Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Reference guide to Russian literature


98-3/4-252
Reference guide to Russian literature / ed. Neil Cornwell. - 1. publ. - London ; Chicago : Fitzroy Dearborn, 1998. - XL, 729 S. ; 29 cm. - ISBN 1-884964-10-9 : œ 95.00
[4741]

Dieses neue Nachschlagewerk zur russischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart bietet Artikel über 273 russische Schriftsteller und über 293 Werke der russischen Literatur. Diesen 566 Artikeln, die überwiegend von englischen und amerikanischen Slawisten, in Ausnahmefällen auch von russischen Autoren verfaßt sind, haben die Herausgeber 13 Artikel vorangestellt, die einen Überblick über die Geschichte der russischen Literatur bis 1995 vermitteln. Die Schriftsteller- und Werkartikel haben einen Umfang von jeweils 1000 Wörtern, also etwa ein Viertel mehr als der durchschnittliche Artikel in Kindlers Neuem Literaturlexikon. Bei der Planung wurde den einzelnen Schriftstellern unabhängig von ihrer Bedeutung und dem Umfang ihres Werks gleicher Raum zugemessen, während vergleichbare deutsche Lexika um sinnvolle Relationen bemüht sind. Durch die Beifügung von Werkartikeln (bei Lermontov vier, bei Cechov acht, bei Nabokov sechs) wird weitgehend ausgeglichen. Eine Bibliographie englischer Lexika, Literaturgeschichten und übergreifender Werke sowie von Anthologien russischer Literatur in englischer Übersetzung führt zu ergänzenden Werken. Den Autoren- und Werkartikeln sind Bibliographien vorangestellt. Bei den Überblicksartikeln aber fehlen Literaturangaben. Die Zahl der Register ist relativ groß. Das Werk enthält Listen 1. der sieben Berater, 2. der 180 Artikelverfasser (einmal die Namen und ein zweites Mal dieselben Namen mit Kurzbiographie und Angabe der Beiträge), 3. der Autoren und Werke alphabetisch, 4. der 293 Werkartikel, 5. der Autoren, chronologisch und 6. der erwähnten Titel. Beigefügt sind ferner eine knappe "Chronologie" zur russischen Geschichte und einigen Ereignissen der literarischen Entwicklung und ein kleines "Glossar" mit häufigen Termini wie Glasnost', Kolchos oder Sobranie socinenij (Gesammelte Werke). Was aber fehlt und dringend nötig gewesen wäre, ist ein Namenregister, das jede Erwähnung eines Autors enthält - auch die in den Überblicksartikeln. Das wäre ein kleiner Ersatz dafür gewesen, daß in diesem Lexikon sehr wichtige Schriftsteller keine eigenen Artikel erhalten haben, nach denen ein Nachschlagebedürfnis besteht. Dann wäre der Benutzer wenigstens zu den über das Werk verstreuten Informationen geleitet worden.

Es ist unvermeidbar, daß die Qualität der einzelnen Artikel in einem solchen Werk schwankt. In einigen Fällen konnten Herausgeber oder Berater einen der besten Fachleute der Welt für einen bestimmten Schriftsteller gewinnen, der dann einen ausgezeichneten Beitrag schrieb, andere Artikel sind schwächer, manche auf einem um viele Jahre zurückliegenden Forschungsstand. Zweifellos sind Artikel wie die von Neil Cornwell über V. Odoevskij, Laszlo Dienes über Gazdanov, Peter Henry über Paustovskij, Gerald J. Janecek über Krucenych, D. Barton Johnson über Sasa Sokolovs Skola dlja durakov [Die Schule der Dummen], Viktor Krivulin über Stratanovskij, C. Nicholas Lee über Aldanov, Arnold McMillin über Aksenov und drei seiner Werke, Robin Milner-Gulland über Zabolockij, Temira A. Pachmuss über Z. Hippius sehr gut und ausgewogen, da die Verfasser sich über lange Zeit mit diesen Autoren befaßt und in der Regel Monographien über sie geschrieben haben. Aber der Artikel über Platonov zeigt das Gegenteil: Es fehlen politische Einordnung, menschlicher Hintergrund, Hinweis auf das weitgehende Publikationsverbot und auf die jahrzehntelange Verfälschung seines Bildes in der Sowjetunion; sogar wichtige Werke wie Dzan und Scastlivaja Moskva sind nicht genannt, die beste russische Platonov-Spezialistin Natal'ja Kornienko wird nicht erwähnt. Für den Artikel über Zoscenko wurde zwar die Autorin einer Monographie herangezogen, aber als solche hätte sie das korrigierte Geburtsdatum (9.8. [28.7.] 1894, vgl. Literatunaja gazeta. - 1984-01-04) kennen müssen. Verschieden umfangreich sind die Bibliographien, und da findet sich manches Zweitrangige (bei Evtusenko ist die Bibliographie mehr als doppelt so lang wie der Artikel), während die weitgehende Beschränkung auf englische Literatur die Internationalität der Forschung einfach leugnet. Auf russische Arbeiten wird verwiesen, aber nur gelegentlich werden aus der deutschen Literatur wenigstens Monographien genannt. Absurd ist das Nachstellen der Verfassernamen nach dem Werktitel. Der Wissenschaftler sucht nach Namen - so ordnen die Bibliotheken und Bibliographien in der Welt.

