Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
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Enzyklopädie des Nationalsozialismus


98-3/4-315
Enzyklopädie des Nationalsozialismus / hrsg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß. - Stuttgart : Klett-Cotta, 1997. - VIII, 900 S. : Ill., graph. Darst., Kt. ; 24 cm. - ISBN 3-608-91805-1 : DM 98.00[1]
[4451]
98-3/4-316
Enzyklopädie des Nationalsozialismus / hrsg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß. - München : Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1997. - VIII, 900 S. : Ill., graph. Darst., Kt. ; 23 cm. - (dtv ; 33007). - Orig.-Ausg. im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart. - ISBN 3-423-33007-4 : DM 39.00
[4479]

Das gleichzeitig in einer gebundenen Ausgabe und als voluminöses Taschenbuch erschienene Werk signalisiert allein schon mit den nüchternen Aufzählungen im Vorwort bzw. Klappentext veritable Superlative: 132 Autoren haben an den 26 Beiträgen des Handbuch-Teils, den etwa 1000 Stichwörtern des sog. Lexikons sowie dem reichhaltigen Personenregister mit Kurzbiographien mitgearbeitet. Das dreiteilige Werk ist zu einem Drittel "als Handbuch mit essayistischen Überblicksdarstellungen" angelegt, zu mehr als der Hälfte ein sog. Sachlexikon und im verbleibenden abschließenden Teil ein Personenregister zum ersten und zweiten Hauptteil (mit kurzbiographischen Angaben zu Leben, Funktionen etc. der erwähnten Personen). Die Bearbeiter der einzelnen Abteilungen sind jeweils nur teilweise identisch; alle Beiträge des Lexikon-Teils, die im übrigen durchweg sehr knapp ausfallen, sind namentlich gezeichnet und verfügen häufig über zusätzliche Literaturangaben.

Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als "Enzyklopädie" und verbindet mit diesem Ausdruck die Intention, "Sachlexikon und Handbuch, Gesamtdarstellung und Kompendium" zugleich zu sein. Man wird das Selbstverständnis der Publikation so präzisieren können, daß offenkundig in übersichtlicher, benutzerfreundlicher Darbietung des Stoffes eine Bestandsaufnahme des gegebenen, aktuellen Wissens über das historische Phänomen "Nationalsozialismus" in seiner ganzen Breite angestrebt wird, und zwar für die sog. interessierte Öffentlichkeit. Damit ergibt sich eine gewisse Mittellage der Präsentation zwischen populärer und wissenschaftlicher Stoffbehandlung.

Ein flüchtiger Vergleich mit einem ähnlich facettenreich angelegten Sammelwerk,[2] das bereits vor einigen Jahren erschien und mit seiner Parallelausgabe als Bd. 314 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung gleichsam offiziös geworden ist und eine entsprechend weite Verbreitung gefunden hat, mag das Gemeinte schlaglichtartig verdeutlichen. Hier nämlich dominiert in reichen Fußnoten und breiter Forschungsdiskussion akademische Gelehrsamkeit in allen Einzelbeiträgen. Eine ganze Abteilung ist zudem der spezialisierten Forschungsdiskussion reserviert (S. 491 - 590), eine Auswahlbibliographie (S. 593 - 605) ist beigefügt. Die Autoren der "Essays" der Enzyklopädie des Nationalsozialismus - zum kleineren Teil sind sie übrigens in beiden Sammelwerken zu finden, die Beiträger des Konkurrenzunternehmens sind allerdings insgesamt "hochkarätiger" - lassen ihren Artikeln hingegen jeweils nur unkommentierte Literaturlisten folgen (fast ausschließlich sog. selbständige Veröffentlichungen). Die zwar auch vorhandene, aber der resümierend gehaltenen Grundanlage des Werkes entsprechend "lakonisch" und "objektiv" gestimmte Forschungsdiskussion ist im ganzen doch eher marginal und für den uneingeweihten, gleichwohl vielleicht auch lernbegierigen Leser häufig im Nachvollzug - im Sinne einer etwa beabsichtigten weiterführenden Lektüre - geradezu erschwert. So fehlen schon im ersten Beitrag (Ideologie, insbes. S. 18 ff.) in der bibliographischen Annotation (S. 21) die im Text ausdrücklich namentlich erwähnten, aber nicht bibliographisch spezifizierten einschlägigen Arbeiten von (z.B.) Martin Broszat und Brigitte Hamann. Es ist dies ein Defizit, das übrigens nahezu durchgängig als Ärgernis aufstößt. Eklatant ist dies, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, wenn Goldhagen mit seiner Kernthese vom "eliminatorischen Antisemitismus" im Text (S. 63) zwar genannt wird, in der beigefügten Literaturliste jedoch die bibliographische Angabe nicht auftaucht, Brownings Werk hingegen, das im gleichen Kontext steht, sehr wohl verzeichnet wird. Zweifellos sind derartige Mängel und Ungereimtheiten vornehmlich den Lektoraten der beteiligten Verlage, bei denen offensichtlich die Schlußredaktion lag, anzulasten.

