Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 6(1998) 3/4
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Die Bibliothek des Kardinals Giovanni d'Aragona (1456


98-3/4-174
Die Bibliothek des Kardinals Giovanni d'Aragona (1456 - 1485) : illuminierte Handschriften und Inkunabeln für einen humanistischen Bibliophilen zwischen Neapel und Rom / von Thomas Haffner. - Wiesbaden : Reichert, 1997. - X, 390 S. : Ill. ; 25 cm. - Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1995. - ISBN 3-88226-896-4 : DM 122.00
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Die Büchersammlungen von Kardinälen wie Bessarion, Nikolaus von Kues oder Domenico Capranica, die Bemühungen von Sixtus IV. um die päpstliche Bibliothek unterstreichen die Bedeutung des Buchbesitzes im kurialen Milieu vor und nach der Mitte des 15. Jahrhunderts. Dem Zwecke nach, den Reichtum wie die sapientia ihrer Besitzer zu manifestieren, unterscheidet sich dieses Sammeln der Kardinäle und Päpste in nichts von dem der italienischen Fürsten der Renaissance, der Visconti und Sforza in Mailand, der Medici in Florenz, der Gonzaga in Mantua, der Este in Ferrara, der Herzöge von Urbino und - in der Tradition der neapolitanischen Anjou - der aragonesischen Könige von Neapel.

Giovanni d'Aragona (1456 - 1485) steht im Schnittpunkt dieses konkurrierenden Sammelns. Der Großvater, Alfons V. von Aragon und Sizilien, der Vater, Ferrante I., König von Neapel, wie auch der Ehemann seiner Schwester, Matthias Corvinus, König von Ungarn, waren bedeutende Sammler und Kulturförderer. Der im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern von Anfang an für die kirchliche Laufbahn ausersehene Giovanni d'Aragona war also gleichsam von Herkunft und Karriere zum Bibliophilen bestimmt. Die Versorgung des jungen Mannes mit zahlreichen ertragsstarken kirchlichen Pfründen versetzte ihn auch materiell in die Lage, diese Neigung zu pflegen und in seinem kurzen Leben eine bedeutende Bibliothek aufzubauen. Über diese Sammlung gibt jedoch anders als in vergleichbaren Fällen weder ein Inventar noch ein Testament Aufschluß, so daß einzig die erhaltenen Handschriften und Drucke, die auf Grund verschiedener Kriterien dem Kardinal zugewiesen werden können, es ermöglichen, die Entwicklung und Zusammensetzung seiner Bücherkollektion nachzuzeichnen. Der tatsächliche Buchbestand wird daher immer unbekannt bleiben. Die bisher bekannte Zahl sicher identifizierter Bände aus der Bibliothek des Kardinals konnte durch den Autor um ein gutes halbes Dutzend für die Zahl der Handschriften und um drei für die der Inkunabeln vermehrt werden, so daß nunmehr 45 Handschriften und 15 Inkunabeln aus Giovanni d'Aragonas Besitz bekannt sind.

Seine Bibliothek setzt sich in der heute bekannten Form zu gleichen Teilen zum einen aus Büchern mit Texten antiker, zum anderen patristischer, scholastischer und humanistischer Autoren zusammen. Auffällig für eine Kardinalsbibliothek ist das Fehlen juristischer, biblischer und liturgischer Texte. Der hohe Anteil an scholastischer Literatur in der Sammlung (Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Duns Scotus, Johannes von Jandun, Johannes Capreolus u.a.) bestätigt wieder einmal, daß es zwischen humanistischer und scholastischer Kultur trotz aller Polemik auch positive Beziehungen gegeben hat und daß man in die Irre geht, wenn man in der Geschichte der Wissenschaften, der Philosophie und der Theologie die Gegensätze zwischen Humanismus und Scholastik überbetont. Zu den interessantesten Ergebnissen Haffners in diesem Zusammenhang gehört die Tatsache, daß sich in der Bibliothek des Giovanni d'Aragona die Codices mit Texten antiker, patristischer und humanistischer Autoren von denen mit Texten theologisch-scholastischer Autoren sowohl durch die Schriftart wie die Dekorationsweise unterscheiden: Die Bände mit scholastischen Texten verwenden gotische Schrift, teilweise aus der französischen und flämischen Buchmalerei abgeleitete Zierrahmen, Fleuronnée-Initialen u.a., während die Werke der Antike und der Patristik all'antica ausgestattet sind und die pseudoantiken bianchi girari, monumentale Architekturvisionen, antike Münzbilder und ähnliches verwenden. Benutzungsspuren des 15. Jahrhunderts zeigen alle diese Bücher jedoch kaum oder gar nicht.

