Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Metzler-Goethe-Lexikon


99-1/4-182
Metzler-Goethe-Lexikon / hrsg. von Benedikt Jeßing, Bernd Lutz und Inge Wild. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1999. - 583 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 3-476-01589-0 : DM 59.80
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Lexika bildeten für Goethe zwar keine wichtige Quelle der Inspiration wie etwa für Rilke, der einige Figuren seines Malte-Romans nach Artikeln der monströsen 167bändigen Enzyklopädie von Ersch-Gruber gestaltete, aber er gehörte auch nicht zu den Verächtern der Nachschlagewerke, sondern konsultierte sie regelmäßig: Das Hübnersche Zeitungslexikon etwa, ein kompaktes Konversationslexikon, hatte er stets griffbereit, und für Details aus der Welt der antiken Götter und Heroen zog er beim Schreiben häufig Benjamin Hederichs Gründliches Lexicon mythologicum heran. Das Stichwort Lexikon aber sucht man im Metzler-Goethe-Lexikon so vergeblich wie vieles noch Wichtigere.

Der Maler Domenichino kommt nicht vor, obgleich seine Fresken im Chor von S. Andrea della Valle zu Rom und seine Wandgemälde zu den Metamorphosen des Ovid in der Villa Aldobrandini zu Frascati Goethe tief beeindruckt haben. Die beiden Einträge zu Michelangelo und Raffel als Flickstücke zu bezeichnen, grenzt an Euphemismus : Der Artikel zu dem einen vermittelt den Eindruck, Goethe habe lediglich dessen Malerei in der Sixtinischen Kapelle wahrgenommen, nicht aber z.B. auch den "Moses"; zu dem anderen teilt das Lexikon mit, Goethe habe an dessen Gemälden und Fresken den eigenen Blick für die Gestaltungsgesetze der Malerei geschult, verschweigt aber, daß er dies z.B. in der Anschauung der "Heiligen Caecilia" in Bologna oder der "Schule von Athen" im Vatikan getan hat. Mit gerade einmal acht Zeilen wird Raffael bedacht, während dem Stichwort Iste, wie der Dichter sein Gemächte nannte, immerhin 22 eingeräumt sind und noch einmal soviel der so öden wie zufälligen Auflistung von Goethe-Straßen und -wegen in einigen beliebigen deutschen Mittelstädten.

Solche Verteilung der Gewichte erlaubt natürlich auch nicht, unter antik/modern darüber zu informieren, daß Goethe und seine Zeitgenossen, wenn sie den normativen Geltungsanspruch der antiken Kunst erörterten, dies nicht voraussetzungslos taten, sondern mit Bezug auf die "Querelle des anciens et des modernes", die Charles Perrault mit seinem Plädoyer für den Vorzug der Neuen am Ende des 17. Jahrhunderts in die Académie française getragen hatte. Gerade an Goethes "heiligem" Homer war die Querelle 1714 heftig wieder aufgeflammt, als Anne Dacier, die französische Übersetzerin von Ilias und Odyssee, die Unantastbarkeit des griechischen Dichters gegen ihren 'modernistischen' Freund Antoine La Motte verteidigt hatte. Auch der Artikel zu Homer weiß nichts von alledem; aber zwei der knappen fünfzehn Zeilen vergeudet er mit der trivialen Mitteilung, Goethe habe nach Erlernen der Sprache die altgriechischen Epen im Original lesen können.

Allenthalben Fehler und Pfusch - nicht Chaos in Goethes Verstand des Wortes, der davon nur sprach, um die Fruchtbarkeit elementarer Unordnung zu bezeichnen. Welttheater wird als internationales Gegenkonzept zum Nationaltheater vorgestellt, wie ein verlorener Splitter zu dem knappen Artikel Weltliteratur, nicht die Rede ist jedoch von der barocken Tradition des Welttheaters, zu der als prominentestes Werk El gran teatro del mundo des spanischen Dramatikers Calderón gehört, den Goethe bevorzugt auf dem Weimarer Theater spielen ließ. Gleich dreimal - unter den Begriffen Dissertation, Doktor-Titel und Promotion - wird Goethes Straßburger Studienabschluß behandelt, aber keine der drei Stellen erklärt die einschlägigen Details des komplizierten Graduierungssystems an den Universitäten des 18. Jahrhunderts. Wieviele Schwangerschaften Goethe bei den Frauen seiner Umgebung erlebt hat, von denen der Mutter bis zu denjenigen von Christiane Vulpius, wird im entsprechenden Artikel halbwegs genau hergezählt, den Bezug des Stichworts zur Gretchen-Tragödie indes muß sich der Leser selbst herstellen.

