Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
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Der große Romanführer


97-3/4-315
Der große Romanführer : 500 Hauptwerke der Weltliteratur ; Inhalte, Themen, Personen / hrsg. von Bernd Gräf. - Stuttgart : Hiersemann, 1996. - XVI, 760 S. ; 23 cm. - ISBN 3-7772-9624-4 : DM 128.00
[3572]

Als Ergänzung zur inzwischen auf viele Bände angewachsenen Reihe Der Romanführer legt der Herausgeber Bernd Gräf mit Dem großen Romanführer einen Sonderband vor, der aus den bisher erschienenen 32 Bänden "500 Hauptwerke der Weltliteratur" auswählt und in chronologischer Folge[1] anordnet, um durch "diese ungewöhnliche Darbietungsweise ... aufschlußreiche Erkenntnisse darüber, welche Themen die literarische Welt zur selben Zeit beschäftigt haben" (Klappentext), zu vermitteln. Diese "literaturgeschichtliche ... Absicht" soll "durch teils kommentierte, teils unkommentierte Inhaltsreferate" verwirklicht werden, auch wenn die "behandelten Romane keine in jeder Hinsicht repräsentative Auswahl bilden können" (Vorwort, S. VII).

Natürlich stellt sich trotz solcher vom Herausgeber ergriffenen bzw. formulierten Vorsichtsmaßnahmen die Frage nach den Auswahlkriterien des vorliegenden Bandes. Die Strategie war offensichtlich eine doppelte, wie bereits die Zwillingsformel "die wichtigsten und wirkungsstärksten Romane" andeutet: Zum einen sollte der anerkannte Kanon, sollten jene Werke, "die zum abendländischen und Weltbildungsgut gehören", berücksichtigt werden, zum anderen aber auch solche Romane nicht ausgeschlossen bleiben, die zu ihrer Zeit eine bedeutende Rolle spielten, aber "aus dem Gesichtskreis heutiger Leserinnen und Leser verschwanden und in der Literaturgeschichtsschreibung eine Randposition zugewiesen bekamen" (S. VII). Zudem, bzw. in Zusammenhang mit diesem zweiten Kriterium, da ja Nobelpreisträger oft schon nach wenigen Jahren vergessen sind, "ging es dem Herausgeber darum, alle Träger des Literaturnobelpreises [sofern sie Romanciers waren, versteht sich] mit einem ihrer Werke zu präsentieren", da die Geschichte dieses Nobelpreises "eine spezifische Form der Literaturgeschichtsschreibung [darstellt], die als zeitverpflichtetes Korrektiv zum Parnaß der 'Unsterblichen' angesehen werden muß" (S. VII). Daneben kamen zwei weitere, formale Kriterien zum Tragen, insofern pro Autor nur jeweils ein Roman ausgewählt wurde[2] und sämtliche Texte in deutscher Übersetzung vorliegen mußten, da ausschließlich übersetzte Werke besprochen sind.

An vielen Stellen widerspricht das Kriterium "ein Roman pro Autor" freilich jenem anderen der "wichtigsten und wirkungsstärksten Romane", da häufig ein und derselbe Autor - man mag an den im Vorwort so oft zitierten Goethe oder an Jean Paul, an Flaubert, Dostojewskij oder viele andere denken - mehrere Romane verfaßt hat, die wichtig und wirkungsstark wurden, auf jeden Fall wichtiger und wirkungsstärker als viele andere, die Aufnahme in Den großen Romanführer fanden. Außerdem bleibt natürlich die Entscheidung für den jeweils wichtigsten Roman strittig, denn beispielsweise bei Michel Butor hätten mit zumindest gleichem, wenn nicht größerem Recht statt Passage de Milan der Roman La Modification ausgewählt werden können, der als der meistgelesene nouveau roman gilt. Die Länge der einzelnen "Inhaltsreferate" variiert sehr stark - Fontanes Effi Briest etwa wird auf gut einer halben Seite abgehandelt, während Gides Falschmünzern mehr als fünf Seiten zukommen -, so daß einzelne Besprechungen ungleich detaillierter und informativer sind als viele andere (was natürlich auch mit der Vielzahl an Mitarbeitern zusammenhängt, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen). Von erfreulichen Ausnahmen abgesehen, begnügen sich die Darstellungen leider in vielen Fällen mit reinen Inhaltsangaben, selbst dort, wo diese, wie insbesondere bei manchen Romanen des 20. Jahrhunderts, fast nichts mehr über den Text auszusagen vermögen. So wird etwa Die Jalousie oder Die Eifersucht von Robbe-Grillet als "Psychologischer Roman" (S. 614) qualifiziert und so zusammengefaßt, daß er, wäre nicht von Autofahrten die Rede, auch hundertfünfzig Jahre früher entstanden sein könnte: keine Bemerkung zur ungewöhnlichen Erzählweise, keine zur erforderlichen Arbeit des Lesers, der sich das, was hier als kohärente Dreiecksgeschichte wiedergegeben ist, mühsam zusammensetzen muß, wenn er es denn haben will, etc.

Was das - sonst sehr ausführliche und, vor allem in bezug auf die zugrundeliegende Konzeption von Weltliteratur, sehr interessante - Vorwort verschweigt, ist die Tatsache, daß offenbar, Stichproben zufolge, sämtliche Referate identisch aus den einzelnen Bänden Des Romanführers übernommen wurden, gekürzt lediglich um den Hinweis auf andere, frühere Übersetzungen mit abweichendem Titel. Neu hingegen und in seinen Werkanalysen sehr informativ ist der den Band einleitende Essay Der antike Roman als Vorläufer und Wegbereiter der europäischen Roman-Literatur, der die bekanntesten antiken Romane zum Teil detailliert schildert und so einen ersten Einblick etwa in das Satyricon, Den goldenen Esel und die Aithiopika ermöglicht: einen Einblick, der mehr von den Texten erahnen läßt als manche Besprechung im Hauptteil.

Ergänzt wird der Band durch ein Chronologisches Verzeichnis der Träger des Nobelpreises für Literatur von 1901 bis 1995, das sich nicht nur auf Romanautoren beschränkt, sowie durch ein Register der Verfasser und Werke und ein Titelregister, das allerdings, wie in den einzelnen Bänden der Reihe auch, bedauerlicherweise nur die Übersetzungstitel nennt.

Barbara Kuhn


[1]
Zum Glück nicht, wie etwa im weiter unten besprochenen Band Romanische Prosa, chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der zugrunde gelegten Übersetzung, sonst stünde Apulejus' Goldener Esel zwischen Ecos Name der Rose und Kunderas Unerträglicher Leichtigkeit des Seins. (zurück)
[2]
Lediglich Romanzyklen wie etwa Zolas Die Rougon-Macquart stellen insofern eine Ausnahme dar, als zunächst der gesamte Zyklus und in der Folge ein einzelner Text als Beispiel präsentiert wird. (zurück)

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