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Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4

Storia della civiltà letteraria tedesca


99-1/4-162
Storia della civiltà letteraria tedesca / diretta da Marino Freschi. [Collaboratori: Laura Auteri ...]. - Torino : UTET. - 27 cm. - ISBN 88-02-05322-7 : Lit. 280.000
[5587]
Vol. 1. Dalle origini all'età classico-romantica. - 1998. - XX, 537 S. : Ill.
Vol. 2. Ottocento e novecento. - 1998. - XI, 711 S. : Ill.

In seinem Vorwort hebt der Herausgeber Marino Freschi, der an der Universität Roma Tre den Lehrstuhl für deutsche Literatur innehat und heute zu den auch international bekanntesten italienischen Germanisten gehört, die immense Leistung hervor, die in den 60er und 70er Jahren Ladislao Mittner mit seiner mehrbändigen Storia della letteratura tedesca[1] vollbracht hat, einem Werk, das für mehrere Generationen von Forschern, Kritikern und Studenten zum wichtigsten Wegweiser durch die Geschichte der deutschen Literatur geworden ist. Die Reverenz an das Vorgängerwerk ist eine noble und gerechte Geste, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Forschung der letzten Jahrzehnte vieles doch anders zu sehen gelehrt hat, als man es bei Mittner liest, der zuweilen - gutes Recht des Alleinautors natürlich - doch seinen subjektiven Vorlieben und Abneigungen allzusehr nachgab, etwa im Falle Gerhart Hauptmanns.

Neben die geistesgeschichtliche Analyse der Werke, der die italienische Germanistik unter dem Einfluß Benedetto Croces lange und fast ausschließlich gehuldigt hat, haben sich neue Fragen gedrängt, die dem Verhältnis der Literatur zu anderen Bereichen gelten, als deren Inbegriff sich der im Titel verwendete Ausdruck "civiltà letteraria" vorzüglich eignet. Dazu gehören Themen wie die folgenden: Städtische und literarische Kultur im mehrsprachigen Umfeld (z.B. in Prag), Autorenvereinigungen von den barocken Sprachgesellschaften bis zum Grazer Forum, Tendenzen literarischer Regionalisierung und Gegenbewegungen dazu (z.B. in der Anti-Heimatliteratur), Literaten als Helfer und Gegner der Diktaturen usw.

In zahlreichen Studien hat sich der Herausgeber in die erwähnten neuen Fragen selbst eingeschaltet: Als man in Deutschland Adolph Freiherrn Knigge noch für nichts als den Autor eines vermeintlichen "Benimmbuches" hielt, verfaßte Freschi bereits eine Monographie über den politischen Knigge; in Triest, einer Stadt der Kontakte mehrerer Kulturen, geboren, hat Freschi für die Osmose deutscher und slawischer Kultur im Prag Kafkas einen so geschärften Blick entwickelt, wie ihn unter den Italienern zuvor nur Giani Stuparich gehabt hat, der 1915 mit seinem Buch La nazione ceca in Italien einen bis dahin unbekannten Bereich des mitteleuropäischen Geisteslebens bekanntgemacht hatte; und eines seiner jüngsten Bücher gilt der Literatur bzw. Un-Literatur im Dritten Reich. Man merkt dem Konzept der neuen Literaturgeschichte an, wie sehr der Herausgeber durch eigene Forschungen mit den jeweils spezifischen Problemen der verschiedenen Epochen vertraut ist.

Der Periodisierung ist ganz pragmatisch folgende Einteilung in sechs Abschnitte zugrundegelegt: 1. Von den Anfängen bis zur Reformation; 2. Reformation, Humanismus, Barock; 3. Von der Aufklärung zur klassisch-romantischen Epoche; 4. 19. Jahrhundert; 5. Frühes 20. Jahrhundert; 6. Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (also die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das italienische "secondo novecento" läßt sich wörtlich nicht übersetzen).

