Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
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América latina


98-3/4-249
América latina : palavra, literatura e cultura / organizadora Ana Pizarro. - SÆo Paulo : FundaçÆo Memorial da América Latina
[5055]
1. A situaçÆo colonial. - 1993. - 588 S. : Ill. - ISBN 85-85373-07-5
2. EmancipaçÆo do discurso. - 1994. - 829 S. : Ill. - ISBN 85-85373-09-1
3. Vanguarda e modernidade. - 1995. - 750 S. : Ill. - ISBN 85-85373-10-5

Im Umfang vergleichbar mit der Cambridge history of Latin American literature[1] ist die vorliegende, in Brasilien im Auftrag der Asociación Internacional de Literatura Comparada erschienene lateinamerikanische Literaturgeschichte. Der Plan eines weitaus umfangreicheren Nachschlagewerkes der vergleichenden Literaturwissenschaft mit der Zielsetzung einer globalen Behandlung der Einzelthemen durch die jeweiligen Epochen hindurch mußte aufgegeben werden. Immerhin konnte nach Publikation der beiden ebenfalls von A. Pizarro besorgten Vorstudien[2] mit Hilfe der finanziellen Unterstützung des Memorial da América Latina eine chronologisch gegliederte dreibändige Sammlung von Einzelbeiträgen erscheinen. Ausgehend von einem länderübergreifenden literarischen Diskurs in einem vielsprachigen Kulturkreis wurden Einzelstudien zu den Literaturen der nicht-spanischsprachigen Karibik und Brasiliens einbezogen. Knapp einhundert Mitarbeiter, überwiegend international ausgewiesene, in den USA und Lateinamerika lehrende Literaturwissenschaftler (Noé Jitrik, Sa£l Yurkievich, Federico Schopf, Jorge Ruffinelli, Osvaldo Pelletieri, Iris M. Zavala und der 1983 verstorbene Angel Rama) mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und wissenschaftlichem Ansatz sind Verfasser der Einzelstudien. Heterogenität in der Darstellung, insbesondere hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Gewichtung der Autorenwürdigungen war trotz redaktioneller Angleichung der Beiträge durch die in Chile lehrende Herausgeberin vermutlich nicht zu vermeiden. Eine formale Besonderheit ist die Zweisprachigkeit: Textbeiträge über die hispanoamerikanische Literatur erscheinen in spanischer, Beiträge über die brasilianische Literatur in portugiesischer Sprache.

Periodisierung und inhaltliche Gewichtung

Die Gewichtung der Epochen ist die allgemein übliche: Der erste Band ist der Kolonialzeit gewidmet, Band zwei der Emanzipation und dem Diskurs in der Phase der Unabhängikeitsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert, Band drei - Vanguarda e modernidade - analysiert an Einzelbeispielen den literarischen Diskurs des zwanzigsten Jahrhunderts. Forschungsgegenstand der Lateinamerikanistik im Sinne einer vergleichenden Literaturwissenschaft sind lateinamerikanische Literaturen als "Korpus" mit parallelen Entwicklungslinien, "en sus juegos de hegemonías y subalternidades, de paralelismos, de desfases, de rechazos o de integración." (S. 16).

Da das Werk einem interdisziplinären komparatistischen Ansatz verpflichtet ist, hinterfragt die Herausgeberin im einleitenden Kapitel über die kolonialen Literaturen die bisherige lineare unikulturelle Kanonbildung aus der traditionell historisch-literarischen Perspektive, die nicht über die nötigen Instrumentarien verfüge,

"para dar cuenta de una realidad m£ltiple en manifestaciones y plural en líneas de mundo simbólico como es la que observamos hoy en el período que nos ocupa: oralidad, diversidad de estratos míticos, formas diferentes de escritura, transcripción traducción, multipliciadad de lengas, textualidades variadas, receptores inscritos en órdenes culturales altamente diferenciados e incluso antagónicos ... Así la sintaxis que aborda el discurso crítico desliza sus significaciones entre ... la simbología pictográfica, la escritura ideográfica, la versión oral, la transcripción a un código cultural diferente, el alfabeto" (Bd. 1, S. 24).

Die Literatur Brasiliens ist zwar formal einbezogen, doch wurde der für die Komparatistik charakteristische Forschungsansatz nicht durch alle Epochen hindurch konsequent verfolgt, der von einem regional-synchronen Austauschverhältnis der hispanoamerikanischen und der brasilianischen Literatur ausgehen oder zumindest untersuchen müßte, warum es nicht zu Wechselbeziehungen der Diskurse kam. Hier werden allenfalls Anstöße gegeben, "el del se€alamiento de algunos temas al modo de columnas paralelas que permitan al lector reflexionar sobre las relaciones, que un estudio posterior necesitará integrar en el juego de sus identidades, correlaciones, desfases" (S. 24). Einbezogen wurden übernationale Phänomene im Hinblick auf vergleichende Untersuchungen der Literatur der Eroberer und der Literatur der Indios. 1492 sei mit der Invasion der Eroberer ein neues Beziehungsgeflecht der verschiedenen literarischen Diskurse entstanden. "Dominación y subalternidad establecerán hacia la ilegitimidad a las manifestaciones equivalentes de las culturas originarias" (S. 25). Der Erforschung der marginalisierten mündlichen Erzählform ist daher der erste Beitrag von Martin Lienhard (S. 43 ff.) gewidmet. Paradigmatisch anhand ausgewählter Fragestellungen (La visión americana de la conquista, S. 63, Literatura de evangelizaçÆo, S. 193, Vieira, ou a cruz da desigualdade, S. 209, La tradición mágico-hermética y la literatura científica en el siglo XVII, S. 277) wird die Existenz eines anderen, alternativen Kanons postuliert, der im Prozeß der Kolonisierung zum subalternen Kanon wird. Auch dem weiblichen literarischen Diskurs sind jeweils eigene Kapitel gewidmet (El espacio literario de la mujer en la colonia, S. 467, Palabras pronunciadas con el corazón caliente: teorías del habla, del discurso y de la escritura, S. 527).

