematologie im Internet: Allgemeines und Ergebnisse, Perspektiven und Methoden, Theoretisches

12.1 Suchen/Finden, Finden/Suchen

Viele informationstheoretische Vorstellungen über das Informationsverhalten von Netznutzern, die als nicht hinterfragte Gemeinplätze im informationstheoretischen Schrifttum kursieren, können aus thematologischer Sicht besonders erfolgreich in Frage gestellt werden. Beispielsweise widerspricht das Bild vom Heuhaufen, in dem eine Nadel ausfindig gemacht werden soll, häufig den Erfahrungen eines thematologischen Surfings. Denn oft genug findet man etwas, das man gar nicht gesucht hat, von dem man aber dann gerne glaubt, es eigentlich immer schon gesucht zu haben. In der (thematologischen) Heuristik des Internet führen Assoziation, Beiläufigkeit, Kontingenz, Vagheit, Spiel und Unordnung oft eher zu Erfolgen als Konsequenz, Stringenz, Notwendigkeit, Systemhaftigkeit und Ordnung. Das Internet ist somit ein ideales Medium für (thematologisch) profilarme Suchen: ein Vorteil, den man freilich oft genug durch extrem umfangreiche und promiskuöse Treffermengen erkauft. Man gebe beispielsweise einmal in das Suchfenster einer Suchmaschine das Stichwort "Bahnhof" ein, um sich vom Glanz, aber auch Elend der Suchmaschinen zu überzeugen.

12.2 Internet: ein Boulevard für den Thematologen

Im Internet findet man insbesondere auch in thematologischer Sicht eine erdrückende Vielfalt: neben vielem auf den ersten Blick hin Relevantem auch Peripheres, Abgelegenes, Abseitiges, Unverbindliches, Triviales, Banales, Vielschillerndes, Diffuses, Groteskes, Bizarres, Fußnoten, Eklektizismen, Arabesken und Ornamente, Petitessen, Okkultes, Schrilles, Schräges und Obszönes. Das Internet stellt sich auch dar als virtuelle Illustrierte von enormer Spannbreite, die aber von dem Suchenden selbst zusammengestellt wird. Es ist ein Boulevard für den thematologischen Flaneur, weniger Panorama als Kaleidoskop und Panoptikum, Kuriositätenkabinett, Baustelle und Schaufenster, Korso der Stoffe und Motive, Galerie, Kiosk und Buchhandlung, Verkaufskatalog und Supermarkt, Museum und Passagenwerk, Fotoshop, letztlich auch schon Audio- und Videothek, aber auch Rumpelkammer der Stoffe und Motive und häufig Ruine aufgegebener Projekte. Das stets wuchernde Internet ist prall gefüllt mit Klischees und Stereotypen. Es stellt ein fragiles und sich stets in Bewegung befindliches Quellenwerk dar. In diesem thematologischen Archiv von breitestem Spektrum finden sich die unterschiedlichsten Dokumente. So trifft man hier z. B. auf die Datenbank LionHeart mit etwa 1.000 englischsprachigen Liebesgedichten als Musterdatenbank, die für die literarischen Datenbanken von Chadwyck-Healey wirbt; hier kann man nach einzelnen Wörtern suchen (Beispiel eyes: 494 Treffer; im aufrufbaren Text am gesuchten Stichwort erscheint ein Herz-icon!).

All dies gehorcht nicht der gleichsam neoklassizistischen Ästhetik einer Säule und dem vertrauten Aristotelischen Dreischritt von Anfang, Mitte und Ende. Wer reference works, die noch under construction sind, aufsucht, wer viel Vorläufiges besichtigt und die zahlreichen Asymmetrien wuchernder Sites beobachtet, mag Maß, Proportion und liebgewonnene innere Formgesetze schmerzlich vermissen und sich bewußt werden, wie sehr er bislang gedruckte Nachschlagewerke nach einer quasi neoklassizistischen Poetik beurteilt hat. Kann er, will er dies nun vernachlässigen? Inwieweit ist der an literarischer oder kunsthistorischer Hermeneutik geschulte Thematologe bereit, sich den Medienprodukten des Internet zu stellen?

Ein Boulevard lebt auch von Spannungen. Und so zählt zu den zahlreichen Spannungen, ja Paradoxa des Internet auch der thematologisch faszinierende Befund, daß das Internet häufig vielfältigem Recycling entstammendes, 'gesunkenes' Kulturgut enthält, daß ebendieses Kulturgut aber seinerseits auch sehr viele Rohstoffe und -materialien bereitzuhalten scheint, Rohstoffe für weitere kulturwissenschaftliche Analysen.

