Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Dictionnaire des genres et notions littéraires


98-3/4-232
Dictionnaire des genres et notions littéraires . - Paris : Encyclop‘dia Universalis ; Albin Michel, 1997. - 918 S. ; 21 cm. - ([Les dictionnaires] Encyclop‘dia universalis). - ISBN 2-226-09421-0 : FF 170.00
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Mit dem Dictionnaire des genres et notions littéraires erschien 1997 ein weiterer Band in der Reihe jener Lexika, die die in der Encyclop‘dia universalis veröffentlichten Artikel zu einem bestimmten Thema versammeln und alphabetisch geordnet neu zugänglich machen. In diesem Rahmen sind bisher beispielsweise ein Dictionnaire du juda‹sme, ein Dictionnaire du moyen âge ein Dictionnaire de la musique: les compositeurs[1] oder ein Dictionnaire de la psychanalyse erschienen, dazu das weiter unten (IFB 98-3/4-248) besprochene Dictionnaire des littératures de langue française XIXe siècle, die alle zwar der Form und dem Umfang nach ein Lexikon, dem Anspruch nach aber eine Enzyklopädie sind, da sie in ihrem jeweiligen Bereich eine Gesamtdarstellung des Wissens zu geben beanspruchen - freilich nicht in dem naiven Glauben, je alles über dieses Gebiet sagen zu können, denn: "le propos d'une encyclopédie n'est pas de tout dire sur tout mais de dire l'essentiel sur l'essentiel", wie es im Vorwort zum Dictionnaire des littératures de langue française XIXe siècle heißt (S. 5).

Die zwischen 1968 und 1974 erstmals und seither in mehreren überarbeiteten Neuauflagen erschienene Encyclop‘dia universalis hat sich längst auch in großen deutschen Bibliotheken so eingeführt, daß zur Qualität dieses umfassenden Werkes wohl nichts mehr gesagt zu werden braucht. Interessant sind die jetzt neu erscheinenden speziellen Lexika aber natürlich vor allem für jene Bibliotheken - wie auch für Privatleute, da der Preis mit FF 170.00 für ein zuverlässiges Lexikon erfreulich niedrig ist -, die das Gesamtwerk nicht oder allenfalls in einer älteren Ausgabe[2] zu ihren Beständen zählen, da sie auf diese Weise ein Fachlexikon erwerben können, dessen einzelne Artikel tatsächlich vom jeweiligen Spezialisten eines Gebietes verfaßt wurden. So stammt etwa der Artikel Réalisme von Henri Mitterand, die Autobiographie - natürlich - von Philippe Lejeune, und für die Tragédie wurden gleich drei Forscher verpflichtet, um so unterschiedlichen Ausprägungen wie der Tragödie der griechischen Antike, der der französischen Klassik und der des 20. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Noch breiter gefächert ist das Spektrum beim über 20 Seiten langen Artikel Épopée, der von neun verschiedenen Autoren verfaßt wurde und die europäisch-abendländischen Grenzen sprengt, um durch Abschnitte wie L'Afrique oder L'Asie intérieure dem Anspruch eines "Lexikons der Weltliteratur" gerecht zu werden. Doch nicht nur bei so weitreichenden Ausführungen wird der Name des jeweiligen Autors genannt: Auch die kürzeren Einträge, etwa die zahlreichen Erklärungen zu rhetorischen Figuren oder zu literarischen Kleinformen wie Aphorisme und Calligramme verleugnen nicht ihre Herkunft, sondern sind namentlich gezeichnet.

Anders als der Titel zunächst vermuten läßt, nimmt das Dictionnaire des genres et notions littéraires nicht nur "genres et notions" im engeren Sinne, sondern literaturwissenschaftliche Termini in einem sehr weiten Sinne auf, so daß sich hier, wie in einem Lexikon üblich, knappere Definitionen finden - z.B. zu Almanach und Anacoluthe, zu Diégèse und Discours, zu Enthymème und Épigramme usw. -, aber auch, wie in einer Enzyklopädie und wie bereits erwähnt, umfassende Darstellungen zu literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Aspekten[3] wie Intertextualité, Hagiographie, Littérature pour la jeunesse oder auch Rythme, Sacré usw. Berücksichtigt wurden nicht nur das gängige literaturwissenschaftliche Vokabular, Gattungen, Strömungen, rhetorische Figuren, Formen und dergleichen, sondern auch Bereiche wie die Geschichte der Verbreitungs- und Rezeptionsweisen der Literatur (vgl. z.B. die Artikel zu den Pratiques de lecture, zu Revues littéraires oder zur Tradition orale). Daneben nehmen die Portraits von Theoretikern unterschiedlichster Ausrichtung einen sehr großen Raum ein, wobei der Schwerpunkt in diesem Fall auf dem 19. und vor allem dem 20. Jahrhundert liegt und die Auswahl keineswegs auf Frankreich beschränkt bleibt: So sind De Sanctis, Fontanier und Schlegel, Auerbach, Benjamin und Curtius ebenso aufgenommen wie Barthes und Blanchot, Derrida und Starobinski oder Eco und Jauss (letzterer übrigens bereits mit seinem Todesjahr, das mit dem Erscheinungsjahr des Bandes zusammenfällt). Dieser Auswahl entsprechend wurden auch in den Sachartikeln Grenzgebiete wie etwa die Beziehung zwischen Literatur und Philosophie oder Begriffe aus Linguistik und Semiologie mit berücksichtigt und so die "genres et notions littéraires" einmal mehr in einem umfassenden Sinne verstanden.

