Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Die Welt als Bühne


99-1/4-275
Die Welt als Bühne : Geschichte des europäischen Theaters / Manfred Brauneck. - Stuttgart [u.a.] : Metzler. - 29 cm. - ISBN 3-476-00916-5 (Gesamtwerk)
[1965]
Bd. 1. [Antike, Mittelalter, Humanismus und Renaissance]. - 1993. - XX, 716 S. : Ill. - ISBN 3-476-00917-3 : DM 198.00
Bd. 2. [Zwischen Renaissance und Aufklärung, 18. Jahrhundert, Von der Romantik bis zum Beginn des Realismus]. - 1996. - XVIII, 1009 S. : Ill. - ISBN 3-476-00918-1 : DM 258.00
Bd. 3. [19. Jahrhundert und Jahrhundertwende]. - 1999. - XVIII, 965 S. : Ill. - ISBN 3-476-01387-1 : DM 228.00

Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht gerade eine Zeit für Universalgeschichten. Auch die junge akademische Disziplin der Theaterwissenschaft versuchte in den letzten drei Jahrzehnten, sich eher durch eine Konzentration auf theatertheoretische und theaterhistorische Fragestellungen zu legitimieren und dem wissenschaftlichen Kriterium der Spezialisierung Genüge zu tun. Im Zuge der neueren Tendenzen einer interdisziplinären Kulturwissenschaft erscheint das Phänomen "Theater" jetzt aber unter historisch-anthropologischen Gesichtspunkten, als universaler Bestandteil europäischer Kultur, interessant. Der Titel Die Welt als Bühne für eine umfassende Theatergeschichte ist nicht nur als Zitat oder Metapher zu verstehen. Manfred Braunecks Anspruch, eine Geschichte der Welt (als Bühne) zu schreiben wurde in einer monumentalen wie differenzierten Art und Weise eingelöst. Die Bühne ist für ihn ein Ort des Gedächtnisses, eine Projektionsfläche aktueller kultureller Formationen, aber auch ein Experimentierfeld utopischer Gegenentwürfe. Die anthropologische und sozialgeschichtliche Verankerung des Theaters läßt eine Beschränkung auf die Geschichte der Bühnenereignisse nicht zu, sondern verlangt eine Darstellung des Wandels und der mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen einer Gesellschaft in all ihren kulturellen Ausdrucksformen. "Dabei zeichnet sich das Theater über anderen Kunstformen durch den besonderen Modus der Konkretisierung seiner Figuren und Geschichten aus, durch deren unmittelbare spielerische Verkörperung, die das Wesen der Schauspielkunst ausmacht. [...] Dieser anthropologische Aspekt stellte eine Konstante von bemerkenswerter Stabilität dar und gewährleistet eine universelle Vergleichbarkeit des Theater bei allen Unterschieden seiner Erscheinungsformen im Wandel der Geschichte und in der Vielfalt der Kulturen" (Vorwort). Das in Braunecks Vorwort unübersehbare Wissenschaftsethos neigt zu Mißverständnissen, da das Theater als Teil einer Conditio humana interpretiert und so als moralische Anstalt aller Zeiten und Gesellschaften erscheinen könnte. Der anschließende Text widerlegt aber diese Befürchtung, denn hier wird gerade - ganz im Sinne der historischen Anthropologie - die Veränderung sozialer Systeme und ihre Umsetzung in kulturelle Deutungsmuster und Normen zum Thema gemacht.