12.3 Komplementarität der Mediennutzung

Das Internet sollte komplementär zu den traditionellen Printmedien genutzt werden. Wer beispielsweise nach dem Tiermotiv des Maulwurfs sucht, findet ihn in Paulys Realencyclopädie34) als chthonisches Tier der Antike und im Lexikon des Mittelalters35) als Allegorie der Habgier, Häresie und des Heidentums. In Suchmaschinen wie etwa AltaVista [Hauptseite (deutsch)] hingegen finden sich Hinweise auf den Maulwurf als trickster in Zeichentrickfilmen für Kinder.36) Es handelt sich hierbei zugleich um gegenseitige Ergänzungen des Alten und des Neuen, der tradierten Kultur und der Populärkultur wie auch um eine Komplementarität der two cultures Printkultur und elektronische Kultur. Hierbei sind Geisteswissenschaftler, Philologen und Thematologen aufgefordert, an beiden Kulturen teilzuhaben und insbesondere die elektronische Kultur nicht kampflos fachfremden Rezipienten zu überlassen.

12.4 Punktuelle, partikularisierte Information

Das Internet enthält partikularisierte und gar atomisierte Informationen aus den unterschiedlichsten Szenen, Kulissen und Nischen, die oftmals schlecht redigiert und kaum ediert sind, sowie vagabundierende und eher 'schmutzige' Dokumente (quick and dirty), die meist keinem peer-reviewing unterworfen sind und durch den Suchenden erst zu einem buntgewirkten patchwork zusammengestellt und arrangiert werden können.

Im Internet befindet sich sehr viel Lokales, das heute weltweit abrufbar ist. Für einzelne Lehrveranstaltungen zusammengestellte Kursmaterialien oder textbooks, die früher als lokale Informationsmittel kursierten, machen heute im Internet 'Karriere', gewinnen dadurch u. U. eine weltweite Aufmerksamkeit, die ihrem oft mittelmäßigen Niveau nicht zukommt.

12.5 Kleine Formen

Eng verknüpft mit dem Phänomen der punktuellen, partikularisierten Information ist die Dominanz der 'kleinen Formen'. Obschon in den Volltextdatenbanken des Internet, etwa im Projekt Gutenberg-DE, neben zahlreichen Novellen und Erzählungen durchaus längere Texte, auch ganze Romane und Epen begegnen, überwiegen, erst recht in den Datenbanken, die der Mythologie und der Folklore gewidmet sind, kürzere Formen wie Märchen und Fabel und kleine Formen wie Lied, Hymne, Spruch und Sprichwort. Noch deutlicher wird die Dominanz des nicht sehr definiten Gattungsensembles der kleinen Formen jenseits der eigens installierten Reservoirs kanonisierter Texte. Während des thematologischen Surfens, das nicht die großen elektronischen Volltextsammlungen ansteuert, sondern, sich auf die Promiskuität der Suchmaschinen einlassend, auf den glücklichen Fund hofft, stößt man auf genres mineurs wie Fragment, Anekdote, Spruch, Aphorismus, Apercu, (surrealen) Witz, Schnurre, Blödelei, skurrile Geschichte, elektronische Graffiti, anthropologische Miniatur, Vignette, Glosse, Zeitungsartikel, Literaturkritik, Aufruf, Paratexte wie Vorworte, Trailertexte wie Anzeigentexte oder kleinere Begleittexte zu Ausstellungen, Lebensläufe, Vorlesungsankündigungen und kleine versteckte Bibliographien. Wer beispielsweise über das Thema Melancholie arbeitet, findet ein so tituliertes Lied von Robert Schumann (Text: Emanuel Geibel).37) Wer nach der mythologischen Figur des Minotaurus sucht, findet auch einen kurzen Text zu einer Ausstellung des Künstlers Hans Mendau.38) Wer wissen will, wie phraseologisch aktiv das Motiv der Büchse der Pandora ist, stößt auf einen Zeitungstext aus der TAZ,39) der in "der gentechnischen Manipulation und der Patentierung von Lebensformen" eine 'Büchse der Pandora' sieht. Wer Texte zum Motiv der Einsamkeit sucht, findet hier reichlich englische Songtexte, die diese zum Thema haben.

Der - oft faszinierende! - thematologische Ertrag, den man nach der Navigation durchs Internet einfährt, die Kollektaneen, Kompilationen, Anthologien und 'Alben', die man mitbringt, beziehen sich demnach vornehmlich auf kleine Formen. Aber konzentrieren sich nicht auch die gedruckten, edierten und redigierten, häufig didaktisch motivierten thematologischen Sammlungen - schon aus Platznot - auf die kleineren Formen? Man denke etwa an die Interpretationssammlungen motivgleicher Gedichte40) oder an die zahlreichen thematischen Anthologien, die neben Exzerpten aus längeren Werken gerne Kurzgeschichten und Gedichte versammeln. Das Internet erscheint als ideales Medium zur Erstellung anregender motiv- und themengleicher Anthologien, die auch als didaktische appetizers dienen können, sei es, daß sie im World Wide Web zur Verfügung gestellt werden, sei es, daß sie zu privaten wissenschaftlichen Zwecken, zum individuellen maßgeschneiderten Bedarf durch Herunterladen und Ausdruck entsprechender Texte und Textpassagen zusammengestellt werden können.