Allerdings wird dem Anspruch, umfassend über das nationalsozialistische Regime überblicksartig zu berichten, durchaus genügt. Nicht nur über Politik im engeren Sinne (Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik) finden sich Beiträge, sondern auch Alltag und Lebenswelt und -wirklichkeit (z.B. Film, Unterhaltung, Literatur, Jugend, Technik, Sport, Frauen) werden durchweg prägnant behandelt (Fremdkörper sind für mein Empfinden die Beiträge von Thomas Bertram und Heinz Boberach Weltkrieg 1939 - 1945 bzw. Quellen zum Nationalsozialismus). Insgesamt muß zum Handbuch-Teil der Enzyklopädie ... freilich doch relativierend festgestellt werden - entgegen der hochgemuten Selbsteinschätzung -, daß in dem angeführten Sammelwerk Deutschland 1933 - 1945 bereits seit 1992 eine gewichtige "wissenschaftliche" Konkurrenz vorliegt.

Solches trifft auch - im Hinblick auf das Sachlexikon des zweiten (und Haupt-) Teils der Enzyklopädie ... - seit kurzem auf das von Cornelia Schmitz-Bernings verfaßte "Nachschlagebuch zum Vokabular des Nationalsozialismus" zu,[3] das in alphabetischer Anordnung mit etwa 500 Lemmata "Einblick in die Geschichte und die speziellen Verwendungsweisen von Ausdrücken, Organisationsnamen und festen Wendungen (gewährt), die sich dem offiziellen Sprachgebrauch im NS-Staat zuordnen lassen" (Vorwort, S. V). Das Werk von Schmitz-Berning ist freilich der Grundintention nach sprachgeschichtlich orientiert, dokumentiert aber zugleich authentisch die spezifische Semantik des NS. Weithin liegt damit zumindest eine fundierte Ergänzung - in wesentlichen Partien zweifellos auch ein gewichtiges Substitut - zur Enzyklopädie ... vor.

