Die nunmehr in vier Bänden abgeschlossen vorliegende Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie hat sich zum Ziel gesetzt, "aus
philosophischer Sicht eine Brücke zwischen der Philosophie und den
Wissenschaften zu schlagen, gestörte Verhältnisse zwischen Philosophie
und Wissenschaft wieder ins (zumindest enzyklopädisch) Reine zu
bringen" (Bd. 4, S. 6). Mit Bd. 4 und den 872 Seiten, auf denen
Einträge von spekulativ/Spekulation bis Zynismus versammelt sind,
kommt eine von Zielsetzung und Umfang anspruchsvolle Publikation zum
Abschluß, die immerhin seit 1980 läuft und nach Erscheinen von Bd. 2
ins Stocken geraten war.[1] Zu entscheiden, ob der Brückenschlag
gelungen ist, wird den Adressaten dieser Enzyklopädie überlassen; das
sind, nach dem Herausgeber, Gottsched zitierend, eben "die Handvoll
wahrer und gründlicher Gelehrter, die unsre Universitäten bewohnen"
(S. 5). Angesprochen sind Experten auf der Seite der Philosophie und -
so zumindest die Hoffnung - auch auf der Seite der Fachwissenschaften.
Leichte Kost wird man schon vom Titel her nicht erwarten, und, umweht
vom "Hauch von Askese", wird laut Vorwort den Lesern denn auch das
vorenthalten, "was die gebildete Vergegenwärtigung in allen ihren
angenehmen Verzweigungen" bereithalten könnte (S. 5). Angekündigt wird
die Dokumentation aktueller Forschungsergebnisse auf hohem, in der
Sichtweise dem Konstruktivismus verpflichtetem Niveau. Dabei soll
erkennbar bleiben, "daß die philosophische und
wissenschaftstheoretische Arbeit noch zu keinem Ende gekommen ist. Sie
[die Enzyklopädie] sucht gleichzeitig die Mittel bereitzustellen, die
geeignet sind, die Arbeit in Zukunft besser zu tun" (S. 5).
Nähere Aufklärung über die eigene Profession verspricht der Eintrag zu
Wissenschaft. Demnach bezeichnet Wissenschaft "eine Lebens- und
Weltorientierung, die auf eine spezielle, meist berufsmäßig ausgeübte
Begründungspraxis angewiesen ist und insofern über das jedermann
verfügbare Alltagswissen hinausgeht, ferner die Tätigkeit, die das
wissenschaftliche Wissen produziert. W. heißt auch jede aus der W. im
genannten Sinne ausdifferenzierbare Teilpraxis, sofern diese durch
einen bestimmten Phänomen- und Problembereich definiert ist" (S. 719).
Mit der Auffächerung in einzelne Fachwissenschaften, denen eine
wissenschaftlich genannte Haltung eigen ist, tritt auch die
Philosophie wieder in ihr Recht, dort, wo die fachspezifischen
Methoden zu kurz greifen. Auf einzelne Disziplinen bezogen, wird
Philosophie hier zu einer Philosophie der Biologie oder Philosophie
des Geistes. Es zeichnet das Lexikon aus, daß es in den zentralen
Stücken, die auch der Selbstverständigung des Projekts dieser
Enzyklopädie dienen, avancierte und wohlüberlegte Beiträge bietet. Die
schon beachtenswerten Darstellungen zu Philosophie in Bd. 3 werden
hier durch die Einträge zu Wissenschaft und den Ableitungen, z.B.
Wissenschaftsdarwinismus, -forschung, -geschichte, -soziologie,
übertroffen. Hingewiesen sei nachdrücklich auf den Artikel
Konstruktive Wissenschaftstheorie, der in dem Nachvollzug der
akademisch-biographischen Bezüge der zentralen Figuren des
Konstruktivismus seit den 20er Jahren geradezu spannend zu lesen ist.