Das Internet ist auch in thematologischer Sicht oft weniger der Ort für die systematischen Enzyklopädien und Handbücher, sondern vielmehr für die Referenzliteratur, in der man punktuell sucht, für Glossarien, für die Nachschlagewerke, die man im Englischen dictionary style nennt, für FAQs und check lists, für alphabetisch eher denn hierarchisch Geordnetes. Rein enumerative Bibliographien findet man hier häufiger als annotierte oder räsonnierende Bibliographien. Das Internet lädt zur Addition kleiner 'handgestrickter' Texte und Listen ein; hier ist viel Akkumulation, wenig Synthese und Synergie, viel Dokumentation und Beschreibung, wenig Analyse und Interpretation.

Man wird hier die vielfältigen Möglichkeiten des Zappings nutzen und Streiflichter suchen, aber keine umfassenden thematologischen Monographien lesen. Geradezu grotesk die Vorstellung, man wollte am Bildschirm im traditionellen Sinne lesen oder studieren, etwa thematologische Monographien wie Dietmar Peils Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. (Münstersche Mittelalter-Schriften 50). München: Fink, 1983 oder Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter. (Münstersche Mittelalter-Schriften 35, I/II). 2 Bde. München: Fink, 1985.

12.6 Thematologen als Sekundärnutzer

Am Beispiel der Faerie Encyclopedia oder der Encyclopedia Mystica wurde exemplarisch deutlich: Die besprochenen Datenbanken sind in der Regel nicht eigens für den Thematologen konzipiert. Thematologen sind Sekundärnutzer, nicht Primärnutzer der entsprechenden Web-Sites. Doch so neu ist dies nicht: Auch bei der Konsultation gedruckter Referenzliteratur definieren sich die Thematologen zumeist als Sekundärnutzer, nicht selten als generalistisch orientierte Seiten- und Quereinsteiger, auf der steten Suche nach dem stoff- und motivgeschichtlichen Fund. Das Deutsche Wörterbuch41) beispielsweise war nicht für den Thematologen konzipiert, und doch wird der Stoff- und Motivforscher hier gerne Artikel wie "Feuer", "Rabe" (einschließlich von Komposita wie "Rabenherz" und "Rabenbotschaft") oder "Weltei" konsultieren. Und in dem für die Sprichwort- und Phraseologieforschung konzipierten Lexikon von Lutz Röhrich42) findet der Thematologe für ihn ergiebige Beiträge wie "Adam", "Füllhorn", "Herkules", "Judas", "Noah", "Rabe", "Schiffbruch", "Schwalbe" und "Venusberg". In dem religionsgeschichtlich bedeutsamen Dictionnaire de spiritualité43) schließlich findet der thematologische Nutzer unter dem Lemma "Lune" Aufschlüsse zur marianischen Mondsymbolik im Mittelalter. Und der für Thematologen charakteristische Universalismus hat doch auch schon vor Einführung des Internet zu vielfältigen stoff-, motiv- und symbolgeschichtlichen Recherchen in vielfältigen Quellen geführt: in mythologischen Lexika, Emblembüchern, alchimistischen Traktaten, Geschichten des illustrierten Buches ebenso wie in Ausstellungskatalogen, Antiquariatskatalogen und den jüngsten Werbeprospekten der Buchverlage.

12.7 Memoria

Adressen im WWW sind oftmals flüchtiger Natur; die Universal Resource Locators (URLs), mit denen die über das Hypertext-Transfer-Protokoll (http) zugänglichen Dokumente adressierbar sind, ändern sich, und Links, die auf das entsprechende Dokument verweisen, zeigen dann ins Leere: nur ein Beispiel für die vielfältige Erfahrung, daß die Verweildauer kulturellen Wissens in der öffentlichen Aufmerksamkeit immer kürzer wird. Als in den Dienst der memoria gestellte Depots, als ein kulturelles Gedächtnis der Menschheit sind die Vorratskammern an Stoffen und Motiven, die großen mythologischen Reservoirs aber grundsätzlich auf Weiterleben, Dauer und Verfügbarkeit ausgerichtet. Wie ist der memoria-Auftrag mit dem Transitorischen, Nomadischen, auch Vergänglichen der wechselnden, auf dem Bildschirm luminiszierenden Seiten vereinbar? Wie verträgt sich die milde bis ausgeprägte mnemopathische Einstellung der meisten Thematologen mit dem Flüchtigen und Fragilen des Internet? Eine weitere Frage: Suggeriert das Etikett new, mit dem oft der Neuzugang kanonischer 'alter' Texte signalisiert wird, nicht eine fragwürdige, letztlich irreführende Aktualisierung?