Zu Friedrich Perthes erfährt man, er sei ein Hamburger Verleger und Buchhändler gewesen. Stimmt genau, doch war er nicht auch der Wegbereiter des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler? Auch nicht verkehrt die Mitteilung, daß Perthes u.a. mit Matthias Claudius befreundet gewesen ist. Aber er war auch dessen Schwiegervater; und da diese zwei menschlichen Beziehungen einander nicht automatisch implizieren, hätten sie schon beide genannt werden dürfen. Falsch aber ist, er sei freundschaftlich auch mit den "Gebrüdern Stolberg" verbunden gewesen. Der Name stimmt, doch führten Friedrich Leopold und Christian Stolberg trotz ihres literarischen und übersetzerischen Fleißes sowenig eine Firma, wie dies die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm getan haben. (Unter den - zugegeben: ihrer Zahl nach relativ wenigen - Grimm-Forschern gilt als stillschweigende Übereinkunft, daß eine Publikation zu den Brüdern nur als Makulatur taugt, sobald dort von den "Gebrüdern" wie von Kontorherren in einer Hafenstadt die Rede ist.) Unter dem Stichwort Claudius selbst ist dann zu lesen, welchen Spott Goethe im Xenion "Erreurs et Verité" über Claudius ausgeschüttet hat; auch diese Information mischt erreurs et verité; denn gerade das zum Verständnis Wichtigste wird dem Leser vorenthalten, daß es sich bei dem Titel "Irrthümer und Wahrheit" um eine von dem Wandsbecker Bothen angefertigte Übersetzung eines Werks des französischen Geistlichen Saint Martin handelt.

Manches, was man suchen könnte, ließe sich mit viel Geduld und noch mehr Finderglück schon zusammenklauben, aber gibt es nicht in der Lexikographie gerade deswegen die Verweisungstechnik, damit man finden kann, statt klauben zu müssen? Wer kommt denn schon auf die Idee, nach der Lektüre des Artikelchens zu Voltaire noch unter Napoleon nachzuschlagen, um dort angelegentlich der Gesprächsthemen bei der Begegnung des Korsen mit dem Weimarer Minister in Erfurt ganz beiwege zu erfahren, daß Goethe den Mahomet des Franzosen übersetzt hat? Man benötigte eine Wünschelrute, die der Verlag aber nicht mitgeliefert hat. Vermutlich aber würde sie auch nicht helfen, etwas zum Viaggio per l'Italia zu finden, der Beschreibung, die Goethes Vater zu seiner Italienreise angefertigt hat, die dem Sohn von Jugend an vertraut gewesen und nicht wenig dazu beigetragen hat, sein Interesse auf das Land zu lenken, "wo die Zitronen blühen". Unter Johann Caspar Goethe Fehlanzeige, ebenso unter den Einträgen Italienische Reise und Italienreisen!

Bekanntlich hat nicht zuletzt Goethes Werben für Die Verlobten des Mailänder Dichters Alessandro Manzoni dafür gesorgt, daß der Roman bald auch in Deutschland begeisterte Leser gefunden hat. Das Lexikon informiert auf gerade neun Zeilen darüber, daß dieses Werk und Manzonis Adelchi Goethe besonders beeindruckt haben. Man kann darüber hinwegsehen, daß sich kein Wort darüber findet, wie wenig die Landsleute des italienischen Dichters seinerzeit mit dieser verquälten Langobarden-Tragödie trotz des patriotischen Inhalts anzufangen wußten. Daß aber Manzonis Ode Il cinque maggio ("Der fünfte Mai") auf den Tod Napoleons nicht erwähnt wird, die Goethe ins Deutsche übersetzt und zu der er sich ausführlich geäußert hat, ist unverzeihlich, auch wenn dieses Gedicht in der mißglückten deutschen Fassung noch abstoßender klingt als im Original, mit dem sich immerhin die Schüler italienischer Lyzeen noch heute plagen müssen.

Wie oft bei diesem Buch Schere und Kleister den Kopf ersetzt haben, verrät ein bibliographisches Detail: Das Lexikon hat laut eingedruckter CIP-Aufnahme der Deutschen Bibliothek, die immer auf den Meldungen des jeweiligen Verlags kurz vor Erscheinen eines Buches beruht, den Untertitel "Alles über Personen, Werke, Orte, Sachen, Begriffe, Alltag und Kurioses ; mit 2200 Artikeln". Man mag das Buch aber drehen und wenden, wie man will, der Untertitel findet sich nirgendwo, und in letzter Minute muß dem Vertrieb eingefallen sein, daß der Zusatz "mit 150 Abbildungen" auf dem Titelblatt verkaufsfördernder sein könnte als die 2200 Artikel.