Die weitere Untergliederung in Kapitel verfeinert teils die chronologische Einteilung, teils dient sie zur Aufnahme spezieller Themen: So ist z.B. der Philosophie des Idealismus ein eigenes Kapitel gewidmet - eine der glücklich angelegten Verknüpfungen mit nicht unmittelbar zur Literatur gehörenden Bereichen, deren Kenntnis gleichwohl zu deren angemessenem Verständnis unentbehrlich ist. Indem aufeinanderfolgen (1.) das im engeren Sinne literaturgeschichtliche Kapitel zur Romantik von Emilia Fiandra, die es vorzüglich versteht, die Zusammenfassung der Texte mit Interpretationen, biographischen und sozialgeschichtlichen Aspekten zu verbinden bzw. sie vor den Augen des Lesers auseinander zu entwickeln, und (2.) die luzide Einführung in den Idealismus aus der Feder des Hegel-Forschers Valerio Verra, werden die ganz spezifischen Konturen beider Gegenstände, der Literatur und der Philosophie, sichtbar. Zugleich wird aber auch ein überzeugendes Bild von ihrer engen Verschränkung als einem wesentlichen Merkmal der deutschen Romantik entfaltet. Für italienische Studenten ist dies alles um so wichtiger, als sie aus der Kenntnis ihrer muttersprachlichen Literatur ein (von dem Dichter Alessandro Manzoni geprägtes) Verständnis der Romantik mitbringen, das dem Facettenreichtum der mit diesem Wort bezeichneten deutschen Literatur nicht gerecht wird, zumal wesentliche Autoren der deutschen Romantik in Italien erst relativ spät im 19. Jahrhundert - vor allem durch die Scapigliati - rezipiert wurden, als der Begriff durch Manzoni bereits bestimmt war. Auch ein so exzentrischer Text wie der "Anti-Roman" der Nachtwachen des Bonaventura ist nur zu verstehen, wenn man die darin enthaltene Kritik an den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen des frühromantischen Subjektivismus erkennt. Zu Recht widmet die Verfasserin der Hauptgestalt Kreuzgang als dem Träger ironischer Parodie romantischer Gefühlsschwärmerei großen Raum. Zu vorsichtig noch ist sie bei der Verfasserfrage; denn inzwischen ist der brillante Indizienbeweis, mit dem Jost Schillemeit 1973 den Braunschweiger Theaterleiter August Klingemann als Autor ausgemacht hat, durch die in Amsterdam aufgetauchten und von Ruth Haag veröffentlichten[2] Briefe Klingemanns auch durch Dokumente erhärtet.

Analoge Funktionen wie das Idealismus-Kapitel erfüllt für das Verständnis der irrationalen Züge der literarischen Moderne im allgemeinen oder der Problematik des Vitalismus im besonderen - dessen zentrale Bedeutung für G. Hauptmann E. Fiandra mehrfach betont - die ausführliche Darstellung Nietzsches und des "nietzscheanesimo", die der bekannte Nietzsche-Forscher Aldo Venturelli geschrieben hat.

In der Feingliederung der Kapitel hat der Herausgeber den Autoren große Freiheit gelassen. Während Roberto de Pol das 17. Jahrhundert in der Folge der Gattungen abhandelt, wechseln in Antonio Pasinatos Darstellung der Epoche von Restauration, Biedermeier und Vormärz Abschnitte zu einzelnen Autoren mit solchen zu Genres wie der Dorfgeschichte oder zu Problemen, z.B. zu den Spiegelungen der nationalen oder sozialen Frage in der Lyrik und in der Prosa. Mehrfach wählt Pasinato Überschriften wie "Heine und die nationale Frage" oder "Heine und die politische Lyrik". Darin liegt überhaupt ein großer Vorzug des neuen Werks, daß es sich nicht scheut, in entschiedener Wertung die herausragenden Autoren auch als solche zu benennen, sie zugleich aber auch exemplarisch zum Referenzpunkt für die Klärung allgemeiner und übergreifender Themen zu machen.

Das Werk wird eröffnet mit einem souveränen Überblick von 150 Seiten zur mittelalterlichen deutschen Literatur, den die als Übersetzerin deutscher Literatur dieser Epoche, aber auch als Romanautorin hervorgetretene Mediävistin Laura Mancinelli verfaßt hat. Die Gewichte sind vortrefflich verteilt zwischen eher panoramahaften und sehr detaillierten Passagen, vor allem zu einzelnen Werken. Mit bewundernswertem didaktischem Geschick führt Mancinelli den Leser im Abschnitt zum Nibelungenlied fast unmerklich hin und her zwischen Nacherzählung und gattungsästhetischen Problemen, zwischen Einführung in das historische und historisierend dargebotene Sujet und den Deutungen der Forschung; so nimmt sie z.B. einen schönen Einfall des so früh verstorbenen großen Philologen Giorgio Dolfini in ihre Interpretation auf, der die Überquerung des Rheins durch die Burgunder als symbolischen Wechsel aus dem Reich der Lebenden in das der Toten gedeutet und in der Gestalt des Anführers Hagen eine Art Charon der Verstorbenen gesehen und damit die tragische Dimension dieses Epos benannt hat.