12.8 Komparatistik und Interdisziplinarität

Wer durch weltweite Suchen im Internet Auftrieb für eine multikulturell akzentuierte, komparatistische Thematologie erwartet, wird oftmals enttäuscht: Zu erdrückend ist die Dominanz angloamerikanischer Web-Sites, und zum komparatistischen Programm gehört oft bestenfalls nur die allfällige Übersetzung eines (klassischen) Textes ins Englische. Der internationale Bedeutungsverlust der deutschen Sprache und Literatur sowie der Germanistik wird somit auch im Internet augenfällig. Sehr gut zu nutzen sind Internet-Dokumente jedoch für eine komparatistische, auch medienwissenschaftlich akzentuierte Thematologie, die sich dem Programm einer "wechselseitigen Erhellung der Künste"44) verschrieben hat. Feste Grenzen zwischen den einzelnen Medien und Künsten sind hier ohnehin kaum noch vorhanden. Dank der grenzüberschreitenden Multimedialität des Internet finden sich thematologische Zeugnisse aus Literatur, den bildenden Künsten, Musik, aber auch aus den oft vernachlässigten Künsten Film und Fotografie durch Links vielfältig verknüpft, in engen elektronischen Nachbarschaften, oft gar auf der gleichen Bildschirmseite. Gute Links zu fotografischen Ressourcen finden sich auf den Web-Seiten Erlanger Liste - Spezielle Themen [Photographie und Computerkunst] und Erlanger Liste - Geschichte der Photographie (s. a. die gleichsam übergeordnete Seite Photographie und Computerkunst - Erlanger Liste). Von besonderer Faszination für die Thematologie ist Portrait de Mots : Liste des 100 Mots, ein 'Fotoarchiv', in dem grundlegenden Begriffen wie Gedächtnis, Gewalt, Gleichgewicht, Neid, Nostalgie, Reise, Rhythmus, Solidarität, Stolz oder Zerbrechlichkeit Fotos zugeordnet werden. Diese Begegnung zwischen Sprache und Fotografie steht in der Tradition der Allegorie, wenn auch nicht der traditionellen Ikonographie.

Auch aus thematologischer Sicht lohnt sich die Konsultation von Filmdatenbanken. Besonders zu empfehlen ist die Internet Movie Database, in der aber in der Regel nur nach dem jeweiligen Originaltitel gesucht werden kann. Eine Titelsuche beispielsweise mit der Eingabe "Frankenstein" ergab genau 60 Titel und 10 Alternativtitel. Movieline ist eine deutsche Filmdatenbank: Wer beispielsweise im Feld "Filmtitel" das Suchwort "Napoleon" eingibt, erhält 16 Filmtitel; nicht alle angezeigten Filmtitel haben jedoch den französischen Kaiser zum Thema.

Themen und Motive "erfassen [...] prinzipiell menschliche Verhaltensweisen. Sie vermitteln Grunderfahrungen des Daseins, erschließen die Zusammenhänge zwischen Empfindungen, Bewußtsein und Bedürfnissen; sie vergegenwärtigen sowohl Hoffnungen wie auch Angstvorstellungen und beleuchten wiederkehrende menschliche Phantasiegebilde. [...] Sie geben Auskunft über kollektive Denkformen und Zusammenhänge [...]."45) Auch für eine solchermaßen interdisziplinär begründbare Thematologie, für eine thematologisch akzentuierte Anthropologie wie für eine anthropologisch konturierte Thematologie bietet das Internet aufgrund seiner grenzüberschreitenden Ausrichtung eine gute Grundlage.

12.9 Text, Autor, Authentizität

Durch die Möglichkeit, Texte bearbeiten, verändern, verformen und mit anderen Texten verknüpfen zu können, ist die Autonomie des Textes gefährdet. Links machen Texte unmißverständlich zu Intertexten. Im Web werden Texte inmitten ihrer assoziativen Umgebung nur schwer arretierbar und sind für ein Archiv der Texte nicht leicht zu sichern. Es ist wohl kein Zufall, daß Texte ohne Angabe der genauen Quelle für das Internet typisch sind. Parallel zur gefährdeten Textautonomie wird die Autor-Zentrierung aufgegeben: kollaborative, kollektive und vage Verfasserschaften bestimmen das Internet. So werden in der oben besprochenen Sammlung Aesop's Fables als Autoren der Übersetzung der Fabeln La Fontaines "several good internet souls"46) angegeben. Ungeachtet eines durch das Internet geförderten Individualismus und Subjektivismus, der über weite Strecken an mündliche Kommunikation erinnert, ist die Authentizität von Text und Autor gefährdet. Sobald man es mit der Authentizität nicht mehr genau nimmt, werden auch Einflußnahmen und andere Filiationen unpräzise. Unter den Büchern, die Dante gelesen hat, taucht dann beispielsweise in DigitalDante die Aeneis von Vergil auf, jedoch in der Übersetzung des deutlich später geborenen John Dryden (1631-1700). Das thematologische Interesse an präziser zeitlicher Einordnung und Lokalisierung von Stoffen und Motiven wird auf diese Weise nicht befriedigt. Zudem werden Internet-Seiten auch gerne so präsentiert, daß deren Autorschaft nicht oder kaum ersichtlich ist, daß Verantwortlichkeiten nur schwer festzustellen sind.

