Hatten die beiden ersten Ausgaben von Zeitler und Zastrau in
traditioneller Lexikonmanier durch Namen-, Sach- und Werkartikel in
Goethes Leben und Werk eingeführt, so stellt die dritte Ausgabe in
Konzeption wie Realisierung etwas grundsätzlich Neues dar. Das Vorwort
von B. Witte umschreibt in barockem Akademikerdeutsch als Ziel, "ein
handliches, die heute erreichbaren Informationen zusammenfassendes und
die aktuellen Fragestellungen der Forschung herausarbeitendes
Nachschlagewerk zu Goethes Werken und seinem Leben zu liefern" (Bd. 1,
S. VIII). Damit folgt der Verlag einem neuen, seit etwa zwei
Jahrzehnten präsenten Typ des Autoren-Handbuchs, das auch Metzler
selbst[1] bereits praktiziert hatte. Dieser Handbuchtyp erschließt vor
allem das Werk eines Autors durch Überblicks- und Einzelanalysen.
Eine solche Hinführung zum Werk geschieht im neuen Goethe-Handbuch,
das von der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Stiftung Weimarer Klassik
gefördert wird, in den Bänden 1 - 3. Sie behandeln das lyrische,
dramatische und Prosawerk. Der vierte Band wird das Biographische im
engeren Sinne präsentieren und traditionell, aber auf neuestem
inhaltlichen und methodischen Stand, Personen- und Sachartikel bieten.
Auf diese Weise wird angestrebt, dem Kosmos des Goetheschen Werkes und
dem Exemplarischen seines Lebens und Wirkens in einer Zeit säkularer
Umbrüche gerecht zu werden.
Die Qualität des neuen Handbuchs - soweit bereits an den ersten beiden
Bänden ablesbar und prüfbar - wird vor allem von drei konzeptionellen
Grundprinzipien getragen:
1. Es wird nicht nur Textnähe angestrebt, sondern durchgehend
praktiziert. Es kommt nicht nur Goethe selbst reichlich zu Wort, jedes
Kapitel enthält auch differenzierte Bemerkungen zur jeweiligen
Textüberlieferung, führt also auch in die editorischen und
philologischen Probleme ein.
2. Die vermeintliche "Objektivität" mancher traditioneller Lexika,
d.h. die sowieso niemals einzuhaltende behauptete Abstinenz von
Interpretation, wird mit Recht beiseite gelassen und im Rahmen des
lexikalisch Möglichen bewußt auch Interpretation angeboten. Subjektive
Sichtweisen sind damit nicht ausgeschlossen; der Anspruch der
Herausgeber und Beiträger, die neueste Forschungslage auszuloten, aber
durchaus akzeptabel und nützlich. Ausnahmen bestätigen die Regel; so
vermißt man z.B. in den im übrigen vorzüglichen Einführungskapiteln
Goethe als Lyriker bzw. Frühe Lyrik 1767 - 1779 (1, S. 1 - 17 bzw. 32
- 44) W. Dietzes Buch über Goethes Lyrik[2] bzw. seine Darstellung der
Leipziger Lyrik,[3] eine der wenigen Spezialabhandlungen zu diesem Thema
überhaupt.
3. Die bibliographische Information am Ende jedes Beitrags ermöglicht
eigenes weiterführendes Studium. Es muß allerdings einschränkend
bemerkt werden, daß in den ersten drei Bänden diese bibliographischen
Zusammenstellungen zugleich als Zitatnachweis dienen, was zu solchen
kuriosen Erscheinungen führen kann, daß eine mehrbändige, summarisch
verzeichnete Kant-Ausgabe genannt wird, bloß weil eine winzige Zeile
daraus im Text zitiert wird.[4] Und nicht immer sind Zitat und dessen
Nachweis kongruent. Insgesamt sind die einzelnen Bibliographien aber,
von Ausnahmen abesehen, durchaus gut ausgewählt und zuverlässig.
Diese soliden Grundprinzipien werden geschickt in einem adäquaten
methodischen Grundraster vom Allgemeinen zum Besonderen verwirklicht.
Vorangestellt werden nicht nur generelle Überblickskapitel wie Goethe
als Lyriker (1, S. 1 - 17) und Goethe als Dramatiker (2, S. 1 - 20),
letzteres stellenweise etwas langatmig, sondern auch präzise
Informationsteile zur Textedition oder zu einzelnen Abschnitten des
lyrischen Schaffens wie neben der frühen Lyrik zur Lyrik des ersten
Weimarer Jahrzehnts 1776 - 1786, der Lyrik der klassischen Zeit 1787
- 1906 usw. bzw. zu Werkgruppen des dramatischen Schaffens wie
Dramenfragmente und kleine Dramen; Singspiele; Dramen zum Thema der
Französischen Revolution usw. All das natürlich chronologisch
verbunden mit den Beiträgen über einzelne Gedichte, Gedichtzyklen bzw.
