Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Kleine Geschichte der deutschen Literatur


97-3/4-318
Kleine Geschichte der deutschen Literatur : von den Anfängen bis zur Gegenwart / Viktor Zmegac ; Zdenko Skreb ; Ljerka Sekulic. - 6. Aufl. - Weinheim : Beltz-Athenäum, 1997. - 431 S. : Ill. ; 22 cm. - Frühere Ausg. u.d.T.: Geschichte der deutschen Literatur. - ISBN 3-89547-116-X : DM 49.80
[4393]

Die Autoren dieser Kleinen Geschichte der deutschen Literatur lehren Germanistik an der Universität Zagreb und sind durch gewichtige Veröffentlichungen auch in Deutschland bekannt geworden. Das hier anzuzeigende Werk ist ursprünglich 1974 in kroatischer Sprache erschienen; es handelt sich also - auch wenn es bereits 1981 als Scriptors Geschichte der deutschen Literatur in deutscher Übersetzung herausgekommen ist - um ein Lehrbuch aus der Perspektive der Auslandsgermanistik, die hierzulande wahrzunehmen der Schärfung des eigenen Blicks nur dienlich sein kann.

Das Werk folgt dem verbreiteten Prinzip, um so ausführlicher zu berichten, je mehr es sich der Gegenwart nähert. Gerade der Respekt vor der großen Sachkunde und dem weiten Blick der Autoren gebietet jedoch, nicht zu verschweigen, daß das Werk nicht gleichmäßig gelungen ist. Da wird der Leser über weite Strecken sicher auf aussichtsreichen Wegen geführt (etwa in den Abschnitten zu E.T.A. Hoffmann und C.F. Meyer), gelangt aber immer wieder auch an Stellen, wo der Boden unter ihm einbricht und er gar nicht Tritt fassen kann. Der Wandsbecker Bothe war eben nicht das, was der Leser sich unter einer "Zeitschrift" vorstellt, schon gar nicht der Typ eines "Volksblatts, der zeitgenössische kulturelle Bestrebungen (den 'Popularismus' vor allem [was mag das sein?] auf eine möglichst zugängliche Weise verbreitete" (S. 114), sondern eine kleine Zeitung, die mehrmals in der Woche erschien und die vor allem aus Nachrichten bestand und nur ein wenig Feuilleton am Schluß, wo der Redakteur Claudius für wenige Jahre die Avantgarde der Zeit bald vorstellte, bald zu Wort kommen ließ. Wenn der Wandsbecker Bothe charakterisiert wird, wieso fehlt dann der Göttinger Musenalmanach?

Sicher sind zehn Zeilen zu Richard Beer-Hofmann (S. 254) besser als gar keine, und gegen das, was dort zu der Erzählung Der Tod Georgs und zu seinen Dramen zu lesen steht, ist nichts einzuwenden. Keine Erwähnung findet jedoch das Schlaflied für Mirjam, mit dem dieser skrupulöse Wenigschreiber 1897 eines der schönsten Gedichte in deutscher Sprache geschrieben hat, das seitdem von vielen Literaten - die Namen reichen von Rilke bis zu Peter Härtling - bewundert worden ist.

Überhaupt ist der Band interessant auch als Seismograph für alles, was schon vergessen und was noch gar nicht in den Blick geraten ist. Vergessen z.B. Emanuel Schikaneder (wenn von der Zauberflöte die Rede ist, sollte in einer Literaturgeschichte doch neben dem Komponisten auch der Librettist genannt sein), Johann Heinrich Voß, Wolf von Niebelschütz, Stefan Andres, Ernst Kreuder, Ernst Schnabel oder - horribile dictu - Ilse Aichinger; noch nicht in den Blick gekommen: Peter Rosei, Herbert Rosendorfer, dessen Ruinenbaumeister zu den großen Romanen der Nachkriegszeit gehört, oder Roswitha Quadflieg. Zu den Vergessenen und nicht Wahrgenommenen kommen noch die bloß Abgekanzelten hinzu: August von Platen, den Gottfried Benn und Thomas Mann aus respektablen ästhetischen Gründen schätzten, auf einer Zeile als "Pseudoromantiker" zu denunzieren, ist noch ärgerlicher, als ihn erst gar nicht zu erwähnen.

