Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Aby-M.-Warburg-Bibliographie 1866 bis 1995


99-1/4-131
Aby-M.-Warburg-Bibliographie 1866 bis 1995 : Werk und Wirkung ; mit Annotationen / Dieter Wuttke. - Baden-Baden : Koerner, 1998. - XXIV, 511 S. ; 25 cm. - (Bibliotheca bibliographica Aureliana ; 163). - ISBN 3-87320-163-1 : DM 200.00
[5257]

Wuttkes Bibliographie der Schriften von und über Aby M. Warburg (1866 - 1929) - einen der bedeutendsten Kulturwissenschaftler unseres Jahrhunderts, Stifter und Leiter der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die sich besonders dem Nachleben der Antike und der Ikonographie widmet - verzeichnet in Abteilung A die Drucke (S. 1 - 368) chronologisch und innerhalb eines Jahres im Verfasseralphabet: eine Gliederungsweise, die man zu Recht gerne anwendet, um die Wirkungsgeschichte eines Autors, etwa Rezeptionsschübe und Renaissancen, zu dokumentieren. "Welche Arbeiten Warburgs wurden häufig, welche wenig, welche gar nicht rezipiert? Welche Folgen ergeben sich daraus für unser Warburg-Bild?" (S. XVII): Zur Beantwortung solcher Fragen wird man die vorliegende Bibliographie gerne nutzen. Problematisch erscheint jedoch die Entscheidung des Bibliographen, Warburgs Oeuvre "in die Jahresringe an die ihnen zukommende Stelle des Alphabets [einzufügen], um die historischen Zusammenhänge sichtbar zu erhalten und zu zeigen, wie seit 1902 das Werk von der Wirkung überwölbt und seit seinem Ableben am 26. Oktober 1926 [Rez. meint 1929!] oftmals geradezu verzehrt wird" (S. XV). Aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht mag der 'kompositorische' Reiz dieses Gliederungsverfahrens willkommen sein, unter pragmatischem Aspekt hätte man jedoch eine Trennung der Primärliteratur von der Sekundärliteratur bevorzugt. In Sammelbänden erschienene Beiträge sind nicht alphabetisch eingefügt, sondern dem jeweiligen Sammelband nachgestellt, und zwar der Ordnung im Sammelband folgend (Nr. 2753 - 2778). Der Berichtszeitraum der Bibliographie reicht von 1866 - dem Jahr des frühesten erhaltenen Archiv-Dokuments, Warburgs Geburtsurkunde (!) - bis 1995, einem eher willkürlich gesetzten Endpunkt ("Jetzt, oder nie mehr...", S. XIX; doch erste unermüdliche Addenda für die Jahre 1996 bis 1998 befinden sich bereits in der Einleitung, S. XIX - XXII).[1]

Das Spektrum der hier verzeichneten Literatur, Aby M. Warburg wie auch seine Bibliothek betreffend, mit insgesamt 3102 Nummern zuzüglich 82 a-Nummern, ist beachtlich: Es reicht von grundlegenden ikonographischen und ikonologischen Studien, Nachrufen auf Warburg, Berichten über die Verlegung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg von Hamburg nach London (z.B. Nr. 715) über sämtliche Literatur zu 'Warburgianern' wie Erwin Panofsky oder Fritz Saxl bis zum Artikel über Planeten im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (Nr. 809), einem Beitrag über Spezialbibliotheken in Georg Leyhs Handbuch der Bibliothekswissenschaft (Nr. 1096), zu Artikeln in Kürschners deutschen Gelehrtenkalender 1931 (Nr. 678), in Enzyklopädien wie Grote Winkler Prins (Nr. 1526), Erwähnungen in Werner Steins Kulturfahrplan, sogar Eintragungen im Vorlesungsverzeichnis der Universität Bamberg (Dozent: Wuttke, Nr. 2990) und Anzeigen in Verlagskatalogen (Nr. 3022). Auch verschiedene Ausgaben und Übersetzungen einzelner Werke wie von Ernst Robert Curtius' Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter werden aufgeführt. Häufig fehlen bei den Übersetzungen jedoch die Hinweise auf das Original (z.B. Nr. 2707a, Eugenio Garin, das Original ist als Nr. 1595 verzeichnet). Der Band berücksichtigt die maschinenschriftliche Magisterarbeit (Nr. 2313) ebenso wie den Rundfunkbeitrag (Nr. 2577) und enthält sogar die Dissertation der jüngsten Tochter Aby M. Warburgs, Frede Warburg (Nr. 823).

