Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der russischen Literatur


99-1/4-214
Geschichte der russischen Literatur : von Peter dem Großen bis zur Gegenwart (1700 - 1995) / Emmanuel Waegemans. Aus dem Niederländischen übers. von Thomas Hauth. - Konstanz : Universitätsverlag Konstanz, 1998. - 489 S. ; 23 cm. - Einheitssacht.: Geschiedenis van de russische literatuur <dt.>. - ISBN 3-87940-574-3 : DM 68.00
[3710]

Der belgische Slawist Emmanuel Waegemans hat mit diesem Buch die erste Geschichte der russischen Literatur vorgelegt,[1] die - unter Verzicht auf die altrussische Literatur - bis in die Gegenwart reicht. Sie ist chronologisch in gut gewählter Periodisierung und Umfangsplanung angelegt. Allerdings wird der Anspruch, "bis zur Gegenwart" zu führen, unzureichend erfüllt. Hier hätte der Autor nicht nur sechs aktuelle Namen nennen dürfen, sondern diese Autoren und einige der - bereits ins Deutsche übersetzten - neuen Werke vorstellen müssen. Das Inhaltsverzeichnis ist detailliert, führt u.a. die Namen der sechzig Schriftsteller auf, denen eigene Unterkapitel gewidmet sind. Das Register hebt die Stelle der geschlossenen Darstellung des einzelnen Autors hervor, nennt aber nicht die Werke. Ein weiteres Register führt zu erwähnten Zeitschriften. Ein Glossar, das Begriffe wie Bolschewiken, Komsomol oder Samizdat erklärt, zeigt, daß sich das Buch wie die niederländische Ausgabe von 1993 in erster Linie an Studenten richtet. Der Aufbau und der Umfang, der einzelnen Autoren gewidmet wird, bestätigen - bis auf den letzten Abschnitt - die sorgfältige Planung.

Die auf Perioden orientierte Anlage bringt es meist mit sich, daß die sechzig ausgewählten Schriftsteller nicht nur in ihrem Unterkapitel über eine wichtige Phase ihres Schaffens behandelt werden. Leider lassen die Kapitelüberschriften oft nicht vermuten, von welchen Autoren die Rede sein wird. Bei Überschriften wie Der historische Roman, Einzelgänger und Klassiker des sozialistischen Realismus, Poesie nach 1917 sind die Zuordnungen ziemlich offen. Andrej Platonov, der dem Range nach ein Einzelkapitel verdient hätte, ist den Einzelgängern, zugeordnet. Die Darlegung über ihn aber - und das ist am wichtigsten - ist ausgewogen, aktuell und informativ.

Es widerspricht dem historischen Aufbau, daß es ein Kapitel über die fünf russischen Nobelpreisträger gibt. So ist Bunin nun nicht bei den Realisten der Jahrhundertwende eingeordnet, auch nicht in den Zeitraum der Preisverleihung (1933), sondern in die Periode 1953 - 1985. Derartige sonst unvermeidliche Kompromisse zwischen inhaltlicher und zeitlicher Zuordnung gleichen zeitgeschichtliche Überblickskapitel Hintergrund aus, mit denen Waegemans jedes Periodenkapitel beginnt. Das Kapitel über die Phase ab Stalins Tod (1953) reicht über die mögliche Zäsur durch Chruscevs Absetzung (1964) hinweg bis zur Perestroika (1985). Dieser Periodisierung ist zuzustimmen, nicht der von manchen anderen Literaturhistorikern gewählten, die den Einschnitt auf 1991, den Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion, legen, denn der entscheidende Wandel der russischen Literatur zur Freiheit setzt 1985 an, so wie der entsprechende Wandel zur politischen Unterdrückung 1917.