Von der inzwischen auf vier Textbände und einen Registerband konzipierten Theatergeschichte sind von 1993 bis 1999 die ersten erschienen; Bd. 4 für das 20. Jahrhundert ist für Mitte 2000 angekündigt, Bd. 5 mit Register und Materialien für 2001. Die Strukturierung der ersten Bände folgt Kriterien, die den jeweils innovativen und wichtigen Teilbereichen der Theaterkultur entsprechen. Kurzanalysen von Dramentexten markieren die literaturgeschichtliche Komponente der Theaterwelt im ersten Band, die in dieser knappen Auswahl der für die Bühnengeschichte wichtigen Texte durchaus überzeugt. Neben der Literaturgeschichte, in der Tragödie, Komödie und Satyrspiel in gleicher Weise berücksichtigt sind, stehen für Griechenland wie Rom die sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die Entstehung des Theaterbaus und der Ausstattung sowie der philosophische und theatertheoretische Kontext im Vordergrund der Darstellung. Zahlreiche Szenenfotos aus Inszenierungen des 20. Jahrhunderts illustrieren die zurückliegenden Epochen. Sie machen anschaulich, daß sich das Ereignis "Theater" immer aus zahlreichen Traditionslinien der Texte, Inszenierungen und Darstellungsformen zusammensetzt, die jeweils neu interpretiert werden und sich gleichzeitig in diese Überlieferung einreihen, - auch wenn sie als Gegenentwürfe konzipiert sind. Hinzu kommt bei der Lektüre ein Erfahrungshorizont des Publikums bzw. der Leserschaft, die durch die photografische Dokumentation an eigene Theatererlebnisse erinnert werden und so eine historische wie aktuelle Konkretisierung der Theatergeschichte erfahren. Die Gefahr, die Theatergeschichte des Mittelalters nicht als einen erratischen Block zwischen Antike und Renaissance zu plazieren, umgeht Brauneck durch eine Betonung der jeweiligen Schnittstellen im frühen und späten Mittelalter. Eine Anbindung ist einerseits im Zusammenspiel ritueller, kultischer Formen gegeben, andererseits nehmen Gesten und Gebärdensprache des späten Mittelalters durchaus theatralische Sprachen der folgenden Zeit vorweg. Dennoch muß in diesem Kapitel die Geschichte der Kirche und der Frömmigkeitspraxis überwiegen, ohne die die Theaterformen der Passions- und Osterspiele, der Mysterien- und weltlichen Fastnachtsspiele nicht denkbar wären. Sehr deutlich wird der fließende Übergang zwischen einer Theatralisierung der Liturgie und der liturgischen Gestaltung des Theaters. Mit der Zeit des Spätmittelalters läßt Brauneck die topographische Differenzierung der regionalen Theatergeschichte beginnen, die im Bereich der romanischen Länder einen nahtlosen Übergang in die Zeit des Humanismus und der Renaissance ermöglicht. Hier leiten Anmerkungen zum Profil der Epoche in die jetzt unumgängliche Aufteilung nach Regionen (Italien / Frankreich / Spanien und Portugal / Deutschland, Österreich und die Schweiz / Niederlande / England) über. Zwar sind Schwerpunkte gesetzt - das Theater Shakespeares nimmt z.B. einen breiten Raum der Darstellung ein -, dennoch wird jeder Theaterkultur eine angemessene Betrachtung geschenkt.

Die beiden folgenden Bände greifen diese Einteilung auf, wobei sich jetzt die regionale Ausprägung immer weiter differenziert. Auch für das 17. und 18. Jahrhundert konzentriert sich die Darstellung auf das Sprechtheater. Oper und Ballett sind nur insoweit berücksichtigt, als sie für die strukturellen Aspekte des Theaterwesens und die Neuerungen der Bühnenästhetik bedeutsam waren (Vorwort). Diese Einschränkung mag zunächst enttäuschen, wird aber bei der Lektüre plausibel, da sie zur Übersichtlichkeit beiträgt und das breite Feld einer Geschichte der Oper anderen Publikationen überläßt.

Unter sozialhistorischen Kriterien werden die Theater des höfischen und bürgerlichen Zeitalters in ihren jeweiligen Koordinaten (Architektur, Bühne, Regie, Dramentexte, Schauspieler, Publikum) vermessen. Brauneck setzt bei der Darstellung der Theatergeschichte der einzelnen Länder jeweils für die Zeitabschnitte Zwischen Renaissance und Aufklärung, Theater im 18. Jahrhundert, Von der Romantik zum Beginn der Moderne und Vom Naturalismus bis zum Aufkommen der Avantgarde-Bewegungen um 1910 neu an. Diese übersichtliche Einteilung nimmt in Kauf, daß Entwicklungslinien und historische Zusammenhänge argumentativ auseinandergerissen werden. Je mehr sich Braunecks Geschichte der Moderne nähert, in der - nach seinen eigenen Worten - ein nie gekanntes Ausmaß der Theaterproduktionen beschrieben werden muß, desto schwieriger wird eine klare Strukturierung der Theatergeschichte Europas. Die Heterogenität des Gleichzeitigen und die Globalisierung kultureller Entwicklungen machen sowohl die chronologische als auch die topographische Differenzierung fraglich. Abgesehen von den einzelnen Nationaltheaterbewegungen des 19. Jahrhunderts, ist der Aspekt der nationalen oder geographischen Abgrenzung nicht mehr ausschlaggebend. Z.B. überrascht die Zuordnung der die Theatermoderne des 19. Jahrhunderts prägenden Autoren wie Shaw oder Ibsen zu ihren "Heimatländern", da die Dramaturgie dieser Stücke gerade in anderen europäischen Ländern zu revolutionären Synergien mit der zeitgenössischen Regie fand. Fragt man sich, warum Konstantin Stanislawskijs Künstlertheater in Moskau auf weniger als 20 Seiten dokumentiert ist und Edward Gordon Craig gerade einmal fünf Seiten gewidmet sind, so zeigt sich bei der Lektüre, daß hier vermutlich die Schere der Darstellung in zeitlichen Ausschnitten die Verantwortung trägt und diese für das 20. Jahrhundert maßgeblichen Entwicklungen der Regie erst im vierten Band ausführlicher zu finden sein werden.

Trotz dieser durch die Gliederung in Kauf genommenen Kompromisse bleibt offensichtlich, daß die Fülle der Informationen, die Braunecks Theatergeschichte bietet, nicht in einer synoptischen Gesamtschau für das europäische Theater hätte geleistet werden können.

