Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Protest!


99-1/4-166
Protest! : Literatur um 1968 ; eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar 9. Mai bis 30. November 1998 / [Ausstellung und Katalog: Ralf Bentz ...]. - Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 1998. - 669 S. : Ill. ; 21 cm. - (Marbacher Kataloge ; 51). - ISBN 3-929146-69-X : DM 40.00
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Als 1977 einer der ersten Sammelbände zum Thema Literatur und Studentenbewegung erschien, kennzeichnete der Herausgeber, W. Martin Lüdke, sein Vorwort als einen im Grunde genommen vergeblichen Versuch, in ein Thema einzuführen, das sich wie kaum ein anderes kurz und bündiger Zusammenfassung entzieht.[1] Dabei resultierten die Probleme weniger aus einer damals mangelnden historischen Distanz zu einem noch unabgeschlossenen Kapitel politischer und literarischer Geschichte. Vielmehr waren es die Schwierigkeiten, einen Gegenstand einzugrenzen, der den überkommenen Begriff von "Literatur" in jeder Hinsicht sprengte. Die Darstellung der Literatur um 1968 fordert gleichermaßen eine Betrachtung der politischen wie der sozialen Historie, der Literatur- wie Mentalitätsgeschichte, der ökonomischen Entwicklung, der Emanzipationsbewegungen u.a.m. Mit anderen Worten: Diesem Thema ist mit traditionellen Analysemethoden und Darstellungsmodellen kaum beizukommen - was zunächst und vor allem bedeutet, es entzieht sich rein chronologischer Betrachtung und Darbietung.

Die Organisatoren der Marbacher Ausstellung Protest! : Literatur um 1968 (und Autoren des dazugehörigen Katalogs) haben aus dieser Einsicht ihre Konsequenzen gezogen. Aufgrund der "Vielschichtigkeit der Studentenbewegung und der mit ihr verbundenen Literatur" seien "Ausstellung und Katalog" ihrer Disposition nach "nicht von einer chronologisch-linearen Abfolge bestimmt" (S. 8). Literaturgeschichte wird hier also nicht im Fluß aufeinanderfolgender Ereignisse präsentiert, sondern in der Art eines Kaleidoskops, das Momentaufnahmen, Konstellationen und Bilder einer Epoche bietet.

Daß dabei eine terra incognita betreten würde - "Als Expedition in bisher unbegangene Zonen möge denn verstanden werden, was sich dem ¯Protest® der Achtundsechziger-Bewegung dreißig Jahre später ablesen läßt" (S. 5) - darf man als Werbung in eigener Sache nehmen. Nicht, daß das Thema schon weitgehend erschlossen wäre, aber es gibt doch eine ganze Reihe ernstzunehmender und äußerst aufschlußreicher Publikationen, die erkennen lassen, daß hier wahrlich kein Neuland mehr zu explorieren ist.[2] Kaum eine der diesbezüglichen Untersuchungen hat jedoch derart aus dem Vollen schöpfen können wie die Marbacher. Sie waren und sind in der glücklichen Lage, einen gewissermaßen privilegierten Zugang zum Thema zu haben, konnten sie doch auf einen eigenen Material-Fundus zurückgreifen, der seinesgleichen sucht. So wurden denn für die Ausstellung vor allem auch die eigenen Archivalien ausgewertet und benutzt: die Archive des März- sowie der literarischen und soziologischen Abteilungen des Luchterhand-Verlages, die Redaktionspapiere der Zeitschrift Kürbiskern, die sog. Vorlässe sowie Sammlungen und Nachlässe (u.a.) von Uwe Friesel, Günter Herburger, Peter Rühmkorf, umfangreiche Zeitungsausschnittssammlungen, Rundfunk- und Fernsehmaterialien, Plakat- und Bildsammlungen.

Den Auftakt zur Ausstellung bildeten bewegte Bilder, die sich über entsprechende technische Apparaturen abrufen ließen. Einen solchen, durchaus plastischeren Eindruck, wie ihn die filmischen Dokumente von den politischen und kulturellen Ereignissen, Auseinandersetzungen, Diskussionen und Debatten jener Jahre vermitteln, vermag ein gedrucktes Werk bei aller Vielzahl reproduzierter Photographien nicht annähernd zu erreichen. (Im Zeitalter hochentwickelter und mittlerweile erschwinglicher Computer-Technologie wünschte man sich freilich, auch das würde einmal in Form einer CD-ROM mitgeliefert.) So bietet der Katalog "nur" das, was sich schwarz auf weiß (oder auch farbig) auf papiernen Seiten fixieren ließ. Das ist freilich alles andere als wenig. Diese mittlerweile 51. Dokumentation Marbacher Jahresausstellungen entfaltet Gegenstände und Fragestellungen in sieben Hauptkapiteln (denen insgesamt 30 Einzeldarstellungen zugeordnet sind). Escalation (S. 11 - 86) ist das erste überschrieben, und in vielerlei Hinsicht bietet es eine Ein- oder besser gesagt: Hinführung zum Thema. In ihm läßt Ulrich Ott noch einmal wesentliche politische und literarische Ereignisse der Jahre zwischen der Ermordung Kennedys und dem Pariser Mai bzw. Prager Frühling Revue passieren. Darauf folgen vier "querschnittsartig[e]" (S. 8) Darstellungen. Die erste, Berliner Gemeinplätze (S. 87 - 180), widmet sich im Verfolg des "Wider- und Zusammenspiel[s]" (S. 8) zwischen Literatur und Studentenbewegung vorrangig der Frage, wieweit die Literatur seinerzeit die politische Entwicklung reflektierte und in welchem Maße sie möglicherweise den Gang der Dinge auch beeinflußte. Das zweite Kapitel Avantgarde und Subkultur (S. 181 - 261) bietet einen Querschnitt aus Politik und Literatur von den Situationisten der 50er Jahre bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygullas ACID. Dem dritten und vierten Querschnitt zwischengeschaltet ist das Kapitel Kunst als Ware in der Bewußtseinsindustrie (S. 262 - 360), in dem die wachsende Politisierung verschiedener Segmente des Kulturlebens (Theater, Buchmarkt und -messen, das Phänomen der Raubdrucke u.a.) veranschaulicht wird. Der postmoderne Impuls (S. 361 - 428) illustriert die Tragweite von Leslie A. Fiedlers Plädoyer für eine Erweiterung des überkommenen Literaturbegriffs. Und das vierte und letzte dieser Hauptkapitel (Re-Visionen, S. 429 - 512) ist, in Fortsetzung bzw. "kontrastive[m] Ringschluß zu den Berliner Gemeinplätzen" (S. 9), den Auswirkungen des studentischen Protests auf die Literatur der 70er Jahre gewidmet. Abgerundet wird dieses polit-kulturelle Panorama von einem Kapitel Emanzipationen (S. 513 - 592), in dem einige der wesentlichen sozialen Veränderungen, wie sie der Studentenaufruhr von 1968 mit sich brachte (Neudefinition der traditionellen Rollenteilung zwischen Frau und Mann, antiautoritäre Verhaltensweisen, Frauenbewegung) und deren Reflexe in der Literatur zur Darstellung gelangen. Beschlossen wird das Ganze durch einen umfangreichen Essay, der gewissermaßen ein vorläufiges Resümee zieht: Helmuth Kiesels Literatur um 1968 : politischer Protest und postmoderner Impuls (S. 593 - 640).