Dramen. Dabei kommt es gelegentlich auch einmal zu Doppelungen;
beispielsweise wird Des Epimenides Erwachen kurz im Überblickskapitel
Festspiele (2, S. 338 - 340) und anschließend (von einem anderen
Autor!) nochmals ausführlich (2, S. 341 - 351) behandelt.
Gewiß war es schwierig, für Bd. 1 aus dem lyrischen Gesamtwerk von
etwa 3000 Gedichten nur ca. 100 für die Einzelinterpretation
auszuwählen. Manches war nur summarisch in den Überblickskapiteln zu
bewältigen. Die Spruchdichtung, vor allem nach 1800 ein wichtiger
Part, scheint insgesamt zu kurz weggekommen zu sein (Erwählter Fels,
Einsamkeit, Weissagungen des Bakis u.a.). Zu bedauern ist auch, daß
Gedichte wie Hans Sachsens poetische Sendung, Der Schatzgräber oder
Mignon keine eigenen Artikel erhielten, zumal z.B. zu Mignon vermerkt
wird, daß es fast 100mal vertont wurde (1, S. 194). Bei Ilmenau und
Auf Miedings Tod (1, S. 163 - 173) stimmt die Reihenfolge
chronologisch nicht, zu letzterem fehlt der nicht unwichtige und zu
interpretierende Hinweis, daß es das erste im klassischen fünfhebigen
Jambus geschriebene Gedicht Goethes ist. Die Interpretation so
aufeinander zu beziehender Gedichte wie Prometheus und Ganymed
(Verselbstung - Entselbstung) hätte man wie im Falle Ilmenau und Auf
Miedings Tod geschehen nur einem Autor übertragen sollen.
Im Bd. 2 bleibt kein Werk ohne angemessene Interpretation, wobei neben
der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte auch die
Bühnengeschichte einbezogen wird. Großen Raum nimmt die Darstellung
zur Faust-Dichtung ein (2, S. 352 - 538), die neben der ausführlichen
Einführung in die Teile der Dichtung vom Urfaust bis zu Faust II und
deren Bühnengeschichte auch spezielle Überblicke zur allgemeinen
Faust-Rezeption und im besonderen zur Widerspiegelung in der bildenden
Kunst umfaßt. Angesichts einiger verfügbarer guter Einführungen in die
Faust-Dichtung fragt man sich allerdings, ob solcher Aufwand
gerechtfertigt ist, zumal er auf 5 Autoren verteilt wurde. Auch die
verschiedenen bibliographischen Zusammenstellungen zu den
Faust-Kapiteln hätten besser koordiniert werden können.
Die Vielzahl der Mitarbeiter - insgesamt werden über 200 beteiligt
sein - und ihre individuellen Verfahrensweisen, zum anderen die in der
Materie selbst begründeten Ansprüche bringen es naturgemäß mit sich,
daß dem Leser und Nutzer an verschiedenen Stellen besondere
Konzentration abverlangt wird. Doch insgesamt ist die einem
Nachschlagewerk angemessene präzise Übersichtlichkeit sowie
verständliche sprachliche Form und Lesbarkeit hervorzuheben.
Jeder Band ist mit Registern der jeweils behandelten Goetheschen Werke
und der erwähnten Personen (ohne Autoren von Sekundärliteratur)
versehen; ein kumulierendes Register im Bd. 4 ist allerdings nicht
vorgesehen. Ein Mangel der Werkregister besteht darin, daß die
Seitenzahlen aller Erwähnungen undifferenziert, d.h. ohne
typographische Heraushebung der jeweiligen speziellen Werkkapitel,
angegeben werden. Im Lyrik-Werkregister fehlen leider auch die Titel
der Gedichtzyklen (Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten,
Trilogie der Leidenschaft, West-östlicher Divan). Die für alle Bände
geltende Sigelliste ist akzeptabel; es fehlt aber eine Sigle zur
Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe.
Die beiden hier zu betrachtenden ersten Bände erwecken Vertrauen. Das
durchdachte Konzept wird gut umgesetzt; das redaktionelle Niveau
verrät Professionalität im einzelnen. Das neue Goethe-Handbuch wird
sehr bald nicht nur für Germanisten und Goetheforscher, sondern vor
allem auch für Wissenschaftler vieler weiterer Fachgebiete, Studenten,
Pädagogen, Journalisten, Redakteure usw. und für die Liebhaber des
Goetheschen Werkes aller Couleurs zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel
und Nachschlagewerk werden.
Siegfried Seifert
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