Eine gewisse Nonchalance gegenüber der Autonomie und den Grenzen des Textes, eine Abkehr oder ein Abschied vom Primat des Autors: Sind dies auch Gründe für die besondere Vorliebe des Internet für 'kollektive', nicht individuelle Formen des Erzählens wie Mythos, Märchen, Sage, Legende und Spruch, die - auch dies ein wichtiger, juristischer Aspekt - weitgehend keinem Copyright mehr unterliegen?

12.10 Diskurs

Die stoff- und motivgeschichtlich relevanten Web-Sites und Linksammlungen des Internet dürfen nicht nur als Werkzeuge der thematologischen Forschung betrachtet werden. Sie müssen überdies theoretisch reflektiert werden (Stichwörter im folgenden: Diskurs, Semiotik, Rezeptionsgeschichte). Ein dominanter Diskurs des Internet ist der des Info- und Edutainments von gelegentlich offensiv US-amerikanischem Habitus: Vieles thematologisch Interessante, das im Internet verbreitet wird, will unterhalten und belehren oder erziehen. Belehrung und Förderung moralischer Werte eher denn ein erzähltheoretisches oder stoffgeschichtliches Interesse stehen beispielsweise im Vordergrund der oben besprochenen Aesop's Fables. Der Diskurs des Internet hat häufig informellen Charakter, entspricht dem für E-Mails charakteristischen Changieren zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation, so beispielsweise wenn Epimetheus als "stupid Titan"47) bezeichnet wird.

Die mythologischen Artikel im Internet sind häufig mit viel Leidenschaft geschrieben, gelegentlich in den Dienst einer neopaganen Weltanschauung gestellt, im Sinne eines angestrebten Edutainments anschaulich narrativ, auch um Suspense bemüht. In elektronischen Datenbanken, die sich einer esoterisch-mystischen Ideologie verschrieben haben - wie in der oben bereits besprochenen Mystica -, sollen die Akzeptanz für das Okkulte gefördert und esoterische Lebenshilfe vermittelt werden.

12.11 Semiotik

Interessante Ergebnisse versprechen semiotische, kommunikations- und wahrnehmungstheoretische Analysen einzelner thematologischer Web-Sites und Datenbanken, ihrer kognitiven und kommunikativen Prämissen, ihrer Wissensrepräsentation, ihrer Ästhetik und ihres Designs. Das Zeichenrepertoire der Eingangsseite der oben bereits vorgestellten Faerie Encyclopedia z. B. ist genau besehen von durchaus bizarrem Charakter: Amoretten, die den Titel schmücken, und ein Hinweis auf die familienfreundliche Disney-Ideologie, der sich die Enzyklopädie verpflichtet weiß, finden sich hier ebenso wie eine Anzeige, die dem Nutzer mitteilt, als wievielter faeriephile er diese Seite besucht (Verf. am 20.5.98: Nr. 71.535 seit dem 13.12.95): eine Art Einschaltquote. (Hat man sich im übrigen jemals als visitor eines Buches in einer Bibliothek begriffen?) Und der bewegte Lichtschein der Gaslaterne der Poe's Virtual Library beweist endgültig, daß Thematologie im Internet nicht mehr nur wie unsere tradierte Kultur vornehmlich mit Texten und Monumenten zu tun hat, sondern sich längst der heute dominanten Kultur der Inszenierungen, des Performativen und des Theatralen verschrieben hat. Die Bilderflut beliebiger Impressionen und Abbilder, wie sie für eine Zeit des inflationär Visuellen charakteristisch ist, überflutet auch das Internet. Neben diesen tyrannischen 'wilden' Bildern gibt es hier, begreiflicherweise in besonderem Maße in den thematologisch relevanten Datenbanken, ein Reservoir an kodifizierten Bildern, an bildlichen, vor allem aus der Bibel und den Mythen gespeisten tradierten Mustern und Pathosformeln, ein von festen ikonographischen Konventionen geprägtes bildliches Zeichenrepertoire, das, teilweise vergessen geglaubt, nun machtvoll zurückzukehren scheint. Dabei spielen Illustrationen aus Büchern des 19. Jahrhunderts eine große Rolle.

Bei alledem ist das Spektrum der Bilder breit; es reicht vom mit popiger Clip-Art hergestellten, aber doch konventionellen Drachen oder Einhorn (im bereits besprochenen The Guide to Unbiological Species) über die nüchterne ionische Säule in J. M. Hunts ebenfalls bereits erwähnter Greek Mythology bis zum Icon des Webens und der Textur, das die titelgebende Metapher in The Voice of the Shuttle nachbildet.

12.12 Rezeption

Unter Berücksichtigung der angeführten diskursanalytischen und semiotischen Gesichtspunkte können die im Web präsenten Themen, Stoffe und Motive als faszinierender Gegenstand einer thematologischen adressatenbezogenen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte untersucht werden (nur zwei Stichwörter: Häufigkeit esoterischer und mystischer Stoffe; Vorliebe für Bestiarien und Fabeltiere).

