Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Meisterstücke der griechischen und römischen Literatur


99-1/4-222
Meisterstücke der griechischen und römischen Literatur / interpretiert von Kurt Steinmann. - Stuttgart : Reclam, 1998. - 208 S. ; 25 cm. - (Universal-Bibliothek ; 9730). - ISBN 3-15-009730-4 : DM 9.00
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Die in diesem Bändchen vereinigten Interpretationen sind hervorgegangen teils aus Beiträgen des bekannten Schweizer Altphilologen für die Neue Zürcher Zeitung, teils aus Sendemanuskripten für die Reihe Matinee respektive Profile im Zweiten Programm des Südwestfunks. Bei sieben der vierzehn behandelten Werke kann sich Steinmann auf gedruckte Übersetzungen der Texte aus seiner eigenen Feder beziehen.

Durch Übersetzungen der alten Texte sowie durch Essays für Rundfunk oder Zeitungen ihren Gegenstand einem größeren Publikum zu vermitteln, hat in der Klassischen Philologie eine lange Tradition. In die nie abgerissene Reihe der bewußt auf breite öffentliche Wirkung bedachten Altphilologen - erinnert sei etwa an Namen wie Olof Gigon, Albin Lesky, Wolfgang Schadewaldt, Bruno Snell, Ernst Zinn unter den Verstorbenen, an Michael von Albrecht oder Manfred Fuhrmann, unter den Lebenden - stellt sich Steinmann mit dem hier anzuzeigenden Titel. Daß die Vertreter so schwieriger Disziplinen wie der altertumswissenschaftlichen immer auch das interessierte Laienpublikum im Blick gehabt und es tatsächlich erreicht haben, sollte "Bildungspolitikern" und "Hochschulmanagern" zu denken geben, die seit neuestem den Universitätsprofessoren empfehlen, sich verstärkt um die Public-Relations-Facetten ihres Tuns zu kümmern. Bleibt doch die Frage, ob ein "Communicator"- Preis, wie er der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor ein paar Monaten vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft mit einer Preissumme von DM 100.000 zur Verfügung gestellt worden ist, neben seiner Eignung für ein kurzfristiges Medienecho auch die Voraussetzungen dauerhafter Resonanz von ernsthafter Forschung bei einem "gebildeten" Publikum schaffen kann, die nun einmal in einem anspruchsvollen prä-universitären Unterricht gründen, dessen Absolventen in den "two cultures" der Natur- und Geisteswissenschaften so gebildet sind, daß sie Ozon und Stickoxid unterscheiden können und nicht glauben, ein Euphemismus sei eine politische Richtung oder ein Enthymem die Bezeichnung einer Krankheit.

Indem er sich nicht scheut, neben den Übersetzungen auch die griechischen und lateinischen Originale der intensiver erörterten Textstellen zu setzen, fordert auch Steinmann etwas von diesen Grundlagen ein. Unter Meisterstücken versteht er solche Werke, welche "die Gattungsgesetze in größtmöglicher Annäherung an das Ideal erfüllen, ihre Wirkkraft in verschiedenen Epochen der Geistesgeschichte bewiesen und über die Zeiten hinweg behalten haben, Bezugsmöglichkeiten auf Fragen unserer Zeit anbieten und im Bewußtsein einer literarisch interessierten Öffentlichkeit noch - wie auch immer - präsent sind" (S. 9). Mutatis mutandis könnte man sagen: Das Buch handelt nicht nur von Meisterstücken, sondern enthält selber solche des interpretierenden Genres. Im einzelnen werden neun Werke aus der griechischen und fünf aus der römischen Literatur interpretiert: Archilochos als der lyrische Entdecker des Ich, die Lieder der Sappho, der Vorsokratiker Xenophanes als nonkonformistischer Vordenker, Antigone, König Ödipus und Ödipus auf Kolonos von Sophokles, von Euripides die Alkestis (unter der Fragestellung "Märchenstück oder pièce noir"?), das (aus verwandter Gesinnung von Franz Werfel bearbeitete) Antikriegsstück Die Troerinnen und die Bacchantinnen, Catulls Lesbia-Lieder, Vergils auf Augsutus bezogene und in produktivem Mißverständnis der Kirchenväter als Ankündigung Christi gelesene vierte Ekloge, die Carmina des Horaz, die Epigramme Martials und aus dem Schelmenroman Der goldene Esel des Apuleius das eingelegte Liebesmärchen Amor und Psyche.