Ungelöstes und wohl unlösbares Hauptproblem der historisch vorgehenden vergleichenden Literaturgeschichte bleiben Epochen und Periodisierungsfragen angesichts nationaler Varianten und Phasenverschiebungen. Die Gliederungsaspekte der einzelnen Bände von América Latina : palavra, literatura e cultura variieren, eine gewisse Unübersichtlichkeit ist die Folge der jeweils themenbedingt unterschiedlichen Gewichtungen der Epochen, literarischen Strömungen, Gattungen, der geographischen und historiographischen Aspekte: in Band zwei finden sich auf oberster Gliederungsebene Epochenbezeichnungen (IlustraçÆo e emancipaçÆo, Modalidades americanas do romantismo), literarische Strömungen (Oralidade, literaturas e recuperaçÆo das formaçäes discursivas indígenas), "Genderstudies" (A mulher e o espaço p£blico), historiographische Aspekte (O processo de modernizaçÆo, Discursos programáticos. Nacionalismo, latinoamericanismo, cosmopolitismo), geographische Besonderheiten (A busca do particular), auf der nächsten Hierarchiestufe wird nach Gattung oder auch geographisch gegliedert. Den Beitrag La novela de la revolución mexicana von R. Rodríguez Coronel würde man in Band drei erwarten, da der mexikanische Revolutionsroman dem zwanzigsten Jahrhundert zuzurechnen ist, hier jedoch der Vorgriff aufgrund des thematischen Zusammenhangs der Emanzipationsbewegung A busca do particular erfolgte. Für diejenigen, die sich über literarische Entwicklungen eines bestimmten Landes informieren wollen, ist eine komparatistische Literaturgeschichte weniger gut geeignet, da man immer nur einzelne Aspekte mit nationalem Bezug aufspüren kann, aus denen sich kein Gesamtbild nationaler Besonderheiten ergibt.

Der Berichtsraum des dritten Bandes über literarische und kulturelle Diskurse des zwanzigsten Jahrhunderts reicht lediglich bis in die 60er Jahre, um die Fragestellungen mit der nötigen Distanz gegenüber dem Forschungsgegenstand bearbeiten zu können, "sobre todo en un proyecto destinado a tener una cierta permanencia com referente interpretativo" (S. 21). Nicht alle Mitarbeiter haben sich an diese Vorgabe gehalten und auch Werke jüngeren Datums einbezogen, wenn dies für die Fragestellung sinnvoll erschien, wie im Falle von Marga Glantz über die Erzählliteratur Mexikos, (S. 618 ff.), Lauro Flores über die Chicanoliteratur der 80er Jahre, (S. 597 - 598), Ruffinelli in seiner Studie über die Entwicklung des lateinamerikanischen Romanes der 60er, 70er und 80er Jahre (S. 386 ff.).

Ausgewogenheit der Autorenwürdigungen wurde aufgrund des andersartigen Erkenntnisinteresses nicht angestrebt. Gattungsspezifische Fragestellungen werden in Band drei u.a. am Beispiel ausgewählter Dichter und Romanciers behandelt (Murilo Mendes, Drummond de Andrade, Gabriela Mistral, Graciliano Ramos, Clarice Lispector, Elena Poniatowska, GuimarÆes Rosa), deren Werke zusammenhängend und ausführlicher dargestellt werden als diejenigen kanonisierter Autoren wie Borges, García Marquez, Vargas Llosa, Rulfo. Biographische Details werden vernachlässigt, die Lebensdaten des Inca Garcilaso de la Vega beschert erst die fünfte Fundstelle des Registereintrags.

Bibliographische Hinweise und Register

Eine inhaltliche Erschließung der Beiträge ist nur mit Hilfe des im dritten Band enthaltenen Registers möglich, das sowohl Ansetzungen der Autorennamen als auch der anonymen Werke enthält und die Hauptfundstellen in Fettdruck hervorhebt. Ein Werkregister fehlt ebenso wie ein Schlagwortindex, der gerade angesichts der Heterogenität der Beiträge für Informationssuchende sehr hilfreich gewesen wäre.

Bibliographische Hinweise (Bibliografía de base, Bibliografía de referencia) folgen im Anschluß an jedes Kapitel. Sie haben Überblickscharakter, spiegeln also nicht den gegenwärtigen Forschungsstand wider. Typographische Fehler[3] bleiben die Ausnahme.

Fazit

Trotz der Heterogenität der Beiträge ist diese Literaturgeschichte, wie an Einzelbeispielen dargestellt wurde, insbesondere für Wissenschaftler mit komparatistischem Forschungsschwerpunkt eine wertvolle Ergänzung zu anderen lateinamerikanischen Literaturgeschichten wie die Cambridge history of Latin American literature und Diccionario enciclopédico de las letras de América latina.[4]

Regine Schmolling


[1]
IFB 97-3/4-342. (zurück)
[2]
La literatura latinoamericana como proceso / A. Cándido ... Coordinación de Ana Pizarro. - Buenos Aires : Centro Editor de América Latina, 1985. - 147 S. - ISBN 950-25-1309-6.
Hacia una historia de la literatura latinoamericana / Ana Pizarro, coordinadora. Centro de Estudios Lingüísticos y Literarios. - 1. ed. - México, D.F. : El Colegio de México, 1987. - 194 S. - ISBN 968-12-0359-3. (zurück)
[3]
La lengua en hispanoamericana, S. 838. (zurück)
[4]
IFB 97-3/4-340. (zurück)

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