Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur von der


97-1/2-069
Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur von der Haskala bis 1945 : die deutsch- und hebräischsprachigen Schriften des deutschsprachigen Raums ; ein bibliographisches Handbuch / Zohar Shavit und Hans-Heino Ewers. In Zsarb. mit Annegret Völpel und Ran HaCohen und unter Mitwirkung von Dieter Richter. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1996. - Bd. 1 - 2. - 1495 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01421-5 : DM 398.00
[3613]
97-1/2-070
Das jüdische Jugendbuch : von der Aufklärung bis zum Dritten Reich / Gabriele von Glasenapp und Michael Nagel. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1996. - XII, 298 S. ; 23 cm. - ISBN 3-476-01413-4 : DM 128.00
[3352]

Nachdem die jüdische Kinder- und Jugendliteratur in der Forschung lange nicht zur Kenntnis genommen worden war, zeitigt ihre erst spät begonnene Erforschung inzwischen erste Früchte in Gestalt von zwei Werken, die ihr Entstehen dem Forschungsprojekt "Jüdische Kinder- und Jugendliteratur" verdanken, einem gemeinsamen Unternehmen des Instituts für Jugendbuchforschung der Universität Frankfurt a.M. und der Universität Tel Aviv.

Das zweibändige Bibliographische Handbuch verzeichnet 2431 Titel deutsch- und hebräischsprachiger Schriften von der Haskala, das ist die jüdische Aufklärungsströmung des späten 18. Jahrhunderts, bis 1945. Als jüdische Kinder- und Jugendliteratur wurde "diejenige Literatur erfaßt, die - durch Verfasserintention, verlegerische Präsentation oder Rezeptionsgeschichte - an die im deutschsprachigen Raum lebenden jüdischen Kinder und Jugendlichen gerichtet und die zudem geeignet war, die Leser in ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur bzw. in ihrer jüdischen Identität zu bestärken." Es ist also keine Bibliographie der von Juden geschriebenen Kinder- und Jugendbücher. Denn es ist die "Auffassung inakzeptabel, nach der jüdische Literatur eine Literatur sei, die von Juden geschrieben worden ist." Bei der Auswahl der vorgefundenen Texte ließ man sich von der Frage leiten, "ob und inwiefern der jeweilige Text von jüdischer Seite als 'jüdische' Kinder - oder Jugendschrift angesehen wurde." Janusz Korcak z.B. wird man daher in dieser Bibliographie nicht finden. Genaue Abgrenzungen wurden zur Judenmissionsliteratur, zu den klassischen religiösen Lehrschriften und den nach 1850 erschienenen und für den Schulgebrauch bestimmten Lehrbüchern formuliert. Aufgenommen wurden jedoch als jüdische Jugendlektüre empfohlene Werke. Dies wird zwar im Vorwort nicht ausdrücklich erklärt, doch bei den Annotationen betreffender Schriften wird die Aufnahme in die Bibliographie damit begründet. Im Vorwort werden lediglich die Kriterien für die Aufnahme der als jüdische Jugendlektüre empfohlenen Werke aus der allgemeinen deutschen Literatur genannt. Sie werden "nur dann nachgewiesen, wenn sie - unabhängig von jüdischer oder nichtjüdischer Herkunft des Verfassers - einen näheren Bezug zur jüdischen Kultur aufweisen. Dies betrifft vor allen als judentolerant eingeschätzte Werke von jüdischen Protagonisten." So findet man auch Titel von Franz Hoffmann und Gustav Nieritz. Das angewandte Kriterium, Bücher aufzunehmen, weil sie einmal für die jüdische Jugend empfohlen wurden, führte dazu, daß viele Werke der Erwachsenenliteratur, die eigentlich nicht für Kinder oder Jugendliche bestimmt waren, verzeichnet sind. Im allgemeinen wird ein weiter Literaturbegriff angewendet. Nicht nur Belletristik, Sachbücher oder Zeitschriften, überhaupt alle an Kinder und Jugendliche gerichtete Schriften und Drucke, einschließlich der Schriften der Jugendbewegung sind verzeichnet.

Die Titelbeschreibung beruht, so weit möglich, auf Autopsie, jede Ansetzung "weist einen Text in seiner frühesten ermittelbaren Ausgabe nach, die der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur des deutschsprachigen Raums zuzuordnen ist." Der allgemeinen Titelbeschreibung folgt ein Standortnachweis mit Signatur, der Angabe des Druckers, der Sprache und Typographie. In der folgenden Rubrik "zur Ausgabengeschichte" werden alle "historisch jüngeren Ausgaben, Übersetzungen oder Bearbeitungen" berücksichtigt. Danach werden bibliographische Nachweise, Rezensionen und Sekundärliteratur vermerkt. Die Annotationen geben Auskunft über Adressaten, Intention, Inhalt, Gattungszuordnung und Rezeptionsgeschichte.

