Als Begründung für den kürzeren Abstand zwischen den beiden Auflagen
und die Aufeinanderfolge zweier großer Ausgaben werden vom Verlag die
großen politischen Veränderungen der letzten zehn Jahre, die
wirtschaftlichen und rasanten technischen Fortschritte sowie die
Weiterentwicklung auf anderen Gebieten angeführt, auch soll mit der
BE20 eine "Epochenbilanz am Ende unseres historisch so ereignisreichen
Jahrhunderts" gezogen werden (Klappentext). Dasselbe las man bei
Brockhaus bereits im 19. Jahrhundert, nur poetischer: "Die Gegenwart
aber möge nicht nur den Zeitgenossen, sondern auch dem künftigen
Geschlecht als Das gelten, was wir mit Ernst und Ausdauer wenigstens
zu schaffen anstrebten: ein sinnvolles Geschichtsbild aus der Mitte
des 19. Jahrhunderts, ein Janus - das alternde Antlitz gewendet in
eine Vergangenheit voll schmerzlichen Ringens und harter Arbeit, das
Jünglingsgesicht gehoben nach den Hoffnungen und Erwartungen einer
reichen Zukunft!"[4] Man lese dazu auch die ironisch-bissigen
Bemerkungen von Kurt Flasch in der FAZ.[5]
Der Verlag gibt in den Presse-Informationen an, daß ca. 20 % der
Artikel neu sind bzw. überarbeitet wurden, womit er sich im Rahmen
dessen bewegt, was man von den amerikanischen Enzyklopädien und deren
Programm der continuous revision (hier im Jahresrhythmus) gewöhnt ist.
Folgende Anmerkungen zur Aktualisierung auf Grund von Stichproben
seien mitgeteilt:
Da der Ergänzungsband zur BE19 erst vor kurzem erschienen ist, und
hierin der aktuellste Stand der 19. Aufl. vorliegt, bot sich ein
Vergleich mit dem 1. Bd. der BE20 an. Für den Abschnitt A - AK
enthielt der Ergänzungsband gegenüber dem Grundwerk und den früheren
Nachträgen 38 neue Stichwörter. Davon fehlen 11 im Bd. 1 der BE20,
obwohl diese doch ebenfalls Aktualität für sich reklamiert. Bei den
fehlenden Stichwörtern handelt es sich keineswegs allein um Personen
und Sachen, die nur für den Zeitraum von 1986 bis 1995 "lexikonwürdig"
gewesen wären (z.B. der lediglich im Ergänzungsband der BE19
berücksichtigte japanische Diplomat Y. Akashi, der von 1993 bis 1995
UN-Sonderbeauftragter in Bosnien und Herzegowina war), sondern auch um
solche, deren Wegfall nicht verständlich ist: z.B. AAD und ADD (die
Abkürzungen für die Aufnahme-, Abmischungs- und Wiedergabequalität),
die Verweisung von ADA auf die Vereinigung Karibischer Staaten, die
Eintragung für die Afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft und den
Artikel über Susanna Agnelli. Von den verbleibenden, beiden Bänden
gemeinsamen 27 Artikeln sind in Bd. 1 der BE20 3 gekürzt (Abwicklung,
Adaptronik und Aerogele) und 6 ausführlicher (Abchasien, Adscharien,
Adygien, AFNORTHWEST, M. O. Ahtisaari und Akmola). Die übrigen
entsprechen sich in etwa im Umfang, sind aber z.T. umgeschrieben.
Dieser Vergleich läßt zugleich Rückschlüsse auf die Konzeption des
Ergänzungsbandes zu: Vermehrt sind dort auch stark aktualitätsbezogene
Lemmata - überhaupt bzw. in einem Umfang - berücksichtigt, wie es mit
der "Lexikonwürdigkeit" des auf Langzeitwirkung abgestellten
Grundwerks eines Großlexikons unvereinbar ist. Daß auch die
traditionellen Bereiche im Brockhaus nicht in allen Fällen nach dem
aktuellen Wissensstand oder der Sache angemessen berücksichtigt sind,
belegt Flasch in der o.g. Rezension am Beispiel von Artikeln aus dem
Bereich der Philosophie.
Die Auswahl der insgesamt zehn Schlüsselbegriffe in Bd. 1 des
Grundwerks der BE19 und des Ergänzungsbandes wurde mit jetzt acht
ausführlichen Darstellungen weitgehend beibehalten: statt
Abfallbeseitigung findet man nun eine ausführliche Erläuterung zu
Abfallwirtschaft; Abrüstung wird zwar auf der Rückseite des
Titelblattes als Schlüsselbegriff genannt, im Text fehlt jedoch die
typographische Markierung als solcher, obwohl der Artikel als
Schlüsselbegriff konzipiert ist; Alkoholismus wird nicht mehr als
Schlüsselbegriff behandelt, sondern nur noch mit etwa der Hälfte
des früheren Umfangs berücksichtigt - eine Entscheidung, die wegen der
fortdauernden Brisanz des Themas nicht ganz einsichtig ist; kein
Schlüsselbegriff mehr ist auch der nun um eine Spalte gekürzte Artikel
Alternativkultur. Dafür fallen in der BE20 durch ihren besonderen
Umfang Artikel zu den Themen Umwelt und Schulden auf: z.B. das neue
mit zwei Spalten abgehandelte Stichwort Altschulden und die
ausführlichere Berücksichtigung von Altlasten mit Aufführung neuer
Komposita.