Der Titel Die Welt als Bühne bietet entsprechend einer Assoziation des barocken Welttheaters selbst ein in seiner schriftlichen Dramaturgie zwingendes und auch für die bildliche Anschauung faszinierendes Theatererlebnis. Die zahlreichen Abbildungen zeigen Werke der bildenden Kunst, die in ihren Themen und Motiven Aufschlüsse über die zeitgenössische Gesellschaft und ihre theatralen Sozialisationsformen geben. Daneben sind Pläne und Dokumentationen von Szenenbildern, Kostümkunden und Theaterbauten zu sehen. An die Stelle eines umfangreichen Anmerkungsapparates treten in Form von Spaltenkommentaren Zitate aus einschlägigen wissenschaftlichen Texten, die eine optisch angenehme und neutrale Gegenüberstellung von Braunecks Interpretation und zurückliegenden Forschungen ermöglichen. Dieses Layout wahrt die Form der gut lesbaren Überblicksdarstellung, läßt aber Braunecks Text nicht isoliert erscheinen und weist auf Vorbilder seiner Studien hin.

Mit Braunecks Theatergeschichte entsteht eine europäische Kulturgeschichte, die - zumindest im Bereich der Theaterwissenschaft - kaum Vergleichsmöglichkeiten bietet. Dennoch soll an die zwischen 1957 und 1972 erschienene zehnbändige Theatergeschichte Europas von Heinz Kindermanns[1] erinnert werden. Es ist vielleicht kein Zufall, daß sich Brauneck nicht auf diesen "Vorläufer" bezieht. Obwohl auf den ersten Blick ähnlich strukturiert und mit ähnlich programmatischem Wissenschaftsethos einer Theaterbegeisterung vorgetragen, unterscheiden sich die beiden Standardwerke doch grundlegend. Bei Kindermann ist die Ereignisgeschichte tonangebend. Die regionale Einteilung, die auch für das 19. und 20. Jahrhundert systematisch fortgesetzt wird, dient nicht zuletzt der Ideologie eines europäischen Kulturwettbewerbs, in dessen Profilierungsphasen sich auch die gemeinsamen Züge einer spezifisch europäischen Theaterkultur entwickelt hätten. "Im Renaissance-Zeitalter hingegen ergibt sich zum erstenmal die völlig anders geartete Situation, daß das Theater einer Nation - als Exponent ihres Kulturgepräges - das der übrigen Völker weit überragt, weil es ihnen allen mit grundlegend neuen Ideen und Gestaltungsweisen voraneilt und nun versucht, auch die theatralischen Erscheinungsformen der übrigen Völker zu diesen neuen Idealen zu führen" (Bd. 2, S. 13). Diese Tendenz weist auf methodische Voraussetzungen hin, die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen.[2] Unter diesem Aspekt - und auch hinsichtlich Lesbarkeit und Bilddokumentation - hat Die Welt als Bühne Kindermanns Theatergeschichte Europas ersetzt. Als Nachschlagewerk bieten die Register der Theatergeschichte Europas sicher auch in Zukunft gezielt Auskunft über Personen und Ereignisse, die - jenseits der Kulturgeschichte - bei Kindermann ausführlicher dargestellt sind. Während man bei Brauneck neben der Informationsfülle auch Freude an der Lektüre gewinnt, wird sich diese Art der Rezeption bei Kindermann sicher nur noch vereinzelt ergeben. Eine Ausnahme bildet der zehnte und letzte Band, in dem verschiedene Beiträger für die einzelnen Regionen verantwortlich zeichnen. Jenseits politischer Implikationen wird hier [1972 !] die osteuropäische Theaterkultur zwischen Naturalismus und Expressionismus (bis 1938/39) dargestellt. Dieser Grat der Differenzierung wird eventuell durch Braunecks vierten Band nicht ersetzt werden können. Wer zumindest Teile seiner neuen Form einer Universalgeschichte der Welt (als Bühne) gelesen hat, wird sich aber auf das Erscheinen des letzten Teils freuen. Nach Erscheinen des abschließenden Registerbandes wird voraussichtlich eine ideale Kombination zwischen enzyklopädischer Lektüre und den Möglichkeiten gezielten Nachschlagens erreicht sein.

Ulrike Steierwald


[1]
Theatergeschichte Europas / Heinz Kindermann. - Salzburg : Müller, 1 (1957) - 10 (1972). - [2. verb. und erg. Aufl. 1966 - ]. (zurück)
[2]
Aus den zahlreichen Publikationen Heinz Kindermanns aus den dreißiger Jahren seien genannt: Dichtung und Volkheit : Grundzüge einer neuen Literaturwissenschaft / Heinz Kindermann. - Berlin : Junker u. Dünnhaupt, 1937. - IX, 95 S. - Die Dichtung im Lebensraum der Nationen : Festrede anläßlich der Wilhelm-Raabe-Gedenkfeier, veranstaltet von der Stadt Braunschweig und der Kreisleitung der NSDAP am 24. Okt. 1937 in Braunschweig / Heinz Kindermann. - Braunschweig : Westermann, 1937. - 16 S. - Das Burgtheater : Erbe und Sendung eines Nationaltheaters / von Heinz Kindermann. - Wien [u.a.] : Luser, 1939. - 252 S. : Ill. (zurück)

Zurück an den Bildanfang