Wer sich nun, noch unvorbereitet, den zunächst unauffälligen Artikel
vorwissenschaftlich vornimmt, stößt rasch auf eine Schwierigkeit des
Lexikons, das die Hürden im Verständnis doch recht hoch auflegt und
einen nur sehr eingeschränkten Wirkungsgrad beanspruchen kann:
"vorwissenschaftlich, in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen von
Theorie und Begründung ebenso wie 'vortheoretisch' Terminus zur
Bezeichnung von Orientierungen, die auf keine (theoretische) Sprach-
und Wissenschaftkonstruktionen rekurrieren, ihrerseits jedoch in einem
begründeten Aufbau als Basis derartiger Konstruktionen dienen." Wird
man diesen einleitenden Passus nach zweimaligem Lesen noch mit einem
Aha-Erlebnis quittieren, sind bei den zwei folgenden Sätzen freilich
ein hohes Maß an Interpretationskunst und ein ausgeprägter Willen zum
Nachschlagen unabdingbar. Die 14 Verweisungen und Literaturhinweise
dieses knapp 22zeiligen Darstellungsteiles (ohne Bibliographie) seien
hier stillschweigend übergangen: "In diesem Sinne spricht sowohl die
Phänomenologie als auch die Konstruktive Wissenschaftstheorie von
einem lebensweltlichen Apriori, auf das sich in wissenschaftlichen
Fundierungszusammenhängen zumal empirischer Theorien ein
prototheoretisches Apriori gründet. Rekonstruierbar ist dieses
lebensweltliche Apriori im Rahmen einer auf eine elementare
Unterscheidungspraxis bezogenen Prädikationstheorie und einer auf eine
elementare Herstellungspraxis bezogenen Poiesistheorie" (S. 573).
Sicher führt wie in jedem Fachlexikon die Präzision im Ausdruck,
zusätzlich belastet durch schulinternen Jargon und Platznot, immer zu
einem Verlust an Verständlichkeit. Doch liegt hier kein rein
fachspezifischer Begriff (wie z.B. supervenient oder
Suppositionslehre) vor, und dem Autorenteam geht es in eigener Sache
gerade um die Vermittlung konstruktivistischer Wissenschaftsauffassung
(vgl. S. 752). Nebenbei bemerkt, sind sich die Autoren durchaus des
Lasters des Vesikulizismus und verwandter Erscheinungsformen (vgl. die
Einträge zu Subthiel, Zentralie wie schon zu Feinhals, Kompressor,
Pilzbarth) bewußt. Hat man sich einmal auf die stilistischen
Widrigkeiten eingestellt, wird man dieses vom Verlag als immerhin "das
größte allgemeine philosophische Lexikon in deutscher Sprache"
angepriesene Werk mit Gewinn zu Rate ziehen. Jedenfalls zeigt
zumindest die Auswahl folgender Stichwörter allein aus dem
vorliegenden Band, daß das Themengebiet der Enzyklopädie - im Vorwort
lapidar mit "die Philosophie und die Wissenschaften, unter
wissenschaftstheoretischen und -historischen Gesichtspunkten
betrachtet," angegeben - auf breiteres Interesse stoßen dürfte:
Schiller, Tapferkeit, Technikfolgenabschätzung, Warenfetischismus,
Weininger, Welträtsel, Wirtschaftsethik, Unsinn, Wille zur Macht,
Zeitgeist, Zen. Das Feld ist weit gesteckt, und nicht jedes Thema kann
mit gleicher Souveränität bestritten werden. So dankenswert es ist,
daß Person und Leistung Rudolf Steiners in einem vergleichsweise
ausführlichen Artikel berücksichtigt werden, kommt die Darstellung
doch über ein bloß affirmatives Referat anthroposophischer Sicht nicht
hinaus. Der Artikel Vorstellung verzichtet auf jeden Hinweis auf K. L.
Reinholds einschlägige, wissenschaftshistorisch bedeutsame Arbeiten
zur Theorie des Vorstellungsvermögens (1789), obwohl ein Eintrag zu
Reinhold in Bd. 3 vorliegt. Doch sind dies eher marginale Defizite.
Auf konzeptionelle Schwächen in der Praxis der Verweisungen und
Bibliographie wurde bereits in der Rezension zu Bd. 3 hingewiesen.[2]
Einen Mangel stellt sicher auch der Verzicht auf ein Gesamtregister in
Bd. 4 dar, das die genannten Personen und eine Liste der Stichwörter
mit Einträgen und den zugehörigen Verweisungen bringen sollte. Hier
könnte die vom Verlag angekündigte Revision von Bd. 1 noch Abhilfe
schaffen.
Den Herausgebern und Autoren ist zu dieser nüchternen, in eigener
Sache bisweilen engagierten Form lexikalischer Aufklärung zu
gratulieren. Mit den in Bd. 4 gelieferten Einträgen zum zentralen
Themenbereich Wissenschaft erweist sich die Enzyklopädie zu Recht als
Standardwerk.
Jürgen Weber
Zurück an den Bildanfang