Die Titelansetzung in seiner frühesten ermittelbaren Ausgabe und die Aufführung aller weiteren Ausgaben, Bearbeitungen und Übersetzungen in chronologischer Abfolge haben ihre Vorteile, da alle Ausgaben zusammengeführt werden und Platz gespart wird. Da auch alle diese Angaben in die Register übernommen wurden, gehen keine Informationen verloren. Unter den 2431 angesetzten Titeln folgen so noch eine Unmenge weiterer Titel. Das Schema hat aber auch seine Tücken. Viele der für die Titelansetzung ermittelten frühen Ausgaben sind nicht für Kinder oder Jugendliche bestimmt gewesen. Sie wurden es erst durch spätere Bearbeitungen, wie etwa einige Titel aus dem 16. und 17. Jahrhundert oder später zur Lektüre empfohlen, wie Lessings Nathan der Weise (1779) und sein Lustspiel Die Juden, für das der Druck in Lessings Schriften Th. 4 von 1754 angegeben wird.

Es ist erstaunlich, daß trotz der systematischen Vernichtung der jüdischen Literatur eine so große Anzahl von Titeln ermittelt und größtenteils in Autopsie erschlossen werden konnte. Die Überschreitung der selbst gesetzten Aufnahmeregeln erklärt sich sicher daraus, daß man einmal mühsam Recherchiertes sinnvollerweise nicht wieder in die Versenkung verschwinden lassen wollte.

Die Bibliographie ist vorzüglich aufgebaut und bietet alle notwendigen Hilfen. Die Hinweise zur Benutzung erläutern datailliert Prinzipien der Erarbeitung der Bibliographie. Wichtig sind hier auch die Erläuterungen zur Transliterierung des Hebräischen und zur Ansetzung der Namen von Autoren, Bearbeitern, Herausgebern u.a., da ein Drittel der verzeichneten Titel in hebräischer Sprache erschienen ist. Hervorzuheben ist, daß der eigentlichen Bibliographie ein Glossar vorangestellt ist, in dem "häufig verwendete Begriffe der jüdischen Kultur", die auch wiederholt in den Titeln oder Annotationen auftauchen, erläutert werden. Der Bibliographie folgen biographische Angaben zu Herausgebern, Bearbeitern, Autoren, Übersetzern, Illustratoren und Komponisten. Über eintausend Personen auch nichtjüdische sind hier aufgeführt. Bei einigen jüdischen Autoren kann man lesen, daß sie noch rechtzeitig emigrieren konnten, doch eine große Zahl wurde in den Konzentrationslagern ermordet. Vorgestellt werden auch die "Institutionen und Organisationen" die an der Entstehung, der Publikation und der Distribution der in dieser Bibliographie dokumentierten jüdischen Kinder- und Jugendliteratur beteiligt waren. Ebenso werden die Entwicklung und das Profil von über sechzig Verlagen, die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht haben, skizziert. Das Literaturverzeichnis enthält auf fast zweihundert Spalten, die für die Entwicklungsgeschichte der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendliteratur relevanten Darstellungen.

Erschlossen wird die Bibliographie durch eine Reihe von Registern, die sich ausschließlich auf den bibliographischen Hauptteil mit dem Informationsfeld Zur Ausgabengeschichte beziehen. So gibt es Register der Herausgeber, Bearbeiter, Autoren, Übersetzer; Register der Illustratoren; Register der aus dem Hebräischen transliterierten Namensansetzungen; Register deutscher und transliterierter Titel sowie Register hebräischer Titel in hebräischer Sprache; Register der Reihen und der Verlage bilden den Schluß. Zu wünschen wäre ein chronologisches Register, das leicht die zeitlichen Schwerpunkte der Publikationstätigkeit für jüdische Kinder und Jugendliche erkennen ließ.

Zohar Shavit, die Initiatorin der Bibliographie, hat die Historische Entwicklung : Leitlinien der Hauptstrukturen knapp skizziert. Diese Arbeitshypothesen sollen in der zweiten Phase des Forschungsprojektes, die sich "mit der Geschichtsschreibung der jüdischen Kinderbücher" beschäftigen wird, überprüft werden. Für diese Geschichtsschreibung ist die vorliegende Bibliographie eine solide Grundlage. Ziel des Werkes ist es aber auch, eine vergessene und verlorene Phase jüdischen Lebens in den deutschsprachigen Ländern zu rekonstruieren und zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen deutscher und jüdischer Kultur beizutragen. Das imposante Werk ist als Quelle zur Erforschung der deutsch-jüdischen Kulturbeziehungen und zum Verständnis der Entwicklung jüdischen Kulturlebens in Deutschland bestens geeignet.

Aus der Mitarbeit an der Bibliographie entstand eine weitere Grundlage für die Erarbeitung einer Geschichte der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur. Dargestellt wird die jüdische Lektürepädagogik im deutschsprachigen Raum von der Aufklärung bis zum Dritten Reich. Am Beispiel der zeitgenössischen jüdischen Jugendbuchkritik und -programmatik wird gezeigt, "welches Erziehungs- und Bildungsziel, welche Hilfen zu einer Identitätsfindung innerhalb einer nichtjüdisch geprägten Gesellschaft" jüdische Pädagogen, Autoren und Rabbiner den ihnen anbefohlenen jüdischen Kindern und Jugendlichen vermitteln wollten.

Im ersten Teil erläutert Michael Nagel an Hand der zeitgenössischen Diskussion um die ersten jüdischen Schulbücher in deutscher Sprache, die Angleichung der jüdischen Jