Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie


97-1/2-116
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie / unter ständiger Mitwirkung von Siegfried Blasche ... in Verbindung mit Martin Carrier und Gereon Wolters hrsg. von Jürgen Mittelstraß. - Stuttgart ; Weimar : Metzler. - 25 cm. - Bd. 1 - 2 ersch. im Verlag Bibliographisches Institut, Mannheim [u.a.]
[0586]
Bd. 4. Sp - Z. - 1996. - 872 S. - ISBN 3-476-01353-7 : DM 248.00, DM 198.00 (bis 30.06.1997)

Eine gängige Vorstellung der Wissenschaftsgeschichtsschreibung besagt, daß Philosophie und Wissenschaft, von den Ursprüngen in der griechischen Antike her betrachtet, eins waren. Genaugenommen, verstand sich Philosophie auch als Wissenschaft. In dieser Perspektive deutet sich an, daß der Wissenschaft eine der Philosophie nur untergeordnete Funktion zukommen sollte. Mit dieser ersten Distanzierung von Philosophie und Wissenschaft wurde ein Prozeß eingeleitet, in dessen Verlauf sich die Wissenschaft wie die Fachwissenschaften von der Philosophie ablösten. Der Erfolg der Naturwissenschaften in der frühen Neuzeit wurde zur Krise der Metaphysik, und Philosophie galt von nun an selbst nur noch als Teil der Vor- und Frühgeschichte von Wissenschaft. Der Verabschiedung der Philosophie als Fundamentalwissenschaft folgten Versuche, die verlorengegangenen Kompetenzen zurückzugewinnen. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang die Wissenschaftstheorie, die, selbst ein Teilgebiet der Philosophie, die Theorie- und Begriffsbildungen insbesondere der empirischen Wissenschaften untersucht. Wissenschaftstheoretische Fragestellungen vor allem der klassischen Geisteswissenschaften erörtert die Hermeneutik.

Die nunmehr in vier Bänden abgeschlossen vorliegende Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie hat sich zum Ziel gesetzt, "aus philosophischer Sicht eine Brücke zwischen der Philosophie und den Wissenschaften zu schlagen, gestörte Verhältnisse zwischen Philosophie und Wissenschaft wieder ins (zumindest enzyklopädisch) Reine zu bringen" (Bd. 4, S. 6). Mit Bd. 4 und den 872 Seiten, auf denen Einträge von spekulativ/Spekulation bis Zynismus versammelt sind, kommt eine von Zielsetzung und Umfang anspruchsvolle Publikation zum Abschluß, die immerhin seit 1980 läuft und nach Erscheinen von Bd. 2 ins Stocken geraten war.[1] Zu entscheiden, ob der Brückenschlag gelungen ist, wird den Adressaten dieser Enzyklopädie überlassen; das sind, nach dem Herausgeber, Gottsched zitierend, eben "die Handvoll wahrer und gründlicher Gelehrter, die unsre Universitäten bewohnen" (S. 5). Angesprochen sind Experten auf der Seite der Philosophie und - so zumindest die Hoffnung - auch auf der Seite der Fachwissenschaften. Leichte Kost wird man schon vom Titel her nicht erwarten, und, umweht vom "Hauch von Askese", wird laut Vorwort den Lesern denn auch das vorenthalten, "was die gebildete Vergegenwärtigung in allen ihren angenehmen Verzweigungen" bereithalten könnte (S. 5). Angekündigt wird die Dokumentation aktueller Forschungsergebnisse auf hohem, in der Sichtweise dem Konstruktivismus verpflichtetem Niveau. Dabei soll erkennbar bleiben, "daß die philosophische und wissenschaftstheoretische Arbeit noch zu keinem Ende gekommen ist. Sie [die Enzyklopädie] sucht gleichzeitig die Mittel bereitzustellen, die geeignet sind, die Arbeit in Zukunft besser zu tun" (S. 5).

Nähere Aufklärung über die eigene Profession verspricht der Eintrag zu Wissenschaft. Demnach bezeichnet Wissenschaft "eine Lebens- und Weltorientierung, die auf eine spezielle, meist berufsmäßig ausgeübte Begründungspraxis angewiesen ist und insofern über das jedermann verfügbare Alltagswissen hinausgeht, ferner die Tätigkeit, die das wissenschaftliche Wissen produziert. W. heißt auch jede aus der W. im genannten Sinne ausdifferenzierbare Teilpraxis, sofern diese durch einen bestimmten Phänomen- und Problembereich definiert ist" (S. 719). Mit der Auffächerung in einzelne Fachwissenschaften, denen eine wissenschaftlich genannte Haltung eigen ist, tritt auch die Philosophie wieder in ihr Recht, dort, wo die fachspezifischen Methoden zu kurz greifen. Auf einzelne Disziplinen bezogen, wird Philosophie hier zu einer Philosophie der Biologie oder Philosophie des Geistes. Es zeichnet das Lexikon aus, daß es in den zentralen Stücken, die auch der Selbstverständigung des Projekts dieser Enzyklopädie dienen, avancierte und wohlüberlegte Beiträge bietet. Die schon beachtenswerten Darstellungen zu Philosophie in Bd. 3 werden hier durch die Einträge zu Wissenschaft und den Ableitungen, z.B. Wissenschaftsdarwinismus, -forschung, -geschichte, -soziologie, übertroffen. Hingewiesen sei nachdrücklich auf den Artikel Konstruktive Wissenschaftstheorie, der in dem Nachvollzug der akademisch-biographischen Bezüge der zentralen Figuren des Konstruktivismus seit den 20er Jahren geradezu spannend zu lesen ist.

