Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Geschichte des deutschen Buchhandels


99-1/4-104
Geschichte des deutschen Buchhandels / Reinhard Wittmann. - Durchges. und erw. Aufl. - München : Beck, 1999. - 493 S. ; 19 cm. - (Beck'sche Reihe ; 1304). - ISBN 3-406-42104-0 : DM 26.00
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Reinhard Wittmanns konkurrenzloser "Überblick" zur Geschichte des deutschen Buchhandels liegt nun endlich auch in einer preiswerten Taschenbuchausgabe vor. Das Werk ist aus Vorlesungen an der Universität München hervorgegangen und bewahrt deren ebenso eloquente wie pointierte Redeform. Lediglich Wittmanns notorisches Faible für ausgedehnte statistische Zahlenspielereien stört mitunter den Lesefluß. Wie im Vorwort erläutert, strebt der Verfasser keine historische Gesamtschau des Buchhandels, sondern einen Überblick zur Genese und Entwicklung des literarischen Buchhandels in Deutschland an. Dies hat zur Folge, daß sich die Schwerpunkte der Darstellung in die Zeit nach 1750 verlagern. Hierzu kann Wittmann auf den großen Fundus seiner eigenen Arbeiten aus den siebziger und frühen achtziger Jahren zu den Umwälzungen in der Organisation des Buchhandels, zur Emanzipation des Schriftstellers, zur segensreichen Förderung der Literatur durch den Nachdruck, zur historischen Leserforschung und zur Rolle der Leihbibliotheken im literarischen Vermittlungsprozeß zurückgreifen, deren Ergebnisse indessen allmählich zu altern beginnen. Manches von dem, was Wittmann in der 1. Aufl. von 1991 für unerforscht angesehen hat, ist inzwischen durch die Öffnung und andauernde intensive Nutzung der Archive in der ehemaligen DDR und nicht zuletzt durch die rege Publikationstätigkeit des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens beträchtlich aufgehellt worden.

Dem Charakter der Vorlesung entspricht es, daß nicht wenige Aussagen ohne Beleg bleiben und vieles aus zweiter Hand zitiert wird. Die Longseller-Liste aus dem Jahre 1938 etwa, die "jene Werke verzeichnet, die bis zu diesem Datum (...) Auflagen von mehr als einer halben Million Exemplaren erreicht" haben (S. 378) und die Wittmann nach einer Dissertation von 1981 reproduziert, ist indessen nur ein Auszug aus einer Statistik, die Horst Kliemann für das bekannte Propaganda-Buch Die Welt des Buches (Ebenhausen bei München 1938) zusammengetragen hat.

Unerfindlich bleibt es auch, warum Wittmann bei der Analyse des unruhigen und bedrängten Buchmarkts des 17. Jahrhunderts am Zahlenwerk der Meßkataloge festhält. Von den heute überlieferten Drucken des 17. Jahrhunderts verzeichnen die Meßkataloge höchstens ein Drittel. Wie Peter Düsterdieck überdies in einer bibliographischen Studie[1] gezeigt hat, sind von den Novitäten lediglich fünfzig Prozent tatsächlich im Jahr der Anzeige erschienen. Das reduziert den Quellenwert der Meßkataloge auf das Niveau der heute zur Frankfurter Buchmesse erscheinenden beiden Sondernummern des Börsenblatts. Es verbietet sich daher von selbst, für das Jahr 1641 nur etwa 660 Neuerscheinungen und für das Jahr 1740 nicht mehr als 750 Novitäten anzusetzen, es sei denn, man geht davon aus, daß in den beiden Jahren zwei Drittel aller Handpressen im Alten Reich stillgestanden haben. Wittmann weist zwar den Leser auf die Arbeit von Düsterdieck hin, zieht aber aus der Lektüre keine Konsequenzen.

