Struves Geschichte der russischen Auslandsliteratur ist 1996 von den
Sankt Petersburger Wissenschaftlern V. B. Kudrjavcev und K. Ju.
Lappo-Danilevskij in einer sehr guten 3. Auflage ediert worden, die es
erstmals wirklich erschließt. Sie wurde gemeinsam vom Moskauer Verlag
Russkij Put' und dem Pariser YMCA-Verlag, der in der Zwischenzeit für
die 2. Auflage gesorgt hatte,[2] veröffentlicht. In seinem ausführlichen
Vorwort charakterisiert Lappo-Danilevskij Gleb Struve und dessen
Schaffen, beurteilt auch die im Textteil unverändert gelassene
Literaturgeschichte aus heutiger Sicht.
Seinerzeit war Struves Werk über die Russische Literatur in der
Verbannung die erste umfassende Darstellung der russischen
Emigrationsliteratur von 1917 bis in die Nachkriegszeit. Es zeichnet
sich durch dieselbe Übersichtlichkeit und Ausgewogenheit der Anteile
aus wie seine Geschichte der Sowjetliteratur. Es hatte aber den
technischen Mangel, daß ein Register fehlte und die Schwäche, daß
Struve bei vielen Autoren die genauen Lebensdaten noch nicht ermitteln
konnte. Darüber hinaus hatte der Tatbestand, daß Struve gesonderte
Literaturgeschichten über die Sowjetliteratur und über die
Auslandsliteratur veröffentlichte, die verheerende Folge, daß diese
vom Zentralkomitee der KPdSU angestrebte Spaltung durch ihn im Westen
gegen seine politische Überzeugung fundamentiert wurde. Da das Werk
über die Auslandsliteratur nicht übersetzt wurde und Marc Slonim
ebenfalls die russische Emigration aus seiner Literaturgeschichte
ausschloß, trugen beide wesentlich dazu bei, daß sich die westliche
Slawistik bis zum politischen Wandel in Rußland mit Emigranten nur
ausnahmsweise befaßte. Ohnehin standen auch im Westen viele Slawisten
unter dem Einfluß sowjetischer Lehrbücher. Unter den deutschen
Literaturgeschichten bilden die von Johannes von Guenther[3] und
Vsevolod Setschkareff[4] rühmliche Ausnahmen. Johannes Holthusen[5] setzte
die Grenze der Gegenwartsliteratur auf 1890, behandelt daher die
wichtigen späteren Emigranten in der Zeit vor 1917 mit, aber im
Prinzip schließt auch er die Emigration aus. Unter dem Einfluß der
Westslawistik hatte der Alfred Kröner Verlag von mir ein Lexikon der
Sowjetliteratur erbeten, erst in der Endredaktion erkannte ich den
Fehler und bezog die Emigration noch ein, wählte für die 1. Auflage
von 1976 den Titel Russische Literatur ab 1917 und für die erweiterte
2. Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Struves Werk
war mir eine wichtige Hilfe.
Struve gliedert seine Geschichte der russischen Auslandsliteratur
zunächst chronologisch in zwei Teile, wobei der Schnitt auf 1925
gelegt ist. Dieser Einschnitt ist bei der Geschichte der
Sowjetliteratur berechtigt, in der Entwicklung der Literatur der
Emigration spielt er keine solche Rolle. Jeder Teil ist in Kapitel und
Unterkapitel klar gegliedert, von denen kaum die Hälfte einzelnen
Autoren gewidmet ist. Der erste Teil beginnt mit je einem Unterkapitel
über die wichtigen europäischen Zentren der Emigration: Paris, als dem
unpolitischen und Berlin als dem literarischen Zentrum bis Anfang
1924, wie Struve entgegen seiner Gliederung richtig herausstellt. Die
anderen Zentren wie Prag und Belgrad werden genannt, aber nicht
gesondert beschrieben. Die nächsten beiden Kapitel sind zwei
ideologisch geprägten Gruppen gewidmet, den "Wegmarkenwechslern"
(Smenovechovcy), die Mitte der zwanziger Jahre in die UdSSR
zurückkehrten, die an eine Normalisierung des Systems glaubten und den
"Eurasiern", die das Unmenschliche und Atheistische des Bolschewismus
anprangerten und eine Überwindung der alten Spaltung in Westler und
Slawophile durch das Ideal der Verschmelzung europäischen und
asiatischen Geistesguts anstrebten. Sechs Zeitschriften hat Struve für
gesonderte Darstellungen ausgewählt, in denen er ihre grundsätzliche
Richtung charakterisiert, Herausgeber und Autoren beschreibt und mit
Zitaten das Bild abrundet. Vierzehn Autoren wie Bunin, Merezkovkij,
Smelev, Aldanov, Bal'mont, Chodasevic stellt er in eigenen
Unterkapiteln in ausgewogenem Umfang dar, andere faßt er in solchen
Unterkapiteln zusammen. Etwas unübersichtlich ist die Vereinigung der
Autoren der "Jüngeren Generation" in einem Kapitel ohne Hervorhebung
der Namen. Im Abschlußkapitel des ersten Teils geht Struve auf Kritik,
Literaturwissenschaft, Philosophische Prosa und Publizistik ein.