Problematisch ist in vielerlei Hinsicht Teil 3, das Personenregister mit Kurzbiographien. Merkwürdig ist hier zunächst der Umstand, daß einem gewissen Perfektionswahn gefrönt wird. Offenbar hatte man die - im übrigen in fast unzähligen Fällen dann wieder gar nicht eingehaltene - Absicht, jeden in Teil 1 und 2 vorkommenden Namen zumindest mit Lebensdaten, Geburts- und Todesorten sowie Tätigkeitsbereichen (Schriftsteller, Komponist usw.) zu annotieren. So treten kurioserweise z.B. die Namen von Bach, Beethoven, Bismarck, Büchner, Grabbe, Goethe usw. mit entsprechenden Zusätzen auf (auch Friedrich Barbarossa - und weitere "Friedriche"!). Die Behandlung ist zudem uneinheitlich und teilweise überflüssig ausführlich (im Falle Bismarcks wird z.B. unnötigerweise auch mitgeteilt, daß er "seit 1880 preuß. Minister für Handel und Gewerbe" war). In vielen Fällen gehören die registrierten Personen in die Kategorie "Methusalem" - sie wurden irgendwann im späten 19. Jahrhundert geboren, ohne (bisher) je gestorben zu sein. Bei Autoren sind die "Hauptwerk"-Zuweisungen des öfteren (zumindest) willkürlich: Walter Benjamins Hauptwerk ist (angeblich) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, bei Hans Freyer nimmt diese Position die Schrift Revolution von rechts ein. Gar nicht so ganz selten fallen die Einträge ganz mager aus: beispielsweise Ritterbusch, Paul S. 151; Roloff, O., S. 157. Auf S. 895 gibt es dafür eine (verschämte) salvatorische Klausel: "Herausgeber und Verlag haben sich um größtmögliche Vollständigkeit bemüht, konnten jedoch nicht bei allen im Register genannten Personen die Lebensdaten ermitteln. Zusätzliche Informationen werden für weitere Auflagen gerne berücksichtigt."[4] Der Rezensent erlaubt sich in diesem Zusammenhang einen sachdienlichen Hinweis auf den sog. "braunen Meyer",[5] der regimeoffiziös war und u.a. einschlägige Angaben zu Repräsentanten und Figuranten des NS, denen später nur bedingt noch eine entsprechende lexikalische Ehre widerfuhr, enthält. Wer - wieder nur beispielsweise - Klaus Staeck oder Antje Vollmer sind (vgl. S. 164), wird die Redaktion wohl selbst ermitteln können. Im übrigen hätte man doch auch die Autoren der Text- und Lexikonbeiträge zur Identifizierung heranziehen können. Man hat den Verdacht, daß über "Outsourcing" zahlreiche (ungenannte) Hände gleichsam unbeaufsichtigt und jedenfalls ohne harmonisierende Schlußredaktion am Werke waren.

Offensichtlich konnte eine ganz ungerechte frühe Glosse zur Enzyklopädie des Nationalsozialismus in der FAZ vom 9.10.1997, die vielsagend Wurmstichig überschrieben war, dem verlegerischen Erfolg der Enzyklopädie ... nicht abträglich sein. Gemeint waren hier - in Form eines unüberlegten Schnellschusses aus Anlaß der Buchvorstellung "im Foyer des ehemaligen Brecht-Theaters am Schiffbauerdamm" - "ideologische" Differenzen, denen eine Publikation über den Nationalsozialismus, zumal dann, wenn eine Vielzahl von Autoren dazu beigetragen hat, allemal ausgesetzt zu sein pflegt. Die vom Rezensenten benannten Unebenheiten lassen sich vergleichsweise leicht ausbügeln; sie hätten eigentlich bei hinreichend sorgfältiger Lektoratsarbeit gar nicht erst auftreten dürfen, schon gar nicht in der 2. und 3. Auflage!

Klaus Bleeck


[1]
Im Juli 1998 erschien bereits die 3. korr. Aufl. mit gleichfalls 900 S. und derselben ISBN. Im Vorwort zur 3. Aufl. (S. 8) heißt es: "Wie schon in der zweiten Auflage sind Korrekturen, vor allem im Personenregister, erfolgt und Druckfehler und gelegentliche Irrtümer beseitigt worden." Dazu, wie viel sich gerade am Personenregister noch verbessern ließe, lese man die Anmerkung weiter unten.
Auch von der Taschenbuch-Ausgabe erschien 1998 eine 2. Aufl., die anscheinend unverändert ist. (zurück)
[2]
Deutschland 1933 - 1945 : neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft / Karl Dietrich Bracher ... (Hrsg.). - Düsseldorf : Droste, 1992. - 624 S. - (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte ; 23). - ISBN 3-7700-0993-2. (zurück)
[3] Vokabular des Nationalsozialismus / Cornelia Schmitz-Berning. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 1998. - XLI, 710 S. ; 24 cm. - ISBN 3-11-013379-2 : DM 128.00 [4839]. - Vgl. die ausführliche Rezension weiter oben IFB 98-3/4-195. (zurück)
[4]
Die Liste mit Ergänzungen zu Lebensdaten und -orten, die H. Dr. Ihme, Stuttgart, dem Verlag zugänglich machte, umfaßt nicht weniger als 162 Namen. Leider kam sie zu spät, um noch in der 3. Aufl. Berücksichtigung zu finden. (zurück)
[5]
Meyers Lexikon. - 8. Aufl. Leipzig. - 1936 - 1942. - Bd. 1 - 9. - A - Soxhlet. - Bd. 12. Atlas. (zurück)

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