Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Die Philosophie im lateinischen Mittelalter


97-1/2-117
Die Philosophie im lateinischen Mittelalter : ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium / Peter Schulthess und Ruedi Imbach. - Zürich ; Düsseldorf : Artemis & Winkler, 1996. - 605 S. ; 25 cm. - ISBN 3-7608-1127-2 : DM 128.00
[3636]

Es ist wichtig, schon den Titel dieses Buches genau zu lesen, da er differenziert vorsichtig andeutet, daß es nicht um eine irgendwie einheitliche "lateinische" Philosophie, sondern um das lebendige Mit- und Gegeneinander der philosophischen Bemühungen in einem bestimmten Zeitraum und - jedenfalls im ersten Teil - einer bestimmten Sprache geht. Der Zeitraum reicht von der karolingischen Renaissance (Alkuin) bis kurz über die Mitte des 15. Jahrhunderts (Nikolaus von Cues). Der Band besteht aus zwei nur bedingt miteinander verzahnten Teilen: einer fast dreihundertseitigen Monographie (P. Schulthess) und einem biobibliographischen Repertorium.

Die Anlage ist originell und macht aus dem Werk sowohl ein für den Nichtspezialisten durchaus an- und aufregend zu studierendes Lesebuch als auch ein Nachschlagewerk, das in seinem Umfang manches größere Lexikon aussticht. Damit ist auch wohl die verlegerisch gemeinte Zielgruppe angedeutet: alle, die an der Erläuterung von Zusammenhängen interessiert sind, daneben aber einen schnellen Zugriff auf Einzelinformationen über die behandelten Denker und überhaupt über die philosophischen Autoren des lateinischen Mittelalters suchen bis hin zu präzisen Angaben über Editionen und die wesentliche Sekundärliteratur.

Der erste Teil - die "Philosophiegeschichte" - ist zugegebenermaßen aus dem Interessenfeld des Autors bestimmt, der theoretischen Philosophie (12), wobei der Untertitel - "Ein an der Rezeption der (spät-)antiken Texte orientierter Überblick" (15) nochmals spezifiziert. Es ist im übrigen ein Vergnügen, zu sehen, wie vielfältig die Zugänge zur mittelalterlichen Philosophie inzwischen geworden sind. Das eingangs des Textes zitierte, aus purer Unkenntnis herrührende Hegel-Wort über die Unbrauchbarkeit und Gräßlichkeit der mittelalterlichen Philosophie richtet sich inzwischen selbst; nicht einmal Apologetik des Mittelalters - wie etwa bei Propagatoren mittelalterlichen Denkens der Generation J. Pieper u.a. - ist mehr nötig. Die Zugriffe erfolgen aus ganz verschiedenen Interessen, wobei die historisierende Repristination einer "Philosophie der Vorzeit" ebenfalls inzwischen einer solchen angehört.

Die Inhalte dieser ohnehin schon sehr komprimierten Darstellung können hier nicht einmal angedeutet werden. Themen wie das der Integration der arabisch-islamischen Philosophie oder die konzise Darstellung Thomas von Aquins und die Darstellung des Seinsbegriffs des Duns Scotus scheinen mir musterhaft: für die Darstellung eines in seinen Zusammenhängen kaum differenziert in der Öffentlichkeit bekannten Komplexes ersteres, für die präzise Information über einen aus anderen Interessen vielfach dargestellten Denker oder für die lesbare Darstellung eines für seine Scharfsinnigkeit zu Recht berühmten und berüchtigten Meister der Scholastik die beiden anderen Themen.

Der zweite Teil folgt einem strikten Aufbau. Die ca. 600 Einträge nennen Namen, Lebensdaten, den "wissenschaftlichen Lebensweg" der genannten Personen und bieten evtl. eine Kurzkennzeichnung. Soweit die Personen im ersten Teil behandelt sind, wird darauf verwiesen. Es folgen die Rubriken Werke und Lit., wobei bei ersterem gleichzeitig Hinweise auf Editionen wie auf moderne Übersetzungen gegeben sind, ggf. auch auf ausführliche Werkverzeichnisse. Die Literatur ist naturgemäß knapp ausgewählt, nennt mit Siglen wesentliche lexikalische Darstellungen und Repertorien (z.B. die Medieval Latin Aristoteles commentaries von Charles H. Lohr) und bietet so in knapper Form ein immenses Material.

Der zweite Teil ergänzt die Übersicht des ersten Teils ganz wesentlich. Vergleicht man die Namen mit dem Register der Darstellung von Flasch,[1] so sind hier allein unter "A" fast 60 Namen genannt, die dort nicht auftauchen. Daß andererseits über 30 Namen keinen Hinweis auf den darstellenden Teil enthalten, zeigt, daß eine Darstellung uferlos würde (und wohl nur nach Art des neuen Ueberweg durchführbar wäre), die wirklich alle Namen verarbeiten würde. Im übrigen erlauben es die Kurzkennzeichnungen häufig trotzdem, die Bezüge herzustellen (etwa bei Gaunilo).

Nicht aus modischen Gründen sei hinzugesetzt, daß die knapp 20 Einträge von Frauennamen praktisch nicht in der Darstellung vorkommen, - angesichts der oben genannten vornehmlichen Beschränkung auf die theoretische Philosophie vermutlich zu Recht. Die tatsächlich dort vorkommenden Namen sind auch nicht aus Gründen theoretischer Philosophie genannt (z.B. Heloissa). Das inhaltliche Spektrum reicht übrigens - ausgleichende Gerechtigkeit - viel weiter als bei den männlichen Philosophen (Dhuoda, Hrosvitha u.a.). Übrigens wird an diesem Punkt nochmals eine Differenzierung, die im Titel nur vermutet werden kann, wesentlich: Es finden sich hier auch viele volkssprachliche Autorinnen "im lateinischen Mittelalter".

Wer bibliographische Arbeit kennt, der weiß, daß an solchen Zusammenstellungen immer noch verbessert werden kann. Ob einzelne Auslassungen bewußt vorgenommen sind oder versehentlich fehlen,[2] ist nicht so relevant, da die wesentlichen Einstiegspunkte zur Recherche genannt sind. Wesentlicher wäre es vielleicht, elektronisch vorhandene Texte exakter bibliographisch zu nennen (nicht nur: "auch als CD-ROM", wenn deren Titel nicht übereinstimmt: 593; überhaupt sind CD-ROMs bibliographisch genauso exakt zu zitieren wie Bücher); noch optimaler - wenn auch mühselig - wäre es gewesen, die elektronischen Corpora aufzuschlüssen: daß Bernhard von Clairvaux im elektronischen Migne wie - seit dem zweiten Update - in der kritischen Ausgabe im CLCLT[3] enthalten ist; daß Werke Bonaventuras oder des Raimundus Lullus ebd. vorkommen etc. Überhaupt werden die elektronischen Informationswege wohl bald für derartige Repertorien ganz andere Bedeutung annehmen. Die Einsteige in Buchform müssen darum nicht überflüssig werden, aber sie werden diese "Informationswelt" stärker einbeziehen müssen.

Diese Wendung mag noch etwas futurologisch sein. Für den Augenblick haben wir mit diesem Werk ein überlegt konzipiertes und insgesamt sehr zuverlässig wirkendes Repertorium vor uns, das eine gute Übersicht und ein umfassendes lexikalisch-bibliographisches Gerüst für einen jeden bietet, der sich mit diesen - zieht man die rezipierten Werke mit heran - über tausend Jahren faszinierender Philosophiegeschichte beschäftigen muß oder möchte.

Albert Raffelt


[1]
Das philosophische Denken im Mittelalter : von Agustin bis zu Machiavelli / Kurt Flasch. - Stuttgart : Reclam, 1986. - 720 S. - (Universalbibliothek ; 8342). - ISBN 3-15-008342-7 (kart.) : DM 25.00 - ISBN 3-15-028342-6 (geb.) : DM 36.80. (zurück)
[2]
Z.B. die Gabriel/Dupré-Ausgabe und Übersetzung der Werke des Cusaners, Wien, 1964 - 1967; die Largier-Ausgabe des Meister Eckart, Frankfurt, 1993 - wegen des geringen Anteils lateinischer Werke dieses Bandes der Bibliothek deutscher Klassiker vielleicht noch eher berechtigt -, überhaupt diverse Übersetzungen oder bei dem dankenswerterweise berücksichtigten Thomas Migerii die kommentierte Faksimile-Ausgabe des Breviculum, 1988 u.a.m. (zurück)
[3]
Cetedoc library of christian Latin texts [Computerdatei] : CLCLT ; base de données pour la tradition occidentale latine / Universitas Catholica Lovaniensis Lovanii Novi. - [Turnhout] : Brepols. - Textgrundlage: Corpus christianorum : Series latina; Corpus christianorum : Continuatio mediaevalis; Patrologiae latinae supplementum; Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum; Sources chrétiennes; S. Bernardi opera omnia; Biblia sacra juxta vulgatam versionem [2596]. - Release 2 (1994). - 1 CD-ROM + Guide de l'utilisateur = User's guide / Paul Tombeur. - 2. éd. rev. et ampl. - 1994. - 115 S. - ISBN 2-503-50397-7. - Vgl. IFB 95-1-158. - Inzwischen liegt die 3. Ausg. 1996 vor. (zurück)

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