Für Ausstellung und Katalog zeichnen insgesamt fünf Autoren verantwortlich, die unterschiedlichen Generationen angehören. Das bedingt, daß hier kein einheitliches Bild entworfen wird. Ein solches freilich geben weder die Ereignisse selbst her, noch würde es dem Thema zum Guten ausgeschlagen haben. Denn eines der Kennzeichen gerade jener bewegten Jahre war eben auch, daß Inkonsistenz und Widersprüche ein produktives Moment bildeten.

Wenn man dieser Veröffentlichung Solidität bescheinigt, so ist das nicht gleichbedeutend mit vorbehaltlosem Einverständnis. Es sind gewiß mehr als nur vereinzelte Fälle, in denen man sich an den Einschätzungen und Interpretationen der Autoren stößt, bisweilen auch die Kriterien zur Auswahl der Dokumente in Frage stellen möchte. Niemand wird die Bedeutung moderner (Unterhaltungs-)Musik für die Generation von 1968 unter- oder auch nur geringschätzen wollen - doch worin die besondere Bedeutung dieses hilflosen Liebesbriefes Jimi Hendrix' an Uschi Obermaier bestehen soll (vgl. S. 162 - 164), das kommt beim Besucher der Ausstellung bzw. dem Leser dieses Katalogs - um es hier ein wenig salopp zu sagen: - nicht "herüber". Auch dürfte die Gewichtung, die hier einzelnen Themen zuteil wurde, nicht nur Zustimmung finden: der Raubdruck als ein überaus wichtiges intellektuelles "Sozialisations"-medium und -mittel hätte ein wenig mehr Strukturierung und Informationsdichte vertragen.

Das alles benimmt dieser Veröffentlichung freilich kaum etwas - vor allem nicht das große Verdienst, in der literaturgeschichtlichen Darstellung nachahmenswerte Wege beschritten zu haben. Denn das ist diese Publikation vor allem: ein recht unkonventioneller, doch umso stimulierenderer Versuch, Historie (und sei es auch nur in der Form von Literaturgeschichte) nicht in der Absicht darzubieten, ein wie immer geartetes Wesentliches oder "Eigentliches" - womöglich einen neuen Kanon dessen, was man sozusagen "zur Kenntnis zu nehmen hat" - hervorzutreiben, das sich dann gar noch in lineare Darstellungsschemata zwängen läßt. Vielmehr stellt jede Unebenheit, jede Einzelheit und jeder Einzelaspekt, den man in Frage stellen möchte, eine Anregung zum Weiterarbeiten, Weiterdenken, Weiterforschen dar. Und damit treibt diese Veröffentlichung nicht nur "auf sehr eigene Weise Literaturgeschichte" (S. 5), sondern damit - so möchte man wenigstens hoffen - gewinnt sie dem Leser ein wenig von jener Motivation und Neugier zurück, die vom Überangebot und Überfluß an Informationen förmlich erstickt werden.

Momme Brodersen


[1]
Vorwort oder vier vergebliche Anläufe und zwei Korrekturen / W. Martin Lüdke. // In: Literatur und Studentenbewegung : eine Zwischenbilanz / W. Martin Lüdke (Hrsg.). - Opladen : Westdeutscher Verlag, 1977. - (Lesen ; 6), S. 7 - 11. (zurück)
[2]
Im übrigen erkennt das Ulrich Ott auch an, wenn er im Vorwort wenigstens auf zwei grundlegende Veröffentlichungen zum Thema verweist, die letztendlich "wichtige Grundlagen" der eigenen Darstellung abgegeben hätten (S. 8):
Gegenwartsliteratur seit 1968 / hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. - München : Hanser, 1992. - 885 S. - (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart ; 12)
1968 : Literatur in der antiautoritären Bewegung / Klaus Briegleb. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1993. - 407 S. ; Ill. - (Edition Suhrkamp ; 1669 = N.F. 669). (zurück)

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