Bewundernswert, mit welch sprachlicher Eleganz der Schweizer Gelehrte für seine Gegenstände zu begeistern versteht: Man lese etwa den schönen Essay über Sappho - nicht um zu lernen (auch wenn selbst das heute eine überraschende "Erkenntnis" sein sollte), daß Frauenliteratur keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern um sich unter der behutsamen Führung Steinmanns an den Texten dieser großen Dichterin den höchsten Begriff von Lyrik zu bilden, was die Musikalität der Sprache, das metaphorische Sprechen usw. angeht. Platon nannte sie "zehnte Muse", und wenn der Historiker Strabon 600 Jahre nach ihrem Tod von ihr als einem "wunderbaren Etwas" spricht, so gesteht er mit dieser Formulierung die ganze Hilflosigkeit des diskursiven Begriffs vor dem großen Kunstwerk ein. Ganz beiläufig wird da in leicht faßlicher Form alles zum Verständnis Wichtige ausgebreitet: So verdeutlicht Steinmann z.B. die Eigenheiten des äolischen Dialekts an der vom Attischen abweichenden Bezeichnung des Mondes (die bei den Alten immer eine "Mondin" ist): Gegenüber dem attischen Wort selene klingt das äolische selanna "viel geheimnisvoller mit den zwei dunklen, langen Vokalen und der Verdoppelung des Konsonanten" (S. 35). Ganz unaufdringlich eröffnet er dem Leser dann auch noch einen Blick auf die komplizierte Gattungspoetik der altgriechischen Literatur durch den Hinweis, daß eben der äolische Dialekt aus solchen sprachmusikalischen Gründen zum "Gewand der Einzellyrik" geworden ist. Oder man lasse sich am Beispiel des Römers Catull zeigen, wie dieser "modernere" Dichter durch die "Auseinandersetzung" mit der Lyrik Sapphos auch Ambivalenzen zur sprachlichen Gestalt zu bringen lernt, welche die Griechin "noch nicht kennt: die unselige Liebe. Auch den Zwiespalt der Liebe kennt sie noch nicht. Nie hätte sie Catulls odi et amo sagen können." Und wer sich von Steinmann durch die Interpretationsgeschichte des Märchens von Amor und Psyche hat führen lassen, das man historisch als allegorischen Mysterientext des Isiskults verstanden und mit nicht weniger Recht tiefenpsychologisch als Gleichnis für die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten gedeutet hat, "über eine Bewußtseinsentwicklung zu einer reifen Liebesbegegnung zu gelangen" (S. 203), der wird verstehen, warum Texte zu allen Zeiten der Auslegung bedürfen. So liefert der Autor gleich auch noch eine höchst anschauliche und plausible Rechtfertigung literaturwissenschaftlicher Arbeit.

In einem Fach wie der Klassischen Philologie ist die Beherrschung des Handwerks immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, von der nicht viel Aufhebens zu machen ist. Eigentlich überflüssig daher der Hinweis, daß jedem Essay eine hilfreiche Auswahlbibliographie beigegeben ist. Steinmann gliedert seine weiterführenden Literaturhinweise jeweils nach den Kategorien: Editionen des Textes, Kommentare, zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen, Sekundärliteratur.

Sollte es zu den Meisterstücken einmal einen Folgeband Neue Meisterstücke geben, so dürften Interpretationen zu den Komödien von Aristophanes und Menander, von Plautus und Terenz nicht fehlen. Versteht Steinmann es doch, die Antike als dauerhaftes Fundament europäischer Kultur bewußt zu machen, weil er die Werke der Alten nicht als vorbildliche Muster zu lesen lehrt, sondern als auf Grundstrukturen vereinfachte Modelle von Konflikten, Problemen, Situationen usf. Der Verlag hat seinen zahlreichen Verdiensten um die Vermittlung der Antike ein weiteres hinzugefügt.

Hans-Albrecht Koch


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