Vergleicht man die Abbildungen mit denen der BE19, so stellt man rasch
fest, daß nur wenige neu hinzugekommen bzw. aktualisiert worden sind
und zum größten Teil noch die identischen Bilder gezeigt werden. In
der Regel sind die Illustrationen zu Städten, Gebäuden und
Gegenständen[6] gleich geblieben, bei Überblicksartikeln über die Kunst
einer Nation werden nur wenige neuere Werke zusätzlich abgebildet (bei
amerikanischer Kunst z.B. stammt das neueste abgebildete Kunstwerk von
1989); Porträts wurden dagegen z.T. durch aktuellere Aufnahmen
ersetzt, vermehrt abgebildet sind Wappen. Weitgehend identisch blieben
auch die Graphiken. Die Daten in den Tabellen wurden auf den neuesten
Stand gebracht und einige neue Tabellen eingefügt. Die Lagekarten am
Beginn eines Ländereintrages sind zwar nicht größer geworden, nun aber
etwas ansprechender gestaltet.
Die Literaturhinweise sind zumeist fortgeschrieben, z.T. bis 1995,
dennoch fallen neben den vielen aktuellen Angaben gerade bei eher
knapp behandelten Lemmata überalterte Literaturangaben auf, die wohl
gar nicht nachgeprüft wurden: zu Abkürzungen wird die 2. Aufl. 1979
des Duden, Wörterbuch der Abkürzungen zitiert, obwohl es bereits eine
3. Aufl. von 1987 gibt (was besonders blamabel ist, da der Duden ja
aus demselben Mannheimer Verlagshaus stammt); das neueste Werk zur
Ägyptologie stammt von 1986; für das Allgäu erschien anscheinend
zuletzt 1984 etwas Nennenswertes etc.
Trotz dieser Mängelliste, die sich leicht verlängern ließe, bietet
auch die 20. Aufl. der BE mit ihrem Lemmabestand wieder einen
Querschnitt durch das heutige Wissen. Lassen wir noch einmal einen
Werbetexter (Presse-Information) zu Worte kommen: "Wer grundlegendes
und lückenloses Wissen vermitteln möchte, muss ein besonderes
Augenmerk auf die Aktualität richten." Was ersteres betrifft, hat der
Verlag sicher sein Bestes getan; lückenlos ist das Lexikon ganz gewiß
nicht; und beides hat sicherlich nichts mit Aktualität zu tun.
Zumindest bei der Rechtschreibung ist der Verlag auf der Höhe der
Zeit: Er hat sich schon auf die neue Rechtschreibung umgestellt, und
zwar nicht nur in den Informationsblättern, sondern auch mit der BE20
selbst, deren Text bereits ganz den neuen Regeln entspricht, da die
BE20 Ende 1998 abgeschlossen sein soll - also gerade zu dem Zeitpunkt,
zu dem die Rechtschreibregeln Gültigkeit erhalten [sollen] - und sich
die BE als "Nachschlagewerk für Generationen" (Presse-Info) der
Zukunft empfiehlt.[7]
Da der Firmen-Hauptsitz von Brockhaus seit 1991 wieder in Leipzig ist,
wird die BE20 gemeinsam von den Lexikonredaktionen in Leipzig und
Mannheim bearbeitet. Auch mit etwa 250 neu hinzugekommenen, nach
Verlagsangaben vor allem aus Ostdeutschland stammenden Autoren wird
für die BE20 der Vereinigungsprozeß nachvollzogen, so daß der Verlag
von einer "'gesamtdeutschen' Enzyklopädie" sprechen kann. Durch
Ausschöpfen der modernen technischen Möglichkeiten soll die relativ
kurze Erscheinungszeit von zwei Jahren für das Grundwerk der BE20
(gegenüber den zehn Jahren der BE19) erreicht werden, die
Ergänzungsbände sollen voraussichtlich noch 1999 mit dem Erscheinen
beginnen. Immerhin könnte die Verkürzung der Erscheinungsdauer
- zugegebenermaßen mit einer Menge Optimismus - als ein kleiner
Schritt
hin zu der bereits oft geforderten Publikation des kompletten Lexikons
zu einem Zeitpunkt und mit einheitlichem Bearbeitungsstand gewertet
werden.
Die kuriose Situation, daß seit der 1984 erfolgten Fusion von
Brockhaus mit dem Bibliographischen Institut sich im selben Verlag
jahrelang zwei Großlexika - die Brockhaus-Enzyklopädie und Meyers
enzyklopädisches Lexikon[8] - Konkurrenz machten, wird künftig
beseitigt. Nach telephonischer Auskunft des Verlages vom 10.02.1997
werden zukünftig allgemeine große Lexika nur noch unter der Marke
Brockhaus erscheinen, während der Name Meyer "innovativen", aber
kleineren Projekten (darunter solchen für Kinder) vorbehalten sein
wird: sozusagen ein später Sieg des einen Rivalen über den anderen.
Saskia Hedrich
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