Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 3/4
[ Bestand in K10plus ]
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Deutsche Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts aus


97-3/4-253
Deutsche Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts aus der Bibliothek des ehemaligen Augustinerchorfrauenstifts Inzigkofen / Werner Fechter. - Sigmaringen : Thorbecke, 1997. - XXIII, 219 S. ; 23 cm. - (Arbeiten zur Landeskunde Hohenzollerns ; 15). - ISBN 3-7995-6215-X : DM 36.00
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Man mag zunächst etwas überrascht sein, eine bibliotheksgeschichtliche Monographie im speziellen Kontext der IFB angezeigt zu finden. Das Erstaunen legt sich freilich bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis von Werner Fechters Buch, der rasch deutlich macht, daß das Herzstück dieser Arbeit aus einem Handschriftenverzeichnis besteht, wenngleich sich dieses von einem herkömmlichen Katalog in mehrfacher Hinsicht unterscheidet.

Werner Fechter hat so etwas wie einen bibliotheksarchäologischen Grabungsbericht vorgelegt - etwas einfacher formuliert: den Versuch, Umfang, Wachstum und historischen Kontext einer historischen Sammlung aus ihren heute noch greifbaren, teilweise weit verstreuten Überresten zu rekonstruieren. Dieser Bestand, die deutschsprachigen Handschriften aus dem ehemaligen Augustinerchorfrauenstift Inzigkofen bei Sigmaringen, ist für die germanistische Mediävistik seit langem eine bekannte Größe: Immer wieder wurden und werden spätmittelalterliche Inzigkofener Handschriften von der Forschung herangezogen, vor allem im Bereich der Textüberlieferung deutschsprachiger Mystik und Andachtsliteratur, wie etwa ein Blick in einschlägige Artikel des Verfasserlexikons belegt, allerdings "meistens nur einzelne Handschriften oder kleinere Gruppen ohne genauere Kenntnis anderer" (S. XIII). Der Versuch, ein umfassendes Panorama zu erarbeiten, war hingegen bisher nie unternommen worden. Fechter hatte sich seit längerem dieser Aufgabe verschrieben und in jahrzehntelanger, hartnäckiger Suche Mosaiksteinchen dieses Gesamtbilds aufgespürt und zusammengetragen, und in entsprechend interessierten Fachkreisen war bekannt, wessen Terrain die Inzigkofener Bibliothek war und an wen man sich zu wenden hatte, wenn man hierzu etwas erfahren wollte oder aber seinerseits eine Beobachtung oder einen kleinen Fund beisteuern konnte.

Nun liegt Fechters lange erwartetes Buch vor - leider mit erheblicher Verzögerung, deren Ursachen das Vorwort des Herausgebers referiert. Der im Juni 1994 verstorbene Autor hat das Erscheinen seines bereits 1987 abgeschlossenen und danach nur noch punktuell ergänzten Manuskripts in Buchform leider nicht mehr erlebt. Im Rahmen der Drucklegung wurden die vom Autor erstellten Register im Auftrag der herausgebenden Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg überarbeitet und durch Orts- und Personenindices ergänzt; die nach 1987 erschienene Forschungsliteratur erfuhr hingegen bedauerlicherweise keine Berücksichtigung mehr.

Zur Gliederung des Buchs: Seinen Kern bildet, wie schon angedeutet, ein Verzeichnis von 52 Handschriften mit Inzigkofer Provenienz (S. 43 - 172). Die Folie dazu bietet der einleitende Überblick über die Geschichte des Stifts von seiner Gründung um die Mitte des 14. Jahrhunderts bis ca. 1600 (S. 5 - 42) mit besonderem Gewicht auf der personellen Zusammensetzung des Konvents (S. 18 - 42: Die Schwestern); zwei abschließende Kapitel gelten der Aufbereitung und Interpretation des im Katalog vorgestellten Materials unter dem Aspekt der Leseinteressen und Lesegewohnheiten des Inzigkofener Konvents und im Hinblick auf die entsprechenden Strategien und Mechanismen im Hinblick auf die Beschaffung von Texten (S. 173 - 182: Eigene Handschriftenproduktion und Importe, S. 183 - 192: Literarische Beziehungen). Erschlossen wird das Ganze durch fünf Register: 1. Handschriften und Inkunabeln, 2. Verfasser, Übersetzer, Bearbeiter, Texte, 3. Inzigkofer Schwestern, 4. Weitere Personen, 5. Orte.