Wer sich nun, noch unvorbereitet, den zunächst unauffälligen Artikel vorwissenschaftlich vornimmt, stößt rasch auf eine Schwierigkeit des Lexikons, das die Hürden im Verständnis doch recht hoch auflegt und einen nur sehr eingeschränkten Wirkungsgrad beanspruchen kann: "vorwissenschaftlich, in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen von Theorie und Begründung ebenso wie 'vortheoretisch' Terminus zur Bezeichnung von Orientierungen, die auf keine (theoretische) Sprach- und Wissenschaftkonstruktionen rekurrieren, ihrerseits jedoch in einem begründeten Aufbau als Basis derartiger Konstruktionen dienen." Wird man diesen einleitenden Passus nach zweimaligem Lesen noch mit einem Aha-Erlebnis quittieren, sind bei den zwei folgenden Sätzen freilich ein hohes Maß an Interpretationskunst und ein ausgeprägter Willen zum Nachschlagen unabdingbar. Die 14 Verweisungen und Literaturhinweise dieses knapp 22zeiligen Darstellungsteiles (ohne Bibliographie) seien hier stillschweigend übergangen: "In diesem Sinne spricht sowohl die Phänomenologie als auch die Konstruktive Wissenschaftstheorie von einem lebensweltlichen Apriori, auf das sich in wissenschaftlichen Fundierungszusammenhängen zumal empirischer Theorien ein prototheoretisches Apriori gründet. Rekonstruierbar ist dieses lebensweltliche Apriori im Rahmen einer auf eine elementare Unterscheidungspraxis bezogenen Prädikationstheorie und einer auf eine elementare Herstellungspraxis bezogenen Poiesistheorie" (S. 573). Sicher führt wie in jedem Fachlexikon die Präzision im Ausdruck, zusätzlich belastet durch schulinternen Jargon und Platznot, immer zu einem Verlust an Verständlichkeit. Doch liegt hier kein rein fachspezifischer Begriff (wie z.B. supervenient oder Suppositionslehre) vor, und dem Autorenteam geht es in eigener Sache gerade um die Vermittlung konstruktivistischer Wissenschaftsauffassung (vgl. S. 752). Nebenbei bemerkt, sind sich die Autoren durchaus des Lasters des Vesikulizismus und verwandter Erscheinungsformen (vgl. die Einträge zu Subthiel, Zentralie wie schon zu Feinhals, Kompressor, Pilzbarth) bewußt. Hat man sich einmal auf die stilistischen Widrigkeiten eingestellt, wird man dieses vom Verlag als immerhin "das größte allgemeine philosophische Lexikon in deutscher Sprache" angepriesene Werk mit Gewinn zu Rate ziehen. Jedenfalls zeigt zumindest die Auswahl folgender Stichwörter allein aus dem vorliegenden Band, daß das Themengebiet der Enzyklopädie - im Vorwort lapidar mit "die Philosophie und die Wissenschaften, unter wissenschaftstheoretischen und -historischen Gesichtspunkten betrachtet," angegeben - auf breiteres Interesse stoßen dürfte: Schiller, Tapferkeit, Technikfolgenabschätzung, Warenfetischismus, Weininger, Welträtsel, Wirtschaftsethik, Unsinn, Wille zur Macht, Zeitgeist, Zen. Das Feld ist weit gesteckt, und nicht jedes Thema kann mit gleicher Souveränität bestritten werden. So dankenswert es ist, daß Person und Leistung Rudolf Steiners in einem vergleichsweise ausführlichen Artikel berücksichtigt werden, kommt die Darstellung doch über ein bloß affirmatives Referat anthroposophischer Sicht nicht hinaus. Der Artikel Vorstellung verzichtet auf jeden Hinweis auf K. L. Reinholds einschlägige, wissenschaftshistorisch bedeutsame Arbeiten zur Theorie des Vorstellungsvermögens (1789), obwohl ein Eintrag zu Reinhold in Bd. 3 vorliegt. Doch sind dies eher marginale Defizite. Auf konzeptionelle Schwächen in der Praxis der Verweisungen und Bibliographie wurde bereits in der Rezension zu Bd. 3 hingewiesen.[2] Einen Mangel stellt sicher auch der Verzicht auf ein Gesamtregister in Bd. 4 dar, das die genannten Personen und eine Liste der Stichwörter mit Einträgen und den zugehörigen Verweisungen bringen sollte. Hier könnte die vom Verlag angekündigte Revision von Bd. 1 noch Abhilfe schaffen.

Den Herausgebern und Autoren ist zu dieser nüchternen, in eigener Sache bisweilen engagierten Form lexikalischer Aufklärung zu gratulieren. Mit den in Bd. 4 gelieferten Einträgen zum zentralen Themenbereich Wissenschaft erweist sich die Enzyklopädie zu Recht als Standardwerk.

Jürgen Weber


[1]
Vgl. ABUN in ZfBB 28 (1981),1, S. 61 - 62 und 31 (1984),2, S. 171 - 172 sowie IFB 96-2/3-183. (zurück)
[2]
IFB 96-2/3-183. (zurück)

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