Wo Mancinelli, zwar eher beiläufig, von Hartmanns Iwein handelt, sähe man gern ein oder zwei Abbildungen aus dem Freskenzyklus von etwa 1205, den Nicol• Rasmo 1972 in der Burg Rodenegg bei Brixen entdeckt hat und der als geschlossene Komposition über vier Wände eines zu ebener Erde gelegenen kleinen Saals Szenen zur ersten Abenteuerrunde bis zum Bund mit Laudine umfaßt. Enthalten doch beide Bände mehrere zwischengeschaltete Bildstrecken mit vorzüglich ausgewählten Beispielen für illuminierte Handschriften, Titelblätter, Autorenporträts, Kupferstichillustrationen, Theaterinszenierungen usw.

Für die österreichische Literatur der Moderne hat der Herausgeber mit Wendelin Schmidt-Dengler einen der besten Kenner gewonnen, dessen Texte von Matilde de Pasquale in ein schönes Italienisch übersetzt worden sind. Das persönliche Profil zeigt sich in Schmidt-Denglers Beiträgen nicht nur in den Akzenten, sondern zuweilen auch in den Auslassungen: Daß - selbst in einem Abschnitt, der L'addio agli Asburgo überschrieben ist - aus Hofmannsthals operndramatischem Schaffen weder der Rosenkavalier noch die Arabella erwähnt werden, verblüfft angesichts der Tatsache, daß dieser Autor auf der Bühne vor allem durch die von Richard Strauss vertonten Werke lebendig geblieben ist.

Dabei wird den Beziehungen zwischen Literatur und Musik - gewiß auch dies eine versteckte Hommage an Mittner, der in Bezug auf diese Schwesterkunst der Poesie ähnlich verfahren war - besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Schmuckstück wie Orazio Mulas etwa 80seitiger Essay Il rapporto col testo nella muscia tedesca da Haydn alla dissoluzione della tonalità findet sich in keiner der im deutschen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten erschienenen Literaturgeschichten. Unnötig zu betonen, daß in diesem Kontext auch Richard Wagners Bedeutung für die Literatur angemessen gewürdigt wird.

Mit der für die Rezension getroffenen Auswahl der Belegbeispiele geschieht anderen Beiträgen des Werks Unrecht. Vieles wäre noch hervorzuheben, etwa die gründliche Berücksichtigung der frühaufklärerischen Lehrdichtung durch Stefan Nienhaus oder im Beitrag von Luca Crescenzi die geschickte Präsentation des wegen seiner schwierigen und anspielungsreichen Diktion so gern übergangenen Johann Georg Hamann, von dem Goethe 1774 zu Lavater bekannte, er habe von niemandem soviel gelernt wie von Hamann, und den er noch im Alter gesprächsweise gegenüber dem Kanzler Müller als den "hellsten Kopf" seiner Epoche bezeichnete. Noch nicht in den Blick genommen (auch in der Bibliographie Bd. 1, S. 357 - 358 wird das Werk nicht erwähnt) sind die Ergebnisse des großangelegten annalistischen Quellenrepertoriums Bibliographia dramatica et dramaticorum von Reinhart Meyer,[3] die im Hinblick auf das Theater unsere geläufigen Vorstellungen vom 18. Jahrhundert auf den Kopf stellen: nicht Gottsched oder sein Kontrahent Lessing waren die meistgespielten Autoren auf deutschen Bühnen, sondern - hier wirkt sich allein schon in der Statistik das gegenüber dem protestantischen Norden viel regere Theaterlebens im katholischen Süden aus - mit großem Abstand vor allen anderen der Italiener Pietro Metastasio: Welch hübscher Treppenwitz, daß diese Entdeckung einem deutschen Germanisten zu danken ist.

