Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Dictionnaire des lettres françaises


99-1/4-211
Dictionnaire des lettres françaises . - [Paris] : Fayard ; [Paris] : Le Livre de Poche. - 19 cm. - (Le livre de poche : Encyclopédies d'aujourd'hui : La pochotèque). - [1] - [5] publ. sous la direction du cardinal Georges Grente
[1978]
Le XXe siècle / éd. réalisée sous la direction de Martine Bercot ... 1998. - X, 1170 S. - ISBN 2-253-13109-1 : FF 185.00

Mit dem Band zum 20. Jahrhundert wird die Aktualisierung des altehrwürdigen, von 1951 an erschienenen Grente[1] fortgesetzt und zugleich das traditionsreiche, aber auch der Tradition über Gebühr verhaftete Vorgängerwerk überwunden, insofern das unter Leitung des Kardinals Grente herausgegebene Lexikon sich nicht an einen Band zum 20. Jahrhundert wagte, der erst ab etwa dem Jahr 2000 entstehen dürfe. Da diese Schwelle nun nahezu erreicht ist, vor allem aber wohl, da der Dictionnaire des lettres françaises weit stärker als in den fünfziger und sechziger Jahren mit anderen Lexika zur französischen Literatur konkurrieren muß, die sich seit Jahrzehnten nicht scheuen, auch Informationen zum 20. Jahrhundert zu liefern, galt es offenbar, endlich diese Lücke zu schließen und immerhin in der Taschenbuchausgabe das Bild der französischen Literatur zu vervollständigen. Erstaunlicherweise verweist das kurze Vorwort des Lexikons lediglich auf "la série de Dictionnaires des lettres françaises de la collection Pochothèque" (S. IX), weder auf den Grente noch auf die gebundene Version der übrigen aktualisierten Bände im Verlag Fayard, so daß sich in dem ganzen Band nur ein kleiner, auf der Rückseite der Haupttitelseite versteckter Hinweis auf die große Tradition des Dictionnaire findet: "[copyright] Fayard pour la notice ®Barrès¯, dont on trouvera le texte complet dans le Dictionnaire des Lettres Françaises : Le XIXe siècle, paru aux éditions Fayard". Da zum 19. Jahrhundert bisher keine überarbeitete Version erschienen ist, bezieht sich die Angabe auf den 1971 publizierten Teilband A - K der ursprünglichen Ausgabe, von der sonst nirgends die Rede ist.

Da keine erste Version existiert, stellt sich für die Herausgeber hier nicht wie für diejenigen der übrigen Bände das heikle Problem, einen Weg zwischen völliger Neubearbeitung und größtmöglicher Treue zum Vorgänger zu finden, sondern nur die - bei der heutigen Publikationsflut allerdings ebenfalls nicht zu unterschätzende - Schwierigkeit, sich von anderen vergleichbaren Nachschlagewerken[2] abzusetzen. Ohne diese zu erwähnen, versucht das Vorwort dennoch, die Besonderheiten des vorliegenden Bandes herauszustreichen, die zum einen in der Berücksichtigung nicht nur französischsprachiger Autoren aus Frankreich, sondern allgemein frankophoner Schriftsteller liegt, auch wenn diese nur einen Teil ihres Werkes in französischer Sprache verfaßten und nicht in Frankreich lebten oder leben. Dazu ist freilich anzumerken, daß für die Mehrzahl der in den vergangenen Jahren erschienenen Literaturgeschichten und -lexika dieselbe Entscheidung getroffen bzw. bei einer Neuauflage die Frankophonie hinzugenommen wurde, so daß dieses Charakteristikum schon fast eine Art Minimalforderung an ein aktuelles Nachschlagewerk darstellt, zumindest aber keinesfalls eine Besonderheit, die das Opus vor ähnlichen Werken auszeichnete.