Die Bibliographie, die leider grundsätzlich keine Verlage angibt, ist eine wahre Fundgrube für die ikonographische Forschung, Spiegel der Beziehungen und des Umfelds von Warburg (z.B. Nr. 115) und liest sich wie ein Adreßbuch ausgewiesener Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts: Theodor W. Adorno, Rudolf Arnheim, Erich Auerbach, Walter Benjamin, Jan Bialostocki, Hans Blumenberg, Jacob Burckhardt, Peter Burke, Ernst Cassirer, Benedetto Croce, Ernst Robert Curtius, Ernst H. Gombrich,[2] William S. Heckscher, Gustav René Hocke, Johan Huizinga, Raymond Klibansky, Siegfried Kracauer, Susanne K. Langer, Friedrich Ohly, Erwin Panofsky, Mario Praz, Fritz Saxl, Jean Seznec, Edgar Wind, Rudolf Wittkower, Heinrich Wölfflin und Frances Amelia Yates. Auch Schriftsteller wie Stefan Zweig oder Günter Grass mit Unkenrufe (Nr. 2801) sind vertreten. Aufgrund der detaillierten und akribischen Bestandsaufnahme kann man die vorliegende Bibliographie sogar tendenziell als Zitierindex bezeichnen.

Über weite Strecken darf man die Bibliographie als annotierend, ja räsonnierend bezeichnen. Ein diesem Bibliographietypus eignendes Paradoxon begegnet auch hier: umfangreiche Studien sind oft nicht, kurze Hinweise auf Warburg hingegen meist mit Seitenangabe annotiert. Die Annotationen enthalten u.a. aussagekräftige Zitate aus den verzeichneten Veröffentlichungen, Hinweise auf Bezugnahmen auf Warburg und 'Anknüpfungen' (z.B. Nr. 901, 902), engagierte und überaus kräftige Kritik (z.B. Nr. 1406 über Hans Robert Jauss: "zur 'Warburg-Schule' Unsinniges" oder Nr. 2704: "Diss., in der Kunstgeschichtswissenschaft durch Formen von Beliebigkeit ersetzt ist"), auch Desiderata der Warburg-Forschung (z.B. das Verhältnis Huizinga - Warburg, Nr. 1009). Bei einigen Eintragungen, die nicht annotiert sind, wird der Kontext, der zu einer Aufnahme des jeweiligen Beitrages in die Bibliographie geführt hat, nicht ohne weiteres ersichtlich (z.B. Nr. 2493).

Abteilung B des Bandes, Archivmaterial (S. 369 - 424), gibt ein Kurzinventar des Warburg Institute in London (S. 385 - 416), führt zahlreiche weitere Fundorte auf, etwa zu Briefen, enthält u.a. auch den handschriftlichen Vorschlag zur Wahl Warburgs zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (S. 376) oder 74 Objekte, die Warburg auf seiner Expedition zu den Pueblo-Indianern sammelte (Hamburgisches Museum für Völkerkunde, S. 379).

Erschlossen wird die Bibliographie mit Hilfe zweier Register von Reiner Reisinger, einem Autorenregister (S. 427 - 461) und einem Register Namen und Sachen (S. 462 - 511). Das Autorenregister erfaßt Autoren, Herausgeber (einschließlich der institutionellen), Mitarbeiter, Übersetzer und ebenso bildende Künstler als Schöpfer nicht-literarischer Werke (S. 426). Das Sachregister läßt die Intentionen seines Verfassers nicht so recht erkennen und ist auch nicht immer leicht zu benutzen: Welche Registereinträge sind einfach, welche komplex, beispielsweise dem Registereintrag Warburg, Aby M. nachgeordnet? Welche res gelangen ins Sachregister, welche nicht? Zwar werden zentrale Termini Warburgianischer Kulturdeutung (Antike, Astrologie, Bewegtes Beiwerk, Pathosformel, Renaissance, Symbol), angeführt, ebenso ein wichtiges Element Warburgianischer Idiomatik (Der liebe Gott steckt im Detail), selbst der von Panofsky so brillant gedeutete Rolls-Royce-Kühler und auch die Fußnote. Leider fehlen aber z. B. das Ephemere (Nr. 2863), Leidschatz (Nr. 3035), Problembibliothek (Nr. 2709) und Schwingung (Nr. 2743). Wenn also in der Kulisse des Registers ein auf Warburgiana bezogener Thesaurus bereitgehalten worden ist, so werden dessen Selektionsverfahren, Aufbau und Zuschnitt nicht transparent.

