Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Lexikon der phantastischen Literatur


98-3/4-233
Lexikon der phantastischen Literatur / Rein A. Zondergeld ; Holger E. Wiedenstried. - Stuttgart [u.a.] : Weitbrecht, 1998. - 461 S. ; 21 cm. - S. 433 - 453: Filmographie. - ISBN 3-522-72175-6 : DM 68.00
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Phantastische Literatur hat es zu allen Zeiten und in allen Epochen gegeben. Geschichten über den Einbruch unerklärlicher, wunderbarer, bedrohlicher oder heilbringender Dinge in unsere sichtbare und leidlich geordnete Welt hat man sich schon an den Lagerfeuern der Urvölker erzählt, und diese mündliche Tradition hat sich bis zu den Märchen und Gespenstergeschichten an den Herdfeuern der Spinnstuben der Neuzeit erhalten. Seit es Tontafeln gibt, hat man "Berichte" über phantastische Begebenheiten in sie geritzt, mit der Erfindung des Buchdrucks bekamen diese Geschichten eine feste Form, und es gelangte der Autor gegenüber den wechselnden Erzählern in den Vordergrund.

In Epochen des Umbruchs, in Zeiten der Unsicherheit, in denen sich Werte verändern, Weltbilder zusammenbrechen und neue Weltbilder errichtet werden, erlebt die eher düstere Seite der Phantastik zumeist eine besondere Blüte. Wenn der Mensch mit dem Wechsel seiner äußeren Welt nicht zurechtkommt, flüchtet er sich zunächst in die innere Welt der Phantasie. Das mag auch mit Artikulationsproblemen zusammenhängen: da er sich nicht recht auszudrücken getraut, daß er all das Neue in der Welt nur schwer begreift (oftmals auch nicht akzeptiert) und den Zusammenbruch der alten Welt nicht wahrhaben will. Deshalb beschreibt er seine Probleme innerhalb einer ganz anderen Welt, transponiert er reale Konflikte in ein phantastisches Ambiente, in der die Gesetze der Alten Welt und der Neuen Welt auf seltsame Weise aufgemischt sind. Diese Vermischung von Realität und Phantastik ist keine echte Weltflucht, sondern lediglich Verarbeitungsmethodik: in einer phantastischen Erzählung sind die realen Probleme reduziert auf einzelne Aspekte: so können sie klarer herausgearbeitet werden, ihre Singularität macht sie begreifbarer - und über den Umweg einer Anderswelt wird die Realwelt schließlich doch verstanden.[1]

So nimmt es wenig Wunder, daß ein Nachschlagewerk zu dem Bereich der literarischen Phantastik erwartungsvoll aufgenommen wird, zumal, wenn es sich um eine Neuauflage eines ursprünglich in der renommierten Phantastischen Bibliothek des Suhrkamp-Verlages erschienen Werkes handelt.[2]

Auf 411 Seiten gibt Zondergeld nach einer dürftigen Einleitung in einem umfangreichen Personen- sowie einem kurz geratenen Sachteil (wie bereits in der 1. Aufl.) die Möglichkeit, sich über das Phantastische im Schaffen eines Autors zu orientieren. Den seitlich ausgeworfenen Autorennamen sind Geburts- und Sterbeort und -jahr zugeordnet, einer allgemeinen, kurz gehaltenen, oft mit nicht unmittelbar nachzuvollziehender Wertung versehenen Darstellung ("literarisch begabte Kaufmannstochter" - soviel zur Biographie von Ann Radcliffe -, "wenig bedeutend", "der berühmte...", "der verkannte", "der wenig heroische Autor", "bedeutendster Autor seiner Zeit" etc. pp.) folgt ein ebenso knapper Abriß der Hauptwerke, kürzeste bibliographische Angaben sowie bibliographische Kürzestangaben (Titel, Jahr des letzten ermittelten Neudrucks) zu Übersetzungen.

Einträge der ersten Auflage von 1983 sind in der Regel unverändert übernommen, was besonders bei Blüten wie "Der englische Autor mit dem exotischen Namen" (zu Achmed Abdullah; Sohn des Grand Duke von Yalta, Cousin der Prinzessin Nurmahal und Zar Nikolaus II von Rußland) übel aufstößt. H. C. Artmann wird dazu degradiert, daß ihm Lovecraft 'vertraut' ist - er übersetzte eine Anzahl der besten Stories dieses Großmeisters der Horror-Literatur - und seine Biographie kennzeichnet wohl eher, daß er Schuhmachersohn und Sprachenautodidakt ist, Gelegenheitsarbeiter war und Mitglied der Akademie der Künste Berlin ist, denn als 'Bohemien und Weltreisender' beschrieben zu sein. Daß er Autor "höchst artifizieller Gebilde mit häufig parodistischem Charakter, die in ihrer Art einzigartig sind," sei, wird dann weiter theoretisiert, ohne etwa als Beispiel die Erzählung Frankenstein in Sussex kurz anzuführen, in der das legendäre Monster immerzu mit der kleinen Alice aus dem Wunderland kopulieren will.

Das worthülsenreiche Geschehen im Personen(= Haupt)teil setzt sich in einem kurzen Sachteil fort. Hier erfährt man die in der Einleitung nicht gegebene Erläuterung zum Wesentlichen der phantastischen Literatur im Unterschied zu Krimi, Fantasy und Science Fiction. So ist "phantastische Literatur grundsätzlich subversiv, [...] die SF affirmativ"; Science-Fiction ist demnach erkennbar an 'schablonenhafter Anwendung von Denk- und Sprachmustern' sowie 'konservativen, ja reaktionären Tendenzen'. Vergleichbar bestechend in ihrer nicht näher definierten Wertung ist die Beschreibung von 'Fantasy' - Texten als 'reaktionär, häufig sogar eindeutig faschistoid'. Weshalb den Leser die Zondergeld'sche Kritik an den Schriften des 'Vaters der Fantasy-Literatur' T. H. White nicht verwundert, bei dem "die manchmal realistischen Erklärungen [...] häufig die Möglichkeiten des Übernatürlichen [übersteigen]." Wie der mit einem außergewöhnlich langen Artikel bedachte, im Zondergeld'schen Sinne 'phantastische' Autor Russel Mac-Cloud (Pseudonym), Verfasser eines 'Kultbuches der rechten Szene', ('ein außergewöhnlich gelungener Roman') dieser Kritik erhaben bleibt, bleibt unklar.

In Epochen des Umbruchs, in Zeiten der Unsicherheit, in denen sich Werte verändern, Weltbilder zusammenbrechen und neue Weltbilder errichtet werden, erlebt die eher düstere Seite der Phantastik jedoch wie gesagt zumeist eine besondere Blüte. Zondergelds Verdienst ist es, den Autor dieser Zeilen auf diesen Umstand mit einer besonderen Blüte aufmerksam gemacht zu haben. Nun will der Rezensent seine Blüte vergessen, wird sie in den Regalen 'seiner' Bibliothek nicht wiedersehen.[3]

Rudolf Nink


[1]
Vgl.: Traumreich und Nachtseite / Thomas Le Blanc und Bettina Twrsnick (Hrsg.). - Wetzlar, 1995. - (Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar ; 15.) (zurück)
[2]
Lexikon der phantastischen Literatur / Rein A. Zondergeld - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1983. - 313 S. - (Suhrkamp-Taschenbuch ; 880) (Phantastische Bibliothek ; 91). - ISBN 3-518-37380-3. (zurück)
[3]
Benutzbare Literatur zum Thema findet sich in der Komplexrezension Fantasy und Utopie in IFB 96-2/3-237 - 238 besprochen. (zurück)

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