Das andere hier hervorgehobene Merkmal hingegen, der große Raum, der Literaturzeitschriften und Verlagshäusern eingeräumt wurde, scheint in der Tat ein Spezifikum zu sein, das den Band auf diesem Gebiet zu einer wichtigen Adresse für grundlegende erste Informationen macht, zumal die Regie für diese Artikel dem 1988 gegründeten Institut Mémories de l'Édition Contemporaine (Imec) anvertraut wurde, das über zahlreiche Archivbestände von Schriftstellern, Intellektuellen, Verlagen, Zeitschriften etc. verfügt.

Was die Autoreneinträge anbelangt, wurde erstens ein relativ enger, an der traditionellen Gattungstrias der sogenannten Belletristik orientierter Literaturbegriff zugrundegelegt, so daß Autoren bedeutender Werke aus Geschichte und Philosophie, Literaturwissenschaft und sciences humaines allgemein nur in Ausnahmefällen anzutreffen sind. Zweitens liegt der Akzent in der Regel auf dem Werk, nicht auf der Biographie eines Autors, auch wenn die Artikel im wesentlichen chronologisch aufgebaut sind. Je nach Verfasser eines Beitrags variieren aber gerade in dieser Hinsicht die einzelnen Darstellungen sehr stark, so daß etwa der Artikel über Apollinaire mehr Informationen zur Biographie als zum Werk enthält, während jener über Sarraute sogar auf einzelne Texte verhältnismäßig detailliert eingeht. Neben den längst als bedeutend anerkannten und kanonisierten Autoren, denen jeweils ein langer, von einem Spezialisten verfaßter und mit einer ausführlichen Bibliographie der Primär- wie Sekundärliteratur versehener Eintrag gewidmet wurde, nimmt der Dictionnaire auch unbekannt gebliebene und noch unbekannte Autoren[3] auf, wobei in den kürzeren Artikeln ebenfalls die Werktitel mit Erscheinungsjahr, z.T. zusätzlich mit dem Verlagsnamen, figurieren.

Neben den Personenartikeln und den bereits genannten Artikeln zu Zeitschriften und Verlagshäusern enthält das Lexikon unter den über 1800 Einträgen sehr unterschiedlicher Länge, die alle namentlich gezeichnet sind, Artikel zu weiteren Institutionen wie der Académie Française,[4] zu den in Frankreich ja eine große Rolle spielenden Literaturpreisen,[5] zu literarischen Strömungen wie dem théâtre de l'absurde, zu im 20. Jahrhundert geprägten oder umgeprägten Gattungen wie bande dessinée oder roman historique[6] sowie verschiedene, in der Regel sehr informative Überblicksartikel zu Themen wie littératures du Maghreb, théâtre contemporain oder, auffallend ausführlich, traduction, da die Übersetzungstätigkeit bzw. "ce qui est lu" neben dem, "ce qui est créé" (S. 1098 - 1099), als für das Verständnis auch der im Original französisch geschriebenen Literatur essentiell erachtet wird. Daher geht der über 16 Spalten lange Artikel auf den Unterschied zwischen der Übersetzungspraxis der Antike und der der Moderne ein, auf die einzelnen Sprachgebiete, aus denen heute vorrangig übersetzt wird, auf die theoretische Debatte um die Übersetzung sowie auf einzelne gelungene "oeuvres-de-traduction" (S. 1105) und auf den Einfluß von Übersetzungen auf die Literaturproduktion.

Zeitlich grenzt sich der Dictionnaire weniger scharf vom 19. Jahrhundert ab als beispielsweise das von Mitterand herausgegebene Werklexikon, das als Stichtag den 1. Januar 1901 setzt und keinem vor diesem Datum erschienenen Werk einen Eintrag zugesteht. Da hier jedoch die einzelnen Texte im Rahmen von Autorenartikeln besprochen werden und für die einzelnen Autoren jeweils das gesamte Werk berücksichtigt wurde, geht etwa bei Maeterlinck oder Proust auch das vorige Jahrhundert noch in die Darstellung mit ein und rundet sie ab.