Wuttke nutzt seine gut redigierte Bibliographie[3] auch, um den Verlust der Führungsrolle Warburgs und der 'Warburg-Schule' für die Kunstgeschichtswissenschaft zu bedauern: "Die zukunftsweisenden, substanzwahrenden Teile des Faches haben sich anscheinend in die Bauforschung, die Denkmalpflege, die Architekturgeschichte, die Museumsarbeit, die Werkstätten der Restauratoren, die Kunstpädagogik oder in die Beständigkeit der Facharbeit der 'Stillen im Lande' sowie einiger Institutionen und sogenannter kleiner Nationen wie die der Niederländer und Schweden zurückgezogen" (S. XII - XIII). Den Verfasser erfreut es jedoch, daß die angemahnten Defizite in der Kunstgeschichtswissenschaft durch erfolgversprechende Entwicklungen in anderen Kulturwissenschaften kompensiert werden (S. XIII).

Wuttkes Band stellt eine wohl einzigartig "mikrologisch angelegte Wirkungsbibliographie" (S. XV) dar, eine Bibliographie eines Gelehrten über einen Gelehrten, wie man sie gelegentlich bereits ausgestorben wähnte, die beste Personalbibliographie, die der Rezensent seit langem in der Hand hält. Wenn man auch den idealen Benutzer für diesen Band, denjenigen, "der sie durchliest" (S. XVIII), nur selten finden dürfte, so gehört die vorliegende Bibliographie doch in jede wissenschaftliche Bibliothek, im Falle systematischer Aufstellung im übrigen eher in einem trans- und interdisziplinären Bereich 'Kulturwissenschaften' anzusiedeln als bei der Kunstgeschichte. Im Bibliographieunterricht mag sie zudem als Exempel einer gelungenen Personalbibliographie dienen. Überdies könnte der Band daran erinnern, daß Bibliotheken mehr sein sollten als Orte betriebswirtschaftlich organisierter Verwaltungs- und Dienstleistungstätigkeit.

Werner Bies


[1]
Weitere Addenda lassen sich nachreichen: Philo-Lexikon : Handbuch des jüdischen Wissens. - 4., verm. und verb. Aufl. - Berlin : Philo-Verlag, 1937. - Enciclopedia judaica castellana. - México : Editorial Enciclopedia Judaica Castellana. - T. 10 (1951). - Beide Fundstellen zitiert nach Jüdisches biographisches Archiv (Rez.: IFB 99-B09-056). - "Gott an hat ein Gewand" : Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart / Christoph Jamme. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 11, 125, 126, 267. - Carl Landauers Rezension in The American Scholar. - 61 (1992), S. 456, 458 - 460 zu Cassirer, Panofsky, and Warburg : symbol, art, and history / Silvia Ferretti. - New Haven [u.a.] : Yale University Press, 1989.
Vgl. auch die Sammelrezension von Roland Kany von neuen Ausgaben der Schriften Warburgs - darunter der im Akademie-Verlag (mit einem Nachdruck der 1932 einzig erschienenen Bände einer nicht weitergeführten Edition) begonnenen Studienausgabe seiner Gesammelten Schriften - sowie von Publikationen über Warburg, darunter die vorliegende Bibliographie in Frankfurter Allgemeine. - 99-03-11, S. 54. - Der Akademie-Verlag publiziert auch Schriften von anderen Gelehrten aus dem Warburg-Kreis, wie den weiter unten genannten Erwin Panofsky und Edgar Wind. (zurück)
[2]
Zu dem Vortrag über Warburg, den der neunzigjährige Gombrich Ende Oktober 1999 in London gehalten hat und "der ebensosehr Aufschluß über ihn gegeben (hat), wie über Warburgs Ziele und Methoden" vgl. den Bericht von Gina Thomas in Frankfurter Allgemeine. - 99-10-29, S. 41. [sh] (zurück)
[3]
Jedoch: Nr. 1005: lies University statt Universtiy; Nr. 1622: lies Philosophie statt Philosopie; Nr. 2667: lies médiéval statt médièval). Der Untertitel von Knowledge Organization (Nr. 3040) lautet nicht International Journal, sondern International Journal Devoted to Concept Theory, Classification, Indexing, and Knowledge Representation. (zurück)

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