Die - bei längeren Einträgen häufig thematisch oder chronologisch untergliederten - Literaturangaben am Ende der einzelnen Artikel[4] sind größtenteils recht aktuell und berücksichtigen Titel bis zum Ende der achtziger, zum Teil bis in die erste Hälfte der neunziger Jahre,[5] wobei der Blick nicht auf die Literatur französischer Sprache beschränkt bleibt, auch wenn diese zahlenmäßig den Schwerpunkt bildet, sondern sich daneben selbständig wie unselbständig erschienene Arbeiten vor allem in deutscher, englischer und italienischer Sprache finden.

Ein wichtiges Instrument bei der Benutzung des Dictionnaire als Encyclopédie stellt der ausführliche Index am Ende des Bandes dar: Hier wird nicht nur von anderen auf die verwendete Ansetzungsform und nicht nur von einem Stichwort auf andere, mit diesem zusammenhängende Einträge verwiesen; auch nicht mit einem eigenen Artikel versehene Begriffe wurden aufgenommen, unter denen jeweils die für diesen Bereich relevanten Stichwörter aufgelistet sind. So erfährt der Leser mittels des Registers, daß er etwa Informationen zum Thema Psychanalyse & littérature unter anderem in den Einträgen Biographie, Critique littéraire, Jean-Pierre Richard oder Roman familial finden kann, und selbst der Zugang über Autoren wie Goethe und Pirandello, Racine und Proust ist dank des Index möglich, der beispielsweise im Falle Goethes auf die Artikel Argumentation, Classicisme, Drame bourgeois, Drame romantique und Romantisme verweist. Dank dieses Index, der durch die Herstellung von Zusammenhängen über den Zufall des Alphabets hinaus dem Dictionnaire des genres et notions littéraires seinen wahrhaft enzyklopädischen Charakter verschafft, dank der oft enzyklopädisch-ausführlichen Darstellungsweise und dank der fundierten Artikel, die, laut Introduction, jeweils von "le spécialiste le plus autorisé" (S. 8) verfaßt wurden, schließt dieser Band gewiß eine Lücke in der Landschaft der literaturwissenschaflichen Lexika und ist trotz seines französischen Übergewichts an manchen Stellen auch nicht romanistisch ausgerichteten Bibliotheken wärmstens zu empfehlen.

Barbara Kuhn


[1]
Eine Besprechung erscheint demnächst in einem Beiheft zu IFB über biographische Informationsmittel. (zurück)
[2]
Zumindest im Vergleich mit der Neuausgabe der Encyclop‘dia universalis von 1989 - 1990 - eine neuere Ausgabe konnte nicht eingesehen werden - wurden nicht nur die bibliographischen Angaben am Ende vieler Artikel aktualisiert, sondern zudem einige Einträge, z.B. Anagramme, dem gegenwärtigen Forschungsstand gemäß modifiziert, andere, die wie Syllepse, neue Bedeutung gewonnen haben, zusätzlich aufgenommen. Was gegenüber dem Gesamtwerk entfällt, sind zum einen, vor allem bei den langen, sonst unverändert abgedruckten Artikeln wie etwa Surréalisme, die Illustrationen, zum anderen natürlich die Querverweisungen auf sehr viele weitere Artikel, die in diesem Dictionnaire ... gar nicht enthalten sein können. Wo hingegen im Gesamtwerk ein Begriff wie Allégorie allein über eine Vielzahl solcher Querverweisungen erschlossen werden kann, findet sich im Dictionnaire ... ein eigener Artikel einschließlich Bibliographie. (zurück)
[3]
Bereits die Zahl der Artikel im Verhältnis zum dafür zur Verfügung stehenden Raum macht den Unterschied dieser "Fachenzyklopädie" zu einem Lexikon wie etwa dem Metzler-Literatur-Lexikon (vgl. die Rez. der. 2. Aufl. 1990 in ABUN in ZfBB 38. 1991,1, S. 63 - 64) deutlich, das wohl am ehesten als deutschsprachiges Pendant zu diesem neuen Nachschlagewerk gelten kann: Während hier auf den gut 500 - freilich eng bedruckten - Seiten über 3000 Stichwörter erklärt werden, liefert das Dictionnaire ... auf seinen knapp 900 Seiten nur etwa 250 Artikel, die so natürlich bedeutend differenzierter ausfallen können als die zwangsläufig meist knappe Lexikondarstellung. (zurück)
[4]
Lediglich die Kurzeinträge mit eher definitorischem als enzyklopädischem Charakter verzichten auf die Nennung weiterführender Literatur. (zurück)
[5]
Die Einträge zu Eco, Jauss und Starobinski nennen im Rahmen des jeweiligen Artikels Texte der Autoren bis 1994, in der Bibliographie zum Artikel Derrida finden sich sogar noch zwei Titel von 1996. (zurück)

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