12.13 Neuer Platonismus

Internet und Cyberspace - so eine inzwischen weit verbreitete Deutung - seien durch eine Abkehr von der 'harten' Materialität des Gedruckten, durch einen Triumph des Immateriellen und Entkörperlichten, durch Virtualität und einen "Sturz der Materie",48) gar durch einen neuen Platonismus49) charakterisiert: eine Ansicht, die sicherlich als Teil einer umfassenden Diskussion über die Medialität und Materialität der Kommunikation und Information50) einer differenzierten Analyse bedarf.

Ein Zusammenhang zwischen dieser Deutung des Internet und einer Frage hinsichtlich der thematologisch relevanten Web-Seiten drängt sich jedoch auf: Täuscht der Eindruck, daß Mythen, Fabeln, Märchen, Sagen und Legenden - nicht nur wegen der zum Teil evidenten Kürze - im Internet insgesamt besser vertreten sind als Zeitroman, politischer Roman, Reportage, sozialkritisches Drama und Satire? Entspricht der 'Ontologie' und 'Poetik' des Internet über weite Strecken ein Faible für das Metaphorische, Symbolische, Mythische, Mystische, Allegorische, das bildhafte Reden, das Verborgene, Rätselhafte, Mysteriöse, Esoterische eher denn eine Vorliebe für das Abbildende, 'Reale', Dokumentarische, für Spiegelungen, Mimesis und dargestellte Wirklichkeiten? Wird damit mittels der Thematologie der vormals geäußerte, fast topisch gewordene Verdacht falsifiziert, formale Strenge und Konsequenz, Stringenz und Härte des Digitalen seien mit der Aufnahme 'weichen' Wissens nicht vereinbar?

12.14 Metaphern und Mythen des Internet

Das Internet ist nicht nur Handwerk der Thematologie, sondern längst auch schon Gegenstand der Thematologie geworden. Über Metaphern und Bilder wie internationale Datenautobahn oder elektronische frontier hinaus hat man auch schon überlegt, welche (griechischen) Göttinnen, Götter oder Heroen wohl das Patronat des Internet übernehmen könnten. Sicherlich bietet sich Ariadne an: nicht umsonst Namensgeberin einer Zeitschrift, die sich im wesentlichen den Ressourcen des Internet und dem "Electronic Libraries Programme" widmet.

Als Patronin des World Wide Web und des Internet - unter Einschluß auch der ihm eigenen Momente des Spontanen, Impulsiven, Wildwüchsigen wie auch des Kommerziellen - wird aber auch Arachne vorgeschlagen, "the ancient web-crawler, [...] the maiden renowned for her skill at spinning and weaving". Penelope hingegen, die Gattin des Odysseus, die Umsicht, Besonnenheit, Überlegtheit, Beständigkeit, Ausdauer, Treue, Zuverlässigkeit und Findigkeit personifiziere, empfehle sich als Schutzherrin eines "global state with the gossipaceous character of a small village": "[...] Penelope weaves her shroud, for the growing millions of discarnate users of the Net and Web, a shroud that enfolds the world, the World-Wide Shroud. And it is never finished, just like the essay thrown out on the Net which the author and readers can tinker with, and elaborate, and comment on, and undo and redo endlessly."51)

Könnte man zum Schutzheros des Web und seiner ständig überholten, nie vollendeten Seiten nicht auch Sisyphos wählen?

12.15 Methoden

Wie beeinflußt das Internet, seine Arbeits- und Dokumentationsweisen die Thematologie, deren Methoden, zukünftige Forschungsausrichtungen und -präferenzen, Inhalte und Stile? Wird die Fülle des recherchierbaren Materials einen neuen - aus der Geschichte der Stoff- und Motivforschung nun wahrlich nicht unbekannten - Positivismus und Enzyklopädismus fördern, dessen Vertreter alles im Net Erreichbare sammeln und gar ausdrucken wollen, da jedes Textsegment oder jedes Bild irgendwann einmal das entscheidende missing link sein könnte? Als Folge promiskuöser Suchen findet man im Internet selbstverständlich weit mehr nichtliterarische als literarische Texte, mehr unorganisiert Stoffliches als geformte und gestaltete Stoffe. Verstärkt dies aktuelle Tendenzen wie die Ausweitung des Literaturbegriffs, den Bedeutungsverlust einer sog. 'Kerngermanistik', die Definition der Germanistik als Kultur- eher denn als dem Philologischen und Ästhetischen zugeneigte Sprach- und Literaturwissenschaft, den Wunsch nach weiteren Grenzüberschreitungen der Thematologie, den Anspruch neuer Forschungsrichtungen wie des new historicism? Wie werden die spatio-temporalen Bedingungen und Vorstellungen des Internet die thematologische Forschung beeinflussen? Erwähnt seien hier nur die Schrumpfung zeitlicher Intervalle innerhalb des thematologischen global village, die Geschwindigkeit, mit der Dokumente auf dem Bildschirm erscheinen, sowie die potentielle totale Verfügbarkeit aller thematologisch relevanten Artefakte jederzeit und allerorts in einem Zustand gleichsam permanenter Gegenwart und Gleichzeitigkeit.