Die fleißige, mit 101, davon 21 farbigen, Abbildungen reich ausgestattete Arbeit Haffners, eine kunsthistorische Heidelberger Dissertation von 1995, stellt sich selbst die Aufgabe, "einerseits die historische Persönlichkeit des Kard. Giovanni und andererseits die aus seinem Besitz überlieferten Handschriften und Inkunabeln möglichst vollständig zu erfassen und im einzelnen zu erschließen ..." (S. 4). Diesem Plan entsprechend umfaßt die Arbeit zwei Teile, einen die schriftlichen Quellen auswertenden und die Einzelbeobachtungen zusammenfassenden Abschnitt und einen Katalog der erhaltenen Handschriften und Inkunabeln. Im ersten Teil stellt der Autor in acht Kapiteln die Biographie Giovannis, seine Bildung und sein kulturelles Umfeld, sein ethisches "Programm", seine finanziellen Ressourcen, seine Sammlertätigkeit, seine Bibliophilie, die Zusammensetzung seiner Büchersammlung, die Ausstattung der Bände und das Schicksal seiner Bibliothek nach seinem Tode dar. Der Stil und damit die Lektüre leidet erheblich unter einem überbordenden Anmerkungsapparat, in dem der Autor das gesamte, von ihm gesammelte Material in extenso ausbreitet, auch wenn es anderswo bereits leicht zugänglich publiziert ist. Der Zusammenhang zwischen Anmerkung und Text ist nicht immer einsichtig (z.B. S. 54 Anm. 99, S. 125 Anm. 48); die zahlreichen Personennamen einer sich über dreieinhalb Seiten erstreckenden Anmerkung (S. 49 ff. Anm. 92) sind im Register nicht aufgeführt.

Der Katalogteil erschließt die bekannten Handschriften und Drucke in modifizierter und zum Teil verkürzter Weise nach dem DFG-Modell für die Spezialkataloge illuminierter Handschriften, über dessen Entstehung, Tragweite und Begrenzung in dieser Zeitschrift bereits an anderer Stelle ausführlich gehandelt wurde (vgl. IFB 96-4-375). Das Hauptgewicht seiner kunsthistorischen Beschreibungen der Handschriften legt der Autor auf die extrem detaillierte Analyse des Buchschmucks und dessen stilistischer Einordnung. Hilfreiche Abschnitte über die Provenienz der einzelnen Bände und eine Literaturdokumentation schließen sich an. Die Erfassung der Inkunabeln folgt, wenn auch etwas summarischer, dem gleichen Modell. Die Angaben zu den äußeren Merkmalen der Handschriften und Inkunabeln, zur Kodikologie also, sowie zur Gestalt der überlieferten Texte dagegen sind so knapp gehalten, daß man sie als unzureichend bezeichnen muß. Incipit und Explicit der Werke, Hinweise zur Textgestalt und Textgeschichte beispielsweise fehlen ebenso wie bei der Erschließung der Inkunabeln die Angabe der Hain-Nummern und die der Beschreibungen des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke.

Natürlich soll hier nicht die Legitimität der kunsthistorischen Spezialkatalogisierung eines Buchbestandes bestritten werden. Man muß sich jedoch der Konsequenzen eines solchen Unterfangens bewußt bleiben. Denn der extrem selektive Blick des Autors auf die Objekte verkürzt die historische Realität des mittelalterlichen Buches unzulässig. Im Falle der DFG-Katalogisierung wird diese Reduktion des Objektes durch das Vorhandensein oder das Versprechen eines "Textkataloges" ausgeglichen, im Falle von Haffners Untersuchung fehlt dieses Gegengewicht. Die Gesamtheit des mittelalterlichen Buches mit all seinen Elementen physischer, textlicher, bildlicher und historischer Natur wird nicht sichtbar. Der nicht-kunsthistorische Leser kann daher eine gewisse Enttäuschung über diese Publikation nicht verbergen, denn der Band hält nicht, was der Titel verspricht. Er ist keine Gesamtdarstellung der "Bibliothek des Kardinals Giovanni d'Aragona".

Bernd Michael


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