Der zweite Teil erfaßt den Zeitraum von 1925 bis 1939. Struve beginnt
diesen mit einem Kapitel, das diese Periode generell charakterisiert,
und behandelt darin jeweils für sich Gruppierungen, Zeitschriften und
"Streitigkeiten um die Auslandsliteratur", also auch selbst erlebte
Probleme, was aus späterer Sicht besondere Bedeutung erhält. Die
Schriftstellerkapitel betreffen zur Hälfte dieselben Autoren wie im
ersten Teil, einige wenige der jüngeren Generation sind wieder in
eigenen Unterkapiteln herausgehoben. Erst hier finden sich gesonderte
Abhandlungen über die "Prager Lyriker" und die "Fernöstlichen
Lyriker". Offensichtlich waren die Kenntnisse über diese Zentren
außerhalb von Berlin und Paris noch zu gering, als daß alle diese
Zentren in gleicher Weise hätten dargestellt werden können. Heute
könnte man über Harbiner Lyriker wie Perelesin und Nesmelov eigene
Kapitel schreiben. Als Anhang wirft Struve noch einen Blick auf einige
wichtige Schriftsteller, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg
in den Westen geflohen waren, also die Zweite Emigration, deren
Einbeziehung in die Forschung in Rußland selbst erst in letzter Zeit
beginnt. In diesem Zusammenhang nennt er auch die Namen der von der
Sowjetregierung 1945 in Prag ermordeten oder von dort verschleppten
Emigranten.
Struve hatte der Literaturgeschichte keine Bibliographie hinzugefügt,
weder insgesamt noch zu einzelnen Autoren, aber ein Teil der
Titelangaben findet sich im Text oder in Anmerkungen. Er hatte in
einer Namenliste von 1956 die Lebensdaten, soweit er sie ermitteln
konnte, angegeben und die Unvollkommenheit war ein anschaulicher
Beweis, wie schwer es ist, über Emigranten Informationen zu sammeln.
Die neue Ausgabe kann zwar Forschungsergebnisse aus den vergangenen
vier Jahrzehnten nicht nachholen, aber es wird auf ergänzende
Nachschlagewerke bis 1994 verwiesen. Vor allem haben V. B. Kudrjavcev,
K. Ju. Lappo-Danilevskij und R. I. Vil'danova die Ausgabe um ein
zweiteiliges Lexikon erweitert. Der Personenteil dieses Lexikons ist
auf die wichtigsten Jahresangaben der Lebensläufe konzentriert, nennt
Funktionen in Redaktionen oder Vereinigungen und führt sogar die
Periodika und Almanache auf, in denen die einzelnen Emigranten
publizierten. Wenn wir als Beispiel Dmitrij Cizevskij als einen der
bedeutenden Slawisten wählen, der seinen Schwerpunkt in Deutschland
hatte, sehen wir, daß im Lexikon sein wissenschaftlicher Werdegang
angegeben ist (von Kiew über Heidelberg, Prag, Halle, Marburg,
Boston/Harvard, bis Köln und Heidelberg) und auf seine
Personal-Bibliographien verwiesen wird. Struves Informationen zu ihm
im Text sind wichtig, aber inkonsequent. Cizevskijs Name fehlt z.B. im
Zusammenhang mit dem Abschnitt über Prag, aber sein Werk über Hegel in
Rußland, seine Gogol'-Aufsätze, so wie seine Mitarbeit in den
Sovremennye zapiski werden lobend erwähnt. Andererseits ist das
Personallexikon auf die wichtigsten Fakten beschränkt. Jetzt ergänzen
die Teile einander ausgezeichnet. Ausführlicher sind die bedeutenden
Emigranten gleichzeitig in anderen Lexika dargestellt worden.[6] Der
zweite lexikalische Teil enthält drei gesonderte Verzeichnisse von
insgesamt 529 Almanachen/Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen mit
maximaler bibliographischer Präzision - Erscheinungsweise,
Erscheinungsort, Herausgeber, Dauer, Umfang. Er erfaßt also ganz
erheblich mehr als die in Struves Text genannten Titel. Auch ist er
nicht auf die Erste und Zweite Emigration beschränkt, sondern
verzeichnet zusätzlich Publikationen der Dritten Emigration wie V.
Maksimovs Zeitschrift Kontinent, die seit 1992 in Moskau herausgegeben
wird, oder V. Sinkevics seit zwanzig Jahren in Philadelphia
erscheinende Lyrikanthologie Vstreci. Auch der Bereich der Periodika
und Almanache der Emigration wird zur Zeit in Moskau für ein Lexikon
ausführlicher bearbeitet.[7] Die lexikalischen Ergänzungen zu Struves
Literaturgeschichte umfassen fast die Hälfte der dritten Auflage. Das
Namenregister verbindet die Teile.
Die neue Ausgabe von Struves Werk ist ein wertvoller Beitrag zu den
aktuellen Bemühungen, die sowjetischen Verfälschungen des Bildes der
russischen Literatur zu bereinigen. Für die künftige Forschung über
die Emigration bildet diese Ausgabe von Struves Literaturgeschichte
neben den Veröffentlichungen seit Jahrzehnten unterdrückter Werke und
neuen Lexika eine bleibende Grundlage.[8]
Wolfgang Kasack
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