Gewiß, man muß als Literarhistoriker kein "Heimitist" sein, aber das folgende ist entschieden zu billig: "Die breitangelegten Gesellschaftsromane von Heimito von Doderer (1896 - 1966), der von einem Teil der Kritik als Nachfolger Musils und Brochs gefeiert wurde, erfüllten nicht die Erwartungen. Doderers Querschnitt durch die österreichische Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte (z.B. in den umfangreichen Romanen Die Strudlhofstiege, 1951, und Die Dämonen, 1956, ist eher prätentiös als überzeugend; die Fülle von Einzelporträts aus den Kreisen des Wiener Bürgertums, von ineinander verketteten Schicksalen im Schatten der politischen Ereignisse vom Verfall Alt-Österreichs bis zum Zusammenbruch der Republik hatte der Autor symbolisch vertiefen wollen, blieb aber zumeist auf der Ebene eines konservativen Feuilletonismus und psychologischen Anekdotenreigens stehen." (S. 359). Ende der Durchsage, und ab geht es zu George Saiko. Nichts von dem skurrilen Erzähler Doderer der Erleuchteten Fenster, der Peinigung der Lederbeutelchen oder der Merowinger. Nichts aber auch von dem Modellfall skrupelloser, aber als solcher sich selbst nie eingestandener Anpassungsfähigkeit, mit der Doderer im Nachkriegsösterreich seine frühe Neigung zu Antisemitismus und Nationalsozialismus sozusagen aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängte, aber auch die erwähnten Dämonen in einem Umarbeitungsprozeß ohnegleichen aus einem Roman des Nationalsozialismus zu einem solchen gegen denselben zu machen verstand.

Das Buch ist reich bebildert: mit Autorenporträts, Theaterzetteln, Stadtansichten (etwa von Heidelberg zur Zeit der Romantik), es findet sich aber auch - höchst originell - eine Photographie einer frühen Reiseschreibmaschine, derer sich Nietzsche seit 1882 wegen seiner schlecht lesbaren Handschrift bediente.

Bibliographische Angaben fehlen dagegen völlig. Der Band schließt mit drei Registern: 1. einem Autorenverzeichnis überschriebenen, in dem unvermutet auch literarische Institutionen und Gruppen und Benachbartes wie der Palmenorden, der Pen-Club, der Malik-Verlag, die Frankfurter Schule usw. gleichsam als Personifikationen auftauchen; 2. einem Werkverzeichnis, in dem die Titel sinnvoll unter Übergehung der Artikel verzeichnet sind, in dem aber auch ein so alberner Eintrag wie Werke (Novalis) alle Lektorats- und Korrekturphasen überdauert hat, und 3. einem Sachverzeichnis. Letzteres verrät natürlich ungewollt die eine oder andere Schwäche: Nicht übel, daß es unter dem Stichwort Dinggedicht auf die Lyrik Conrad Ferdinand Meyers verweist, wo denn auch gleich noch richtig von seiner Nähe zum Symbolismus avant la lettre die Rede ist; schlecht nur, daß von den Dinggedichten bei Rilke, der dies Genre wie kein anderer Lyriker gepflegt hat, nicht die Rede ist.

Die Neuauflage dieses (trotz der vorgebrachten Monita) alles in allem höchst verdienstvollen Unternehmens wird es angesichts der Konkurrenz brauchbarer kleiner Literaturgeschichten[1] schwerer haben als die erste deutsche Ausgabe.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Zu den jüngsten vgl. IFB 96-4-448, 97-1/2-125 - 126. (zurück)

Zurück an den Bildanfang