Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Goethes Leben von Tag zu Tag


97-1/2-135
Goethes Leben von Tag zu Tag : eine dokumentarische Chronik / von Angelika Reimann. - Zürich : Artemis-Verlag. - 24 cm. - Bd. 1 - 5 bearb. von Robert Steiger, Bd. 6 bearb. von Robert Steiger und Angelika Reimann
[3778]
Bd. 8. 1828 - 1832. - 1996. - 619 S. - ISBN 3-7608-2738-1 : DM 168.00

1982 begann diese "dokumentarische Chronik" zu erscheinen, nun liegt ihr inhaltlich-biographischer Teil vollständig vor, - das ist für ein derart opulentes Oeuvre ein bemerkenswert kurzer Zeitraum. Von Robert Steiger, der die Bd. 1 - 4 und einen Teil des Bd. 5 allein bearbeitete, stammt die inhaltlich-methodische Konzeption. Sie zielt auf die Integration aller wichtigen Quellen zu Goethes Biographie; bisher schon vorhandene Nachschlagewerke - wie z.B. Franz Göttings weitverbreitete kleine Chronik von Goethes Leben (1. Ausg. 1953) - wurden aufgearbeitet, durch tiefergehende Quellenanalysen wesentlich ergänzt und erweitert. Als Darbietungsform wurde dementsprechend eine Verbindung von Daten- und Sachinformation mit Zitaten bzw. Resümees aus Briefen, Tagebüchern und anderen autobiographischen Zeugnissen Goethes sowie aus Einzel- und Sammelausgaben der Gespräche mit Goethe gewählt, all das sorgfältig dokumentiert und stellenweise durch eingefügte Erläuterungen und Kommentare ergänzt.

Das entscheidend Neue jedoch, worin sich Steigers Konzeption von den bisherigen biographischen Dokumentationen zu Goethe unterscheidet, ist die exakte Widerspiegelung des jeweiligen Tages, so wie ihn Goethe erlebte und gestaltete. Insofern ist der Titel des Werkes wörtlich zu nehmen, d.h. nicht die Ereignisse und Vorgänge schlechthin, sondern deren Aufnahme durch Goethe und seine Reaktionen werden vorgestellt, dazu seine eigene Arbeitsleistung am jeweiligen Tag. (Das hat zur Folge, daß einschneidende Ereignisse wie z.B. der Tod seines Sohnes August am 26.10.1830 in Rom erst am 10. 11. 1830, als Goethe davon erfuhr, dokumentiert und reflektiert werden. Ähnlich auch der Tod Herzog Carl Augusts am 14.06.1828, gespiegelt in Goethes Reaktion am 15. 06. usw.) Das Ergebnis ist die spannende, multidimensionale, sich oft in schroffen Gegensätzen vollziehende tägliche wirkliche Biographie eines tätigen Menschen, die zugleich zur inneren Biographie wird, vor allem durch die Verflechtung mit der Genese poetischer und wissenschaftlich-kritischer Werke und Schriften Goethes. So ergibt sich eine Totalität von teilweise faszinierender Unmittelbarkeit. Hinzu kommt die subjektive Spiegelung durch die Äußerungen der Zeitgenossen.[1]

Allerdings ergeben sich hieraus Probleme des exakten allgemeinen Datenablaufs, also des gesamten zeitgenössischen Kontexts für Goethes Leben. Die umfassende Textdarbietung stellt zudem hohe Anforderungen an den Nutzer. Angesichts der Dimensionen dieses diarisch strukturierten Materials hätten übergreifende Monats- oder Jahreszusammenfassungen (z.B. Nennung der jeweiligen Werke Goethes u.ä.)[2] zur Übersichtlichkeit beitragen können, allerdings den Bearbeitungsaufwand noch mehr erhöht. Auch typographisch wäre in dieser Hinsicht mehr möglich gewesen. Einige dieser Probleme könnte der kommende Registerband lösen helfen.

Hatte jeder der Bd. 1 - 7 einen relativ großen Zeitabschnitt erfaßt, bezieht sich der 8. Bd. infolge der Dichte der Zeugnisse auf nur reichlich vier Jahre, die letzten der Goetheschen Existenz. Diese sind bedeutsam genug. Biographische Einschnitte wie die erwähnten Todesfälle stehen neben den intensiven Arbeiten an der Ausgabe letzter Hand und dem Abschluß so gewichtiger Werke wie Faust II, Dichtung und Wahrheit oder der Italienischen Reise. Die Fülle der Besucher, Gespräche, Korrespondenzen und der entsprechenden Themen ist unerschöpflich. Querverweisungen erleichtern das Erkennen zeitlicher Abläufe zu einem bestimmten Sachverhalt. Die Bearbeiterin von Bd. 8, A. Reimann, hatte schon im Vorwort zu Bd. 6. 1814 - 1820 (1993) darauf hingewiesen, daß wegen der Fülle des überlieferten Materials zu den letzten Goetheschen Lebensjahrzehnten bei der Wiedergabe von Tagesinformationen "ohne erhellenden Bezug zu Goethes Persönlichkeit" (ebd., S. 5) und von Äußerungen Dritter über Goethe Einschränkungen stattfinden müßten. Da dies gelungen ist, ohne die Konturen zu verwischen, erhebt sich die Frage, ob den vorausgegangenen Bänden solche Konzentration, dort wo sie möglich und sinnvoll gewesen wäre, nicht auch gut getan hätte. Die Bearbeiter versuchen, wichtige, vor allem auf den ersten Blick unverständliche Passagen der zitierten Texte oder unbekannte Namen zu erläutern oder zu kommentieren. Dies erfolgt meist durch Einschübe in eckigen Klammern, wodurch an einigen Stellen durch Überlagerungen die Übersicht verloren zu gehen droht (z.B. Bd. 8, S. 408 u.a.). Doch das Werk wäre überfordert, eine generelle Zeilenkommentierung vorzunehmen, - hier ist es nur eine Brücke zu den ausführlich kommentierten Werk- und Einzelausgaben bzw. Gesprächsammlungen, Spezialdokumentationen usw.

Dem abschließenden Bd. 9, der den - noch nicht näher vorgestellten - Registerapparat enthalten wird, kommt große Bedeutung für die volle Nutzung des Reichtums der Materialbände 1 - 8 zu. Wie die Bearbeiter die Probleme der kumulierenden Zusammenfassung, der Erschließung und Erläuterung, aber auch der zusätzlichen Kommentierung der riesigen Zahl der Namen, Sachzusammenhänge und Werke in den methodischen Grenzen eines Registersystems lösen werden, wird für die Gesamtwertung dieses außerordentlich verdienstvollen, vielleicht dann unentbehrlichen Werkes, von ausschlaggebender Bedeutung sein. Bei dem vorliegenden Umfang und seiner inhaltlichen Vielschichtigkeit liegt übrigens eine CD-ROM-Version förmlich in der Luft.

Siegfried Seifert


[1]
Gert A. Zischka hatte mit seiner Tageskonkordanz der Begebenheiten, Tagebücher, Briefe und Gespräche Goethes ebenfalls Anfang der 80er Jahre eine ähnliche Konzeption verfolgt; nach forschem Beginn - Bd. 1 (1980) - 3 (1984) - kam sein Projekt jedoch ins Stocken. (zurück)
[2]
Vgl. hierzu Zeittafel zu Goethes Leben und Werk / Heinz Nicolai. - München, 1977, wo einige solcher Elemente praktiziert werden. (zurück)

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