Wenigstens erwähnt seien noch der gründliche Beitrag von Annette Berndt zum Hörspiel und der abschließende Überblick, den Pier Carlo Bontempelli zur Geschichte der Germanistik von 1800 bis 1990 bietet. Sehr richtig bezieht der Verfasser dort die sogenannte werkimmanente Interpretation der Nachkriegszeit auf ihren internationalen Kontext, während in deutschen Publikationen diese Methode zuweilen noch als eine bewußte politische Enthaltsamkeit der Nachkriegsgermanistik mißdeutet wird. Bontempellis Skizze endet freilich gerade dort, wo künftige germanistische Zeitgeschichte noch viel genauer hinschauen muß: Nach 1990 ist am Skandal um den Aachener Germanisten und Hochschulrektor Hans Schwerte alias SS-Offizier Hans-Ernst Schneider und an den Dokumenten zur Drangsalierung der Greifswalder Germanistin Hildegard Emmel durch die DDR-Germanistik-Funktionäre Helmut Holtzbauer und Hans-Jürgen Geerdts erkennbar geworden, wieviel deutsche Vergangenheit im Fach noch aufzuarbeiten ist. Nach dem ersten Exil in der Türkei, wo die Wissenschaftlerin Zuflucht vor den Nationalsozialisten fand, mußte sie nach der Mitarbeit am Goethe-Wörterbuch und einer Dozentur in Greifswald ein zweites Mal emigrieren, ehe sie schließlich in den USA eine Anstellung fand und ihre große Geschichte des deutschen Romans (1972 - 1978) schrieb.

Da man dem von Freschi herausgegebenen opus magnum mit ziemlicher Gewißheit weitere Auflagen prognostizieren kann, sei ein kleiner Wunschzettel angehängt: Ganz oben steht ein vergleichbar schöner Essay zum Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst, wie ihn Mula für die Musik geschrieben hat. Ein wenig Vereinheitlichung vertrügen die bibliographischen Anhänge zu den einzelnen Abschnitten. Sie variieren formal von eher knappen Kurztiteln bis zu fast vollständigen Titelaufnahmen, wie sie Crescenzi dem Abschnitt zur Goethezeit beigibt. Die Bibliographien konzentrieren sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen, wo Editionen zitiert sind - auf die Forschungsliteratur. Mit Blick auf den primären Adressatenkreis sind italienische Publikationen besonders ausführlich berücksichtigt, doch werden überall auch Hinweise auf einschlägige Arbeiten in deutscher oder auch anderen Sprachen hinzugefügt. Selten einmal scheinen ganz wesentliche Titel übersehen.[4]

Natürlich ist das Werk für italienische Leser geschrieben. Das rechtfertigt auch die vom Herausgeber explizit begründete Entscheidung, aus der großen Zahl der Schriftsteller - vor allem für die Gegenwartsliteratur - statt eines bloßen name dropping solche Autoren ausführlicher zu behandeln, deren Werke in italienischer Übersetzung vorliegen. So mag man unter den Lyrikern Elisabeth Borchers oder Durs Grünbein noch vermissen, unter den Erzählern etwa auch W. G. Sebald. Solche Dinge sind in ständigem Fluß. Dagegen steht fest, daß diese Literaturgeschichte wegen ihres Informationsgehalts und ihrer gelungenen Anlage - die einzelnen Teile sind besser verbunden, als dies in Sammelwerken mehrerer Verfasser üblich ist, zugleich aber wird durch den essayistischen Stil der Beiträge die Ödnis des Handbuchwissens vermieden - für kommende Studentengenerationen in Italien die würdige Nachfolge des Mittner antreten wird. Grund genug, sie der Aufmerksamkeit auch der deutschen Germanistik nachhaltig zu empfehlen.

Gabriella Rovagnati


[1]
Storia della letteratura tedesca / Ladislaus Mittner. - Torino : Einaudi. - (Manuali di letteratura, filologia e linguistica ; 1). - [1] (1977); [2] (1964); [3] (1971),1 - 2. (zurück)
[2]
Euphorion. - 81 (1987), S. 286 - 297. (zurück)
[3]
S.u. IFB 99-1/4-277. (zurück)
[4]
Nachzutragen wären (Bd. 1, S. 436) die Goethestudien von Albrecht Schöne Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. - 3. Aufl. - München : Beck, 1993 und (Bd. 2, S. 594) die erweiterte Neuausgabe der Kleinen Literaturgeschichte der DDR von Wolfgang Emmerich. - Leipzig, 1996. (zurück)

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