Zusammenfassend läßt sich dieses weitere Lexikon zur französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts demnach durchaus sowohl für Bibliotheken als auch für alle an der Gegenwartsliteratur Interessierten empfehlen und den bisherigen Nachschlagewerken an die Seite stellen, zumal es in vielen Einträgen ausgesprochen präzise und detaillierte Informationen enthält und sich zudem durch seine Aktualität auszeichnet, da sowohl im Bereich der Primär- als auch in dem der Sekundärliteratur zahlreiche Publikationen aus den neunziger Jahren, stellenweise sogar noch von 1998, dem Erscheinungsjahr des Dictionnaire, aufgenommen wurden.

Barbara Kuhn


[1]
Vgl. die Besprechungen der bereits erschienenen Bände zum Mittelalter (IFB 96-2/3-249 - 250) sowie zum 17. und 18. Jahrhundert (IFB 97-1/2-152). (zurück)
[2]
Neben den sehr umfangreichen und auch das 20. Jahrhundert breit berücksichtigenden Dictionnaire des littératures de langue française und Dictionnaire des oeuvres littéraires de langue française, die 1994 in jeweils vier Bänden im Verlag Bordas erschienen (Rez.: IFB 96-2/3-242 - 243), sei hier vor allem der von Henri Mitterand herausgegebene Dictionnaire des oeuvres du XXe siècle (Rez.: IFB 96-2/3-251) genannt. In der Reihe [Les dictionnaires] Encyclop‘dia universalis, die 1998 um einen Dictionnaire des littératures de langue française : XIXe siècle (Rez.: IFB 98-3/4-248) vorgelegt hat, existiert zumindest bislang kein Band zum 20. Jahrhundert. (zurück)
[3]
Gleich der erste Artikel etwa befaßt sich mit dem 1942 geborenen Jacques Abeille, den trotz seiner zahlreichen Publikationen weder der Dictionnaire des oeuvres du XXe siècle berücksichtigt noch das Lexikon der französischen Literatur von W. Engler oder der New Oxford companion to literature in French. Hingegen nimmt das neue Lexikon erstaunlicherweise nicht Annie Ernaux auf, der der New Oxford companion immerhin eine halbe Spalte und der Dictionnaire des oeuvres du XXe siècle einen Artikel widmen und deren Werk nicht nur in der Literaturwissenschaft innerhalb und außerhalb Frankreichs zunehmend Beachtung findet, sondern darüber hinaus den Eintritt in ein Verlagshaus wie Gallimard geschafft hat. (zurück)
[4]
Nach einem sehr kurzen historischen Abriß geht der ausführliche Artikel vor allem auf die heutigen Funktionen der Akademie sowie ihr heutiges Image ein. (zurück)
[5]
Einer kurzen Beschreibung des Preises schließt sich jeweils die Liste der Preisträger (beim Nobelpreis die der französischen Gewinner) bis einschließlich 1997 an und illustriert damit die Aktualität des Lexikons. Daß sich die als Prix Renaudot bekannte Ehrung unter T, weil unter dem offiziellen Namen Théophraste-Renaudot (prix) versteckt, während etwa im Artikel Butor nur die übliche Bezeichnung verwendet wird, verblüfft zwar, läßt sich aber dank der Querverweisung unter R wie Renaudot verschmerzen. (zurück)
[6]
Auch dieser Eintrag zu einer üblicherweise dem 19. Jahrhundert zugeschriebenen Gattung verwundert auf den ersten Blick, wird jedoch auf den zweiten durchaus plausibel, da der Verfasser darlegt, daß die traditionelle Definition nur mehr für populäre "oeuvres de consommation" Geltung besitze, die gewiß immer noch nach bewährtem Muster in Massen erscheinen, daß neben diesem "typischen" historischen Roman jedoch auf der einen Seite Werke mit hohem literarischem Anspruch publiziert werden, und auf der anderen Werke, die die Gattung geradezu bis an ihre Grenzen treiben, beispielsweise La Semaine sainte von Louis Aragon, vorsichtig als vielleicht "le chef-d'oeuvre du roman historique au XXe siècle" (S. 967) bezeichnet. Ähnlich wird auch dem roman policier ein Artikel gewidmet, weil ihm im 20. Jahrhundert der Aufstieg von der sogenannten Trivialliteratur zu den anerkannten Gattungen gelungen sei. (zurück)

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