Das Schweizerische Jugendbuch-Institut in Zürich hatte sich mit einer Ausstellung das Ziel gesetzt, "die Wandlung der Lügengeschichten des Baron Münchhausen von einem literarisch-satirischen Buch für Erwachsene zu einem Kinderklassiker" zu zeigen. Im reich illustrierten Ausstellungskatalog schildert eingangs Thekla Gehrmann anschaulich die Entstehungsgeschichte des Buches und "wie der Freiherr von Münchhausen zum Lügenbaron gemacht wurde." Anschließend zeigt Bernhard Wiebel, daß über die Entstehungsgeschichte des Buches wohl viel recherchiert wurde, die Literaturwissenschaft sich aber kaum mit dem Werk befaßt hat. Er erläutert auch, daß die Pädagogen Schwierigkeiten hatten, mit einem Text umzugehen, dessen Hauptmotiv das Lügen ist. Obwohl in der Vorrede der Original-Ausgabe empfohlen wird, mit dem Lügen das Lügen zu bekämpfen, wird es doch als ein "amoralisches Buch" empfunden. Als Meilensteine in der Geschichte des Münchhausen-Buches werden 23 ausgewählte Ausgaben in Bezug auf Textqualität und Bildgestaltung analysiert. Die Auswahl reicht von den ersten Ausgaben für Erwachsene, den frühen Bearbeitungen für die Jugend bis zu jüngsten Ausgaben der Gegenwart. Die Analyse zeigt nicht nur die unterschiedlichen Bearbeitungen und Kürzungen der Jugendausgaben, sondern auch die durch nachlässige Edition entstellten Originalausgaben. Seit 1890 der Wortlaut der Erstausgabe von 1786 und 1906 der Text letzter Hand von Bürger wieder allgemein zugänglich gemacht wurden, folgte der Text für die Erwachsenen meist den Originalausgaben. Bei den Jugendausgaben gibt es wortgetreue und nacherzählende Versionen. Im Unterschied zu den Überarbeitungen im 19. Jahrhundert entfernen sich die modernen Fassungen weiter vom Original, erzählen sie freier nach.
Im Kapitel Münchhausen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung geht einiges durcheinander. Seite 14 heißt es: "Die Ausführungen von H. Kunze sind fast wörtlich von P. Hazard und I. Dyhrenfurth übernommen." Eine Seite vorher steht jedoch "Hazard schreibt gar nicht über den Münchhausen." Das stimmt auch, Hazard erwähnt ihn lediglich in einem Satz "Sie waren auch nicht für Kinder geschrieben, die Abenteuer des Barons Münchhausen." Und Dyhrenfurth? Auf S. 318 ist in der angegebenen Ausgabe nur das Register. Das verweist auf S. 130. Dort werden in viereinhalb Zeilen nur die Illustrationen von Hosemann (1840) und Disteli (1841) erwähnt. Kein Hinweis auf einen Verfasser, wie Wiebel schreibt. H. Kunze dagegen widmet dem Münchhausen dreieinhalb Seiten. Das ist bis dahin die erste ausführliche Behandlung des Münchhausen in den Werken zur Kinderliteratur überhaupt. Und Kunzes Schatzbehalter erschien bereits drei Jahre vor Dyhrenfurths Geschichte des deutschen Jugendbuches, was auch Wiebels Literaturverzeichnis zu entnehmen ist.
Einen wichtigen Teil des Kataloges bildet die von der Leiterin des Münchhausen-Museums der Stadt Bodenwerder, Thekla Gehrmann, zusammengestellte Bibliographie der nachweisbaren deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchausgaben des Münchhausen. Mittels Autopsie wurde eine scharfe Trennung zu Ausgaben für Erwachsene gezogen. 338 Kinderbuchbearbeitungen (die älteste ist von 1842) einschließlich der Auflagen werden mit Standortangaben nachgewiesen. Das Register verzeichnet allein 80 Bearbeiter, über 120 Illustratoren sowie über 170 Verlage. Die für die Rezeption des Münchhausen wichtigen englischen, deutschen und französischen Erstausgaben, bibliophile Kostbarkeiten und in der Untersuchung speziell angesprochene Editionen sind separat aufgeführt.
Der treffende Satz der Bearbeiterin: "Am Ende steht das Wissen um die Unvollkommenheit" gilt wohl für jeden Bibliographen. Angestrebte Vollständigkeit ist selten zu erreichen. Begrenzte Zeit und Reisemittel verhindern es meist, alle Sammlungen auszuschöpfen. So besitzt z.B. die Kinder- und Jugendbuchabteilung an der Staatsbibliothek zu Berlin mit ihren rund hundert Münchhausen-Ausgaben nicht nur zahlreiche Auflagen und auch Erstauflagen, die in der Bibliographie nicht nachgewiesen werden konnten, sondern auch Bearbeitungen für die Jugend, die nicht aufgeführt sind.
Thekla Gehrmann hatte schon 1992 im Katalog zur Ausstellung der
Münchhausen-Illustrationen aus zwei Jahrhunderten den Bestand der
Sammlung Bodenwerder mit über 160 Münchhausen-Ausgaben vorgestellt.[1]
Beide Bibliographien ergänzen nun die Bibliographie von Wackermann,[2]
der sich bei der Verzeichnung von "Volks- und Jugendausgaben" sehr
zurückgehalten hatte, und führen sie zum Teil bis 1996 fort. Allein
schon dadurch ist der Katalog für die Münchhausen-Forschung zu einem
unentbehrlichen Hilfsmittel geworden.
Heinz Wegehaupt
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