Zwar wird "alles über Goethe" versprochen, auch zu "seiner Nachwirkung bis heute". Ein Schelm aber, wer bei solcher Vollmundigkeit die Probe aufs Exempel wagt: Ugo Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis gehören ebensowenig zur Werther-Wirkung wie Ulrich Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. im Beat-Jargon. Auch Paul Valérys 1932 in der Sorbonne gehaltene Goethe-Ansprache gehört nicht zur Wirkung. Eine erstaunliche Rede, die sich von den meisten Jubiläumsäußerungen so wohltuend anhob, weil sie kein in sich geschlossenes Bild von Goethe bot, sondern das Proteushafte seiner Natur hervorhob, ihn eben auch für nichts in Anspruch nahm, wie aus Anlaß der Feiern üblich. Eine Rede noch dazu, die zur intellektuellen Brücke der Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen geworden ist und - in der deutschen Übertragung Fritz Usingers, für die der mutige Verleger Karl Rauch trotz des Verbots der nationalsozialistischen Amtsstellen 1942 von Valéry die Rechte erwerben konnte - als solche noch einmal gleichsam in umgekehrter Richtung durch den erst nach Kriegsende ermöglichten Druck gewirkt hat. Eine Rede schließlich, die auch von den Motiven handelt, die Napoleon bewogen haben, die deutschen Schriftsteller, allen voran Goethe, für sich zu gewinnen. War sich der Korse doch, so Valéry, dessen bewußt, daß zwar das Schicksal der Welt in "seinen schönen Händen" lag, das Schicksal seines Nachruhms jedoch abhing von der Bereitschaft weniger Männer von Talent, ihn durch ihre Kunst zu glorifizieren.

Difficile est satiram non scribere, kommt das Lexikon doch nicht aus irgendeinem Verlag, dem man die Schwächen eines eilig auf den Jubiläumsanlaß hin produzierten Buches mit großzügiger Konnivenz allenfalls durchgehen lassen könnte, sondern aus einem Hause, in dem gerade die kritische Edition der Tagebücher des Dichters zu erscheinen begonnen hat. Als "Arbeitgeber von Adelbert von Weislingen" wird der Bischof von Bamberg aus dem Götz vorgestellt. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich so lautet das Lemma, unter dem die Selbstbeurlaubung des weimarischen Ministers nach Italien geschildert wird. (Dabei hätte es durchaus reizvoll sein können, die Flucht aus Weimar unter verwaltungshistorischen Aspekten darzustellen.) Statt dessen bekommen wir nach Richard Friedenthals Biographie, deren Kammerdienerperspektive immerhin den Vorzug einer gewissen Nähe hatte, nun einen Goethe, der sich den Delegierten eines Gewerkschaftskongresses anbiedert.

Dem Islam habe Goethe von Jugend an positiv gegenübergestanden und für die Arbeit am Westöstlichen Divan den Koran herangezogen - im Jahre 1999 gewiß eine nützliche (und überraschende?) Mitteilung für viele Studenten der Literaturwissenschaft, die aber noch um die Information ergänzt wird: "Doch war Goethe kein Moslem." Auch darüber wird man belehrt, daß Ischia eine "italienische Insel vor Neapel" ist, "die Goethe aber nie besucht hat, sondern nur im Vorüberfahren zu Land oder vom Schiff aus malerisch im Meer liegen sah". Sydney, das ist den Bearbeitern entgangen, hat er auch nie besucht, hat die Stadt nicht einmal im Vorüberfahren gesehen, aber dort hat immerhin ein solider Positivist namens Gero von Wilpert gewirkt und mit seinem Goethe-Lexikon[1] ein Werk erarbeitet, das diesen Namen wirklich verdient und das Metzlersche ganz und gar überflüssig macht. Für nur ein paar Mark mehr liefert Wilpert zudem überall noch Hinweise auf weiterführende Literatur. Zur Ermittlung bibliographischer Angaben hat man sich bei Metzler keine Zeit genommen, entschädigt aber unter dem Stichwort Internet mit der Empfehlung, doch, bitteschön, recht eifrig zu 'chatten': "Der Blick ins Netz lohnt sich zumindest für Goethe-Interessierte, die Anschluß an Gleichgesinnte suchen." Für wen aber lohnt sich der Blick in dieses Lexikon? Nur für hartgesottene Zyniker, die noch über unansehnlichsten Trümmern mit jenem tumultuierenden Bauern namens Metzler aus dem Götz in den Ruf ausbrechen mögen: "Hab mein Tag so kein Gaudium gehabt".[2]

Hans-Albrecht Koch


[1]
Goethe-Lexikon / Gero von Wilpert. - Stuttgart : Kröner, 1998. - X, 1227 S. ; 18 cm. - (Kröners Taschenausgabe ; 407). - ISBN 3-520-40701-9 : DM 60.00 [4855]. - Rez.: IFB 98-3/4-243. (zurück)
[2]
Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien in: Frankfurter Allgemeine. - 1999-08-05, S. 42. (zurück)

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