13. Vorteile des Internet : auch ein positives Fazit

So zwiespältig der Gesamteindruck auch sein mag, den das Internet bei thematologisch interessierten Nutzern hinterläßt, Stoff- und Motivforscher sollten dennoch dessen Möglichkeiten ausschöpfen. Das Internet empfiehlt sich vor allem durch:

1) Diese Facetten bleiben gleichwohl zumeist in der epistemischen Kulisse des Faches. Vgl. Brian Campbell Vickery. Faceted classification: a guide to construction and use of special schemes. London: Aslib, 1960.

2) Vgl. den Beitrag von Ulrike Steierwald in diesem Band sowie den Abschnitt "Personenbezogene Seiten". Goerdten, Ulrich. Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin: Fachinformationen Germanistik 28.5.98 http://isis.ub.fu-berlin.de/~goerdten/germref.html#pers (10.6.98). - Hier wie im folgenden gibt das der URL vorgestellte - fakultative - Datum den Zeitpunkt des letzten updating, das der URL in Klammern nachgestellte Datum den Zeitpunkt des letzten Zugriffs durch den Verf. an.

3) HW [i. e. Helmut Weidhase]. "Stoff." Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hrsg. Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 445. Abkürzungen vom Verf. aufgelöst.

4) Frenzel, Elisabeth. Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. (Kröners Taschenausgabe 301). 4., überarb. und erg. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1992. S. VI.

5) Vgl. Frenzel, Elisabeth. Stoffe der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. (Kröners Taschenausgabe 300). 8., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1992.

6) Vgl. Frenzel, Elisabeth. Motive (wie Anm. 4).

7) Vgl. Curtius, Ernst Robert. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern: Francke, 1948 u. ö.

8) HW [i. e. Helmut Weidhase]. "Stoffgeschichte." Metzler-Literatur-Lexikon (wie Anm. 3). S. 445. Abkürzungen vom Verf. aufgelöst.

9) Beller, Manfred. "Von der Stoffgeschichte zur Thematologie: Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre." arcadia 5 (1970): S. 1-38, hier S. 38.

10) Beller, Manfred. "Thematologie." Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis. (Athenaion-Literaturwissenschaft 16). Hrsg. Manfred Schmeling. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1981. S. 73-97, hier S. 83.

11) Daemmrich, Horst S.; Daemmrich, Ingrid G. Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch. (UTB für Wissenschaft, Uni-Taschenbücher 8034, Große Reihe). 2., überarb. und erw. Aufl. Tübingen, Basel: Francke, 1995.

12) Eine Auswahl von WWW-Zugängen zu Bibliothekskatalogen und Hinweise zu Zugangsbeschränkungen bietet Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin: Bibliotheken im Internet http://www.ub.fu-berlin.de/wwwbib.html (2.6.98).

13) Vgl. hierzu den kurzen Überblick über Suchmaschinen in der Einführung Learn the Net http://www.learnthenet.com/english/html/32tools.htm#altavista (2.6.98).

14) About the Mystica http://www.scronline.com/public/users/ahefner/mystica.info/about.htm (19.5.98).

15) Vgl. hierzu die grundlegenden Werke: Thompson, Stith. Motif-Index of Folk-Literature: A Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, Jest-Books and Local Legends. Revised and enl. edition. 6 Bde. Copenhagen: Rosenkilde and Bagger, 1955 - 1958; Aarne, Antti; Thompson, Stith. The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. (FFC 184). 2nd revision. Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia, 1961; Enzyklopädie des Märchens. Berlin, New York: de Gruyter, 1977 -.

16) Vgl. Feldmann, Doris: "Multimedia Shakespeares." Anglistik im Internet. Proceedings of the 1996 Erfurt Conference on Computing in the Humanities. (Anglistische Forschungen 240). Ed. Doris Feldmann, Fritz-Wilhelm Neumann, and Thomas Rommel. Heidelberg: Winter, 1997. S. 129-43.

17) abfragbar u. a. über http://gutenberg.aol.de/gutenb.htm (29.5.98).

18) http://www.crs4.it/~riccardo/Letteratura/DivinaCommedia/DivinaCommedia.html (29.5.98).

19) Akademie der Wissenschaften Göttingen: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm - Arbeitsstelle Göttingen http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/adw_dw/inhalt.htm (30.3.98).

20) Frenzel, Elisabeth. Stoff- und Motivgeschichte. (Grundlagen der Germanistik 3). 2., verb. Aufl. Berlin: Schmidt, 1974. S. 95 u. 97.

21) Projekt Historischer Roman: Kurzbeschreibung http://germanistik.uibk.ac.at/hr/docs/about.htm (14.5.98).

22) Vgl. Karl-May-Gesellschaft e. V. http://karlmay.uni-bielefeld.de/ (4.6.98).

23) Vgl. Daemmrich (wie Anm. 11). S. 229-30.