Waegemans Literaturgeschichte hat den Vor- und den Nachteil einer von einem Wissenschaftler allein geschriebenen Darstellung. Eine so ausgewogene Zuteilung des jeweiligen Umfangs (Puskin zehn Seiten, Lermontov, Turgenev und Cechov sechs, Tolstoj 18, Babel' und Zoscenko knapp zwei) läßt sich sonst nicht erreichen. Andererseits kann ein einzelner Verfasser nicht mit dem Werk aller Autoren gleich gut vertraut, ihm auch nicht jeder Schriftsteller gleich nahe sein. Ein anderer hätte Auswahl und Umfang etwas anders festgelegt und hätte bei der Darstellung andere Akzente gesetzt. Mit manchen Literaturhistorikern hätte ich z.B. bei Turgenev unbedingt die späten Novellen einbezogen, in denen existentielle und transzendente Motive eine wesentliche Rolle spielen. Johannes von Guenther schreibt in seinem Buch Die Literatur Rußlands,[2] die Novellen "werden seine Romane überleben". Überhaupt ergänzen andere Literaturgeschichten wie auch die von Wilhelm Lettenbauer und Arthur Luther die neue recht gut. Jeder dieser Autoren hat - wie nun Waegemans - einen eigenen Blick. J. von Guenther betonte in der seinen 1964 als erster die große Bedeutung von Dmitrij Klenovskij, Waegemans läßt ihn ganz fort, Lettenbauer stellte 1956 bei Gogol's "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel" als einem "namhaften literarischen Werk" das christliche Anliegen heraus, den Ernst von Gogol's Anschauungen und den Zusammenhang mit seinen "geistigen Grundsätzen", während Waegemans nur aus Belinskijs bösem Verriß ("Apostel der Unwissenheit, Verfechter des Obskurantismus") zitiert und eher mit d. Mirskij übereinstimmt ("peinliche und beinahe demütigende Lektüre"), den er als einzigen dieser Vorgänger mehrfach zitiert. Waegemans dem Religiösen fernstehende Sicht zeigt sich auch im Kapitel über Dostojevskij, schwächt die geistige Aussage dieser Literaturgeschichte insgesamt. Bei Bunins Anklage gegen das Verdrängen des Todes in Der Herr aus San Francisco referiert Waegemans den Inhalt - ähnlich wie Arthur Luther 1924 in seiner Literaturgeschichte -, doch Luther ergänzte dann mit einem Hinweis auf das "erschütternde Bild" der "Seelenlosigkeit unserer sogenannten 'Kultur'", das Bunin vermittelt, während Waegemans keine Aussage über das Anliegen Bunins macht.

Außer weiteren Literaturgeschichten sollten für die grundsätzlichen Informationen, die derartige Nachschlagewerke vermitteln, auch Kindlers Hauptwerke der russischen Literatur[3] und die Supplementbände zu Kindlers neuem Literaturlexikon[4] herangezogen werden, nicht nur wegen der dort üblichen ausführlicheren Darstellung im Einzelfalle, sondern auch wegen einzelner von Waegemans nicht aufgenommener neuerer Autoren (z.B. Petr Aleskovskij, Veniamin Blazennyj, Boris Chazanov, Boris Cicibabin, Igor' Cinnov, Regina Derieva, Sergej Dovlatov, Ion Druce, Nikolaj Morsen). Waegemans Bemühen, seine Darstellung bis in die Gegenwart zu führen, zeigt sich im Widerspruch des Titel des Epilogs: Im Inhaltsverzeichnis heißt es 1991 - 1995, als Kapitelüberschrift aber 1991 - 1997. Er nennt dort aktuelle Namen wie Ljudmila Ulickaja, Viktor Pelevin und Marina Palej, beschreibt aber keines ihrer Werke. Der herausgestellte Evtusenko ist kein Repräsentant der neuen Autoren.

Die Namen allein sagen nichts, auch könnte jeder Fachmann weitere ergänzen.

Die neue Literaturgeschichte stellt die russische Literatur in einem Zeitraum vor, wie er weder in russischer, noch englischer, noch französischer Sprache vergleichbar erarbeitet worden ist. Der weniger philosophische und geistesgeschichtliche, statt dessen mehr historische, deskriptive und gelegentlich formbewußte Ansatz entspricht einem breiten Benutzerkreis.

Wolfgang Kasack


[1]
Geschiedenis van de russische literatuur : sinds de tijd van Peter de Grote / Emmanuel Waegemans. - Amsterdam : Mets ; Gent : Scoop, 1999. - 478 S. ; 24 cm. - ISBN 90-5330-237-9 (Mets) : Hfl. 69.50 - ISBN 90-5312-106-4 (Scoop). (zurück)
[2]
Zu dieser sowie den im folgenden erwähnten älteren Literaturgeschichten vgl: Russische Literaturgeschichten 1905 - 1996 : ein kritischer Bericht / von Wolfgang Kasack [3769]. - IFB 96-4-534, sowie, ausführlich: Russische Literaturgeschichten und Lexika der russischen Literatur : die Handbücher des 20. Jahrhunderts ; Überblick, Einführung, Wegführer / Wolfgang Kasack. - Konstanz : UVK, Universitätsverlag Konstanz, 1997. - 278 S. ; 23 cm. - ISBN 3-87940-585-9 : DM 48.00 [4471]. - Rez.: IFB 98-1/2-100. (zurück)
[3]
Rez.: IFB 98-3/4-255. (zurück)
[4]
Vgl. oben IFB 99-1/4-151. (zurück)

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