Im Rahmen von IFB steht naturgemäß der Katalogteil im Vordergrund des Interesses. Er konzentriert sich, wie der Titel des Buchs deutlich macht, auf den Bestand, den die alten Besitzvermerke als gemaine teutsche liberey bezeichnen, d.h. auf jene Handschriften, die überwiegend oder ausschließlich deutsche Texte enthalten und offenbar vor allem der persönlichen Lektüre und geistlichen Formung des Konvents gedient haben dürften. Die zeitliche Grenze des Verzeichnissses liegt bei ca. 1600.

Ordnungsprinzip ist nicht die aktuelle Bibliothekssituation, also die Abfolge der heutigen Aufbewahrungsorte, die sich von Berlin (mit dem Löwenanteil) über Budapest, München und Straßburg bis Wien erstreckt - eine knappe Übersicht dazu wird S. 47 f. geboten -, sondern vielmehr die Chronologie der Handschriften. Hintergrund für diese sinnvolle und begründete Entscheidung ist die Option für eine genetische Perspektive, läßt doch ein in dieser Weise strukturierter Katalog zumindest grundsätzlich Wachstum und Entwicklung des Bestands ablesbar werden. Daß damit auch eine gewisse Problematik verbunden ist, verschweigt der Autor nicht: Zum einen ergibt sich die Schwierigkeit der Einordnung undatierter Handschriften in das Gerüst der datierten Stücke, und zum anderen ist stets zu bedenken, daß auswärts geschriebene und möglicherweise erst einige Zeit später nach Inzigkofen gelangte Handschriften in diesem Katalog bibliotheksgeschichtlich gesehen "an zu früher Stelle" auftauchen (S. 51). Daß eine aus zwei unterschiedlich datierten Teilen zusammengesetzte Handschrift, nämlich Ms. germ. 2ø 1045 der Berliner Staatsbibliothek, auf zwei verschiedene, dazu noch weit auseinanderliegende Katalognummern verteilt wird (Nr. 3 und Nr. 21), mag zunächst etwas befremdend wirken, ist aber nur die logische Folge dieses konsequent durchgehaltenen Ordnungsprinzips.

Eine eingehende Würdigung des inhaltlichen Ertrags muß fachwissenschaftlichen Rezensionen vorbehalten bleiben. Festzuhalten ist hier zusammenfassend, daß es Fechter gelungen ist, anhand des akribisch untersuchten Fallbeispiels Inzigkofen nicht nur die Grundlage für eine Literaturgeschichte dieses Frauenklosters zu legen, sondern auch Aspekte spätmittelalterlicher Buchproduktion und Bibliotheksgeschichte und Fragen der Mentalitäts- und Frömmigkeitsgeschichte sowie der (geistlichen) Literatursoziologie von durchaus allgemeiner Relevanz ins Bild zu bringen.

In methodischer Hinsicht ist ein gewisser Mangel an formaler Konsequenz der Katalogbeschreibungen nicht zu übersehen. Er dürfte mit der eingangs beschriebenen, über einen langen Zeitraum sich erstreckenden Entstehungsgeschichte des Buchs zusammenhängen. Die Katalogisate folgen, wie Fechter selbst signalisiert, "keinem festen Schema" (S. 52). Insbesondere gilt dies, wie betont wird, für die Auswahl und den Umfang der mitgeteilten Textzitate, doch läßt sich auch für andere Aspekte der Präsentation Ähnliches feststellen. Im Lauf der Lektüre der Handschriftenbeschreibungen verfestigt sich der Eindruck, daß dieser Mangel an Einheitlichkeit - und letztlich wohl auch die nicht ganz geglückte Trennung zweier Genera, nämlich Katalog und historische Darstellung, und ihrer jeweiligen Idiome - nicht ohne Folgen für die Transparenz und Lesbarkeit damit auch für den Informationsgehalt der Beschreibungen geblieben sind. So haben das Schwanken und die teilweise fließenden Übergänge zwischen stichwortartigem Katalogstil und narrativem Sprachduktus zur Folge, daß Hinweise etwa zu älteren Beschreibungen oder Sekundärliteratur, zu kodikologischen Aspekten wie Wasserzeichen, Schreibern oder Einbänden, aber auch zu Besitzvermerken, alten Signaturen und ähnlichem mehr leider nicht konsequent an derselben Stelle innerhalb der Beschreibungen zu finden sind, sondern oftmals an ganz unterschiedlichen Orten, vielfach auch aus erzählenden Partien, zusammengesucht werden müssen. So sehr ein flexibles Eingehen auf die spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Handschriften zu begrüßen ist, so sehr vermißt man hier doch eine übersichtliche, stets an gleicher Position plazierte und einem einheitlichen Schema verpflichtete Gruppierung der kodikologischen, historischen und bibliographischen Grundinformationen im Dienst einer raschen und präzisen Orientierung. Zur Kodikologie ist im übrigen festzustellen, daß sie gegenüber der Erschließung und Präsentation der Texte (die freilich ohne Initien-Register bleibt) insgesamt eher stiefmütterlich behandelt wird; insbesondere gilt dies für die einbandkundlichen Aspekte, die weitgehend ausgeblendet werden.