24) Vgl. Barthes, Roland. Mythologies. Paris: Editions du Seuil, 1957. Deutsche Übersetzung: Mythen des Alltags. (edition suhrkamp 92). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964.

25) http://altavista.telia.com/cgi-bin/telia?country=de&lang=de (8.6.98).

26) Frenzel, Elisabeth. Stoff- und Motivgeschichte (wie Anm. 61). S. 45-47.

27) Romantische Anthropologie: Beschreibung des DFG-Projektes http://www.fernuni-hagen.de/EUROL/Projekt/beschrei.htm (3.6.98).

28) http://www.lib.virginia.edu/etext/stc/Coleridge/poems/Christabel.html#220 (19.6.98).

29) http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/barock/bartext.html#Hoffmann (19.6.98).

30) Koch, Christoph. "Nachbemerkung: Vom Nutzen des elektronischen Rechenwerks." In: Umbach, Silke. Sebastian Brants Tischzucht (Thesmophagia 1490): Edition und Wortindex. (Gratia: Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung 27). Wiesbaden: Harrassowitz, 1995. S. 179-85, hier S. 184.

31) Ein Beispiel für eine auch elektronisch verfügbare Dissertation: Henze, Stefan. Der sabotierte Alltag: die phänomenologische Komik Karl Valentins. Diss. Konstanz, 1995. Internet-Version: http://www.uni-konstanz.de/ZE/Bib/diss/h/henze1.html (31.3.98).

32) Vgl. Zimmer, Dieter E. Text in Tüttelchen. Web-Literatur: Realität? Gerücht? Verheißung? Sackgasse? Die digitale Bibliothek (V) - Eine Artikelserie für Nutzer und Verächter der Computernetze http://www4.zeit.de/bda/int/zeit/littwett/digbib/digbib5.html (11.5.98); Freiburg, Rudolf. "Postmodernism on the Internet." Anglistik im Internet (wie Anm. 16). S. 183-200.

33) Daemmrich (wie Anm. 11). S. 287.

34) Steier[, August]: "Maulwurf." Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen herausgegeben von Wilhelm Kroll. Reihe 1, Halbband 28 = Bd. 14,2: Mantikles bis Mazaion. München: Druckenmüller, 1930. Unveränderter Nachdruck 1985. Sp. 2338-2342.

35) Hünemörder, Ch.: "Maulwurf." Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. München und Zürich: Artemis & Winkler, 1993. Sp. 409-410.

36) Filme wie Der Maulwurf als Maler (1972) http://www.bayreuth.baynet.de/www/docs/mall/alle/em06298357.html (20.5.98); Der Maulwurf und der Bulldozer (1975) http://www.bayreuth.baynet.de/www/docs/mall/alle/em06298364.html (20.5.98) oder Der Maulwurf und Weihnachten (1975) http://www.bayreuth.baynet.de/www/docs/mall/alle/em06298340.html (20.5.98).

37) http://ingeb.org/Lieder/wannwann.htm (15.5.98).

38) Mendau, Hans. "Die salzige Serie". Tagebuch Bilder vom 23.1.96 bis 29.2.96 http:/www.rz.hu-berlin.de/inside/rz/galerie/archiv/khg124.html (19.5.98).

39) "Proteste in den USA" (TAZ, 26.10.1996) http://www.netlink.de/gen/TAZ/sp_T961026.130.html (10.6.98).

40) Vgl. z. B. Neis, Edgar. Der Mond in der deutschen Lyrik. (Interpretationen motivgleicher Gedichte in Themengruppen 1). Hollfeld: Bange, 1970; ders. Der Krieg im deutschen Gedicht. (Interpretationen motivgleicher Gedichte in Themengruppen 3). Hollfeld: Bange, 1971.

41) Grimm, Jacob / Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel, 1854 -.

42) Röhrich, Lutz. Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1991 - 1992.

43) Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique: doctrine et histoire. Publié sous la direction de Marcel Viller. Paris: Beauchesne, 1937 -.

44) Vgl. Schmitt-von Mühlenfels, Franz. "Literatur und andere Künste." Vergleichende Literaturwissenschaft (wie Anm. 10). S. 157-74.

45) Daemmrich (wie Anm. 11). S. XII.

46) http://www.pacificnet.net/~johnr/aesop/ (19.5.98).

47) "Epimetheus". J. M. Hunt. Greek Mythology: The Titans http://www.math.utk.edu/~vasili/GR_link/Greek_myth/titan.html#Titans (19.5.98).

48) "Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft." FAZ, 26. 8. 1995. S. 30.

49) Vgl. Bredekamp, Horst. "Cyberspace, ein Geisterreich. Freiheit fürs Internet: Eine Achterbahn durch die Reste der zerfallenen Utopien." FAZ, 3.2.1996. Beilage "Bilder und Zeiten".

50) paradigmatisch: Giesecke, Michael. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991.

51) McLuhan, Eric. Arachne, Mistress of the Web and Penelope, Queen of the Net. http://www.gutenberg.com/~fifth/poet.html (31.3.98).


Stand: 25.1.99
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