Die Überblicksartikel bilden eine seltsame Mischung zwischen Einführungen in bestimmte Perioden (Old Russian Literature, Russian Literature in the Post-Soviet Period) und Darstellungen von Einzelfragen (Women's Writing in Russia, The Superflous Man in Russian Literature), die eigentlich in eine Zeitschrift gehören. Andererseits ergänzen gerade so gute Artikel wie die von Birgit Beumers Post-Revolutionary Russian Theatre oder von Boris Lanin Experiment und Emigration den Autoren/Werk-Teil, wo einige sehr wichtige Namen und Werke nicht einbezogen sind. Birgit Beumers stellt z.B. die große Bedeutung der Dramatiker Rozov, Volodin, Zorin, Satrov, Slavkin, Gel'man heraus, die sämtlich ohne eigene Artikel blieben, Boris Lanin die der Emigranten Mat' Marija (Kuz'mina-Karavaeva), Smelev, Stepun, Ocup, Osorgin, R. Gul', Nesmelov, Elagin, Krasnov, die die Herausgeber ebenfalls keines eigenen Artikels für würdig hielten. Ein Teil dieser Autoren und andere wichtige wie Poplavskij und Gorenstejn nennt auch David Gillspie in seinem Artikel Thaws, Freezes, and Waves, die dann ebenfalls keine eigenen Artikel erhielten. Die Unsystematik der Überblicksartikel führte dazu, daß zwar die Erste Emigration teils doppelt vorgestellt wird, daß aber die Zweite nur listenmäßig und zu knapp von Lanin und die Dritte in derselben Form von Gillespie erwähnt werden. Die Kritik, daß Autoren fehlen, wäre nicht berechtigt, wenn nicht eine erhebliche Zahl Autoren Artikel erhalten hätte, die eine geringere Rolle in der russischen Literatur spielen. Publizistische Sowjetschriftsteller wie D. Furmanov, Ju. Libedinskij und N. Ostrovskij dürfen nicht weiter gute Emigranten verdrängen. Der modische Trend, nach weiblichen Schriftstellern zu suchen, hat dazu geführt, daß zwölf Autorinnen aufgenommen wurden, die jetzt nach einem Jahrhundert oder vielen Jahrzehnten im Rahmen der feministischen Literaturgeschichtsschreibung entdeckt wurden und teils Trivialliteratur schrieben. Es ist grundsätzlich lobenswert, daß sie der Vergessenheit entzogen werden, doch in einem Lexikon von weniger als 300 Autoren sollten bedeutende Schriftsteller, die großen Einfluß auf die Entwicklung der Literatur hatten, den Vorrang haben.

Man hätte mit dem Raum etwa 25 % mehr Nutzen bringen können. Sieht man als deutscher Forscher in der neuen Enzyklopädie eine Ergänzung zum Vorhandenen, dann kann man sie gern begrüßen, zumal da die Herausgeber dafür gesorgt haben, daß bei jedem Autor auf Personalbibliographien verwiesen wird und man auch auf einige der erst in der postsowjetischen Zeit bekannt gewordenen Autoren, wie Leonid Joffe, Timur Kibirov und Michail Ajzenberg stößt.

Wolfgang Kasack


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