Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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The world encyclopedia of contemporary theatre


99-1/4-270
The world encyclopedia of contemporary theatre / [gen. ed.] Don Rubin. - London ; New York : Routledge. - 26 cm
[3376]
Vol. 1. Europe. - 1. publ. - 1994. - 1052 S. : Ill. - ISBN 0-415-05928-3 : œ 115.00
Vol. 2. Americas. - 1. publ. - 1996. - XII, 627 S. : Ill. - ISBN 0-415-05929-1 : œ 95.00
Vol. 3. Africa. - 1. publ. - 1997. - 426 S. : Ill., Kt. - ISBN 0-415-05931-3 : œ 95.00
Vol. 4. The Arab world. - 1. publ. - 1999. - XII, 311 S. : Ill. - ISBN 3-415-05932-1 : œ 95.00
Vol. 5. Asia/Pacific. - 1. publ. - 1998. - 524 S. : Ill. - ISBN 0-415-05933-X : œ 95.00

Nachdem die ersten Pläne zu diesem Projekt bereits Ende der siebziger Jahre von Roman Szydlowski vorgestellt wurden, liegt mit dem Band Europa das erste Produkt einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit von Mitgliedern des Internationalen Theaterinstituts (ITI), der International Federation for Theatre research (FIRT), der International Association of Theatre Critics und der International Society of Libraries and Museums for the Performing Arts (SIBMAS) vor, die durch die UNESCO unterstützt wurde.

Die Enzyklopädie zum zeitgenössischen Theater ab 1945 soll d'Amicos Enciclopedia dello spettacolo[1] ergänzen und teilweise ersetzen, wobei als Zielgruppe vor allem Theaterkritiker und Praktiker definiert werden. Sie ist auf sechs Bände angelegt, von denen die ersten fünf bereits vorliegen und nur noch Vol. 6. General Index and references aussteht. Im Zentrum des Interesses sollte dabei, nach Maßgabe der Herausgeber, Theater als Teil soziokultureller Systeme und Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse stehen, ein Anspruch der sich in der zugrunde liegenden Theaterdefinition allerdings kaum wiederfindet: "Theatre: A created event, usually based on text, executed by live performers and taking place before an audience in a specially defined setting. Theatre uses techniques of voice and/or movement to achieve cognition and/or emotional release through the senses. This event is generally rehearsed and is usually intended for repetition over a period of time."[2] Diese Theaterdefinition kann ihre Herkunft aus der Tradition des literarisch orientierten europäischen Sprechtheaters, wie es am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet war, kaum verleugnen. Auch wenn die Formulierungen generally/usually andere, z.B. improvisierte Theaterformen zulassen, so werden doch Genres wie das mechanische Theater, Objekttheater oder das Happening/die Performance ausgeschlossen, Theaterformen ohne literarische Tradition in den Hintergrund gedrängt, eine Vorgehensweise, die besonders in Anbetracht des internationalen Anspruches des Projektes sowie der jüngsten stilistischen Entwicklungen kaum zu rechtfertigen ist. Fernsehen und Radio wurden aus Gründen der Überschaubarkeit per definitionem ausgeschlossen.

Der Band beginnt mit einer Reihe von kurzen Artikeln, die eine Einführung zu den durchgängigen Themen der Länderessays bieten sollen: Zum europäischen Theater seit dem Zweiten Weltkrieg (Péter Nagy ; Philippe Rouyer), zum Musiktheater (Horst Seeger), zum Tanztheater (Selma Jeanne Cohen), zum Kinder- und Jugendtheater (Wolfgang Wöhlert), sowie zum Puppentheater (Henryk Jurkowski).

In ihrer Einführung[3] erläutern Nagy und Rouyer die Intentionen, die zur Erarbeitung des ersten Bandes der World encyclopedia of contemporay theatre (WECT) führten. Nach dem Ende der kommunistischen Regierungen, der Auflösung des sog. Ostblocks und der (Re-) Etablierung einer großen Zahl von Staaten in Osteuropa konstatieren die Autoren eine noch bestehende Grenze zwischen West- und Osteuropa, welche nicht in erster Linie politisch bestimmt werde, sondern religiöse und kulturelle Traditionen widerspiegele, wie sie durch die Spaltung des Christentums, das Ottomanische und das Habsburgische Reich geschaffen wurden. Sie betonen die Brückenfunktion der Grenzstaaten, sowohl innerhalb der kulturellen Grenze Europas - die sie als imaginäre Linie von Tallinn bis Dubrovnik ansetzen - als auch an den Grenzen des entstehenden vereinten Europas. Der erste Band der WECT solle einerseits die europainternen kulturellen Grenzen zwischen Ost und West durchlässiger machen und den innereuropäischen Austausch auch über die Grenzen der Europäischen Gemeinschaft hinweg fördern, andererseits zur Etablierung einer Europakultur beitragen, die als Vorreiter politischer Entwicklungen fungieren und der Abgrenzung gegenüber anderen Kulturräumen und Medien dienen solle.