Bibliogenetisch betrachtet ist die Taschenbuchausgabe eine 'Umschußauflage' (M. Boghardt). Der digitalisierte Text von 1991 ist in das kleinere Kolumnenformat der Paperbackreihe umgegossen worden. Die der Orientierung des Lesers dienenden lebenden Kolumnentitel sind wie die markanten klassischen Kapitelinitialen weggefallen. Es empfiehlt sich, das Inhaltsverzeichnis zu kopieren, wenn man nicht bei dauerndem Zurückblättern den Titelbogen binnen kurzem zerfleddern will. Wer den Untertitel von 1991 ("Ein Überblick"), der in der CIP-Aufnahme für die neue Auflage noch als Titelanhängsel ("im Überblick") vorhanden war, entfernt hat, entzieht sich unserer Kenntnis.

In das Schlußkapitel hat Wittmann, gestützt auf die jüngste Forschungsliteratur, einen präzisen Abriß des Buchhandels und der Kulturpolitik in der DDR sowie deren Folgen nach der Wende eingefügt. Die in den neuen Textpartien auftauchenden Namen sind nicht in das Register aufgenommen worden, das ohnehin einige Unebenheiten aufweist. E. R. Weiß und T'sai Lun stehen jetzt am richtigen alphabetischen Ort, nicht aber Hans Baldung Grien. Die orthographischen Schwankungen zwischen Text und Register (Behlke/Belke, Welcke/Welke, Kirchhoff/Kirchhof) sind nicht bereinigt worden. Der Urahn Carl Bertelsmann findet sich unter dem Dach des heutigen Verlags C. Bertelsmann wieder. Der Peter-Hammer-Verlag ist aus dem Register herausgefallen, da Wittmann seine abschätzige Äußerung über das Unternehmen im Text getilgt hat. Dem Verleger Florian Tilebier-Langenscheidt (S. 468, Fußn. 53) ist leider ein Dehmungs-e abhanden gekommen. Die aus der ersten Auflage übernommene Zeittafel ist offenbar nicht "durchgesehen" worden: Der unselige Moritz Friedrich Illig hat nicht die "maschinelle Papierleimung" erfunden, sondern die Masseleimung. Eine willkommene Zugabe ist hingegen die neue Auswahl wichtiger Publikationen der Jahre 1991 - 1997, in der sich auch Arbeiten aus dem Zeitraum von 1985 - 1990 finden.

Auf dem Weg zum Taschenbuch ist das ansehnliche Umschlagbild auf das Format einer Sonderbriefmarke geschrumpft, und der zuständige Designer hat es sich nicht nehmen lassen, es mit den emblematischen Balken der Beck'schen Reihe zu überdrucken. Kurioserweise glauben Verfasser und Verlag noch immer daran, es zeige das Interieur einer Amsterdamer Buchhandlung. Die Reihen der Prachteinbände im Hintergrund, die soeben zum Binden angelieferten Konvolute auf der Theke und die im Raum verteilten Arbeitsgeräte lassen indessen keinen Zweifel daran aufkommen, daß wir in den Laden eines Buchbinders blicken.

Ein auffälliger, pessimistischer Grundton hat sich in Wittmanns Aussagen zur Zukunft des gedruckten Buches eingeschlichen. Heißt es 1991 noch: "Das Buch ist im Begriff, [seine] Funktion als kulturelles Leitmedium zu verlieren, sie an die audiovisuellen Medien abzutreten" (S. 396), so lesen wir jetzt: "Das Buch hat inzwischen seine Funktion als Leitmedium weitgehend an die audiovisuellen Medien abgegeben" (S. 446). Als Prognostiker ist Wittmann jedoch nicht gerade vom Glück begünstigt. Den Verzicht auf ein umfassendes Literaturverzeichnnis begründet er 1991 mit dem Diktum, die im Erscheinen begriffene Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840 - 1980 biete "darüber hinausgehende erschöpfende Information" (S. 9). Die Leser der IFB wissen inzwischen, daß diese Annahme ein Trugschluß gewesen ist. Im Vorwort zur Taschenbuchausgabe vom Oktober 1998 zeigt Wittmann sich noch davon überzeugt, der "erste Band der großen Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert" werde "in Bälde" erscheinen (S. 11). So wie die Dinge jetzt stehen, wird das seit sechzehn Jahren in Vorbereitung befindliche Opus in diesem Jahrhundert nicht mehr das Licht der Öffentlichkeit erblicken.

Horst Meyer


[1]
Archiv für Geschichte des Buchwesens. - 14 (1974). (zurück)

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