Gewisse Abstimmungsprobleme, die ebenfalls auf die Genese des Werks zurückgehen dürften, sind auch im Verhältnis der Beschreibungen untereinander nicht zu übersehen. Einerseits entsteht da und dort der Eindruck einer gewissen Redundanz, andererseits fehlt wiederum an manchen Stellen die Verknüpfung durch Querverweisungen, die Zusammenhänge sichtbar machen würden (für einen Katalog, der kaum jemals "quer" gelesen, sondern eher im punktuellen Informationseinstieg benutzt wird, an sich unerläßlich). Dies gilt insbesondere für die Behandlung von Personen, die in mehreren Beschreibungen vorkommen - lediglich als Beispiele seien der Blaubeuerer Mönch Thomas Finck, der Kaplan Johannes Kurfi oder die im Dominikanerinnenkloster St. Gallen wirkende Elisabeth Muntprat (d.Ä.) angeführt - , aber auch für das Verhältnis zwischen dem Katalogteil insgesamt und dem historischen, besonders dem personengeschichtlichen Vorspann: etwa wenn die bedeutendste Schreiberin, die spätere Priorin und Pröpstin Anna Jäck aus Biberach in den Beschreibungen genannt wird, ohne daß auf die entsprechende Stelle im prosopographischen Teil (S. 23) verwiesen würde, wo die biographischen und bibliographischen Informationen zu finden sind. Die erforderliche Rückkoppelung ist jeweils nur über das Register gegeben.

Postume Kritik hat immer etwas Problematisches an sich. Wenn der Bewunderung vor den breiten Kenntnissen und dem Spürsinn eines Forschers und dem Respekt vor mühevoller, über lange Jahre investierten Kleinarbeit hier, insbesondere bezüglich der Methodik des eigentlichen Katalogteils, einige kritische Töne beigemischt worden sind, dann nicht als Ausdruck formalistischer Pedanterie, sondern im Sinne ernsthafter Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Arbeit, die sich wohl auch Werner Fechter für sein Buch gewünscht hat - zumal Fragen der methodischen und formalen Konsequenz bei einer Gattung wie dem Handschriftenkatalog immer auch die inhaltliche Substanz berühren.

Eine Fortsetzung des vorliegenden Buchs hat Fechter weiterer Forschung als Anregung und Vermächtnis hinterlassen: "Aufgabe der Zukunft" wäre es, durch einen Vergleich mit anderen Bibliotheken spätmittelalterlicher Frauenkonvente "die Eigenart des Inzigkofener deutschen Handschriftenbestandes sichtbar zu machen" (S. 188). Voraussetzung dafür ist allerdings, daß das, was hier für Inzigkofen geleistet worden ist, in ähnlicher Weise auch für andere Institutionen erarbeitet würde. Entsprechende Grabungsberichte (um das eingangs verwendete Bild noch einmal heranzuziehen) liegen allerdings, und dies gilt nicht nur für den südwestdeutschen Raum, einstweilen lediglich in Einzelfällen vor. Exempla trahunt - vielleicht kann Werner Fechters Beispiel hier katalysatorische Wirkung entfalten.

Felix Heinzer


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