Die Angst der Verdrängung des Theaters durch neue Medien (Fernsehen, Computertechnik etc.) dient den Autoren als Katalysator zur Konstruktion einer neuen Variante der alten Nationaltheateridee, diesmal im europäischen Gewand. Der - unterstellten - Beliebigkeit moderner Medien und Kommunikationsformen soll eine einheitliche kulturelle Front entgegengesetzt werden: ein Versuch, der nur zum Scheitern verurteilt sein kann. In den letzen Jahren läßt sich vielmehr die Rückbesinnung auf spezifische kulturelle Traditionen, sei es nationaler, religiöser, regionaler oder sprachlicher Art, einerseits, und die produktive Aneignung fremder kultureller Formen andererseits, beobachten. Der von den Autoren postulierte kulturpolitische Zweck der Enzyklopädie ignoriert die Theaterpraxis und trägt nicht zur Erhellung des Gegenstandes bei.

Die Tendenz, neueste Entwicklungen zu übersehen wird in den 47 Länderartikeln wieder aufgenommen. Zwar wurde der Entstehung neuer Staaten während der Erarbeitungsphase des WECT Rechnung getragen, so daß sich historisch angelegte Überblicksartikel z.B. zur UdSSR, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Spezialartikel zu den neu entstandenen Staaten, wie Kroatien, Serbien-Montenegro, Lettland, Litauen etc. ergänzen, doch sind die einzelnen Artikel, auch wenn der besprochene Zeitraum bis 1992 reicht, nicht auf dem neuesten Stand. Dies zeigt sich unter anderem am Artikel zum deutschen Theater, welcher die getrennte Entwicklung der Theaterlandschaft in den beiden deutschen Staaten erläutert, aber auf die Veränderungen nach 1989 nicht näher eingeht. Ließe sich dieser Mangel noch durch die zeitliche Verzögerung erklären, die mit der Fertigstellung derartiger Großprojekte einhergeht, so verwundern doch die z.T. fehlerhaften Angaben. Ein Beispiel: Theaterwissenschaftliche Institute gebe es ausschließlich in Berlin (Ost und West) in München und in Köln.

Die Länderartikel weisen eine einheitliche Struktur auf, die sowohl eine thematische Lektüre quer durch alle Länderartikel, als auch eine nationenbezogene Lektüre ermöglichen. Sie enthalten: 1. Historische Einführung, 2. Struktur der nationalen Theatergemeinschaft, 3. Künstlerisches Profil: a) Truppen und Ensembles, b) Dramaturgie, c) Direktoren, Regisseure und Produktionsformen, 4. Musiktheater, 5. Tanztheater, 6. Kinder- und Jugendtheater, 7. Puppentheater, 8. Bühnenbild/Ausstattungswesen, 9. Spielstätten/Theaterbau, 10. Ausbildung, 11. Kritik, Forschung, Veröffentlichungen, 12. Weiterführende Literatur. Sie bieten eine knappe, aber gut strukturierte Überblicksdarstellung zu wichtigen Tendenzen und Persönlichkeiten des jeweiligen Staates. Positiv zu bewerten sind die Angaben zur Struktur der Theaterlandschaft (regionale Verteilung und innere Struktur der Theater, Angaben zur Finanzierung, Besucherstatistik, Organisationen), zur Ausbildung und Kritik, die andere Nachschlagewerke im allgemeinen vernachlässigen. Die weiterführende Literatur dagegen könnte etwas ausführlicher aufgeführt werden.

Trotz aller Vorbehalte, die Konzeption und die Ausführung betreffend, liegt mit dem ersten Band der WECT über Europa ein Nachschlagewerk vor, das den schnellen Zugriff auf Informationen zu Ländern bzw. Themen gewährleistet, die in anderen gängigen Nachschlagewerken meist unterrepräsentiert sind.

Peter Schmitt


[1]
Enciclopedia dello spettacolo / fondata d Silvio d'Amico. - Roma. - Vol. 1 (1954) - 9 (1962). - Appendice di aggiornamento. Cinema. - 1963. - Aggiornamento 1955 - 1965. - 1966. - Indice-repertorio. - 1968. (zurück)
[2]
An introduction : of nations and their theatres / Don Rubin. // In: The world encyclopedia of contemporary theatre. - Vol. 1 (1994). S. 3 - 9, hier: S. 8. (zurück)
[3]
The new frontier : an introduction to theatre in Europe since World War II / Péter Nagy ; Philippe Rouyer. // In: The world encyclopedia of contemporary theatre. - Vol. 1 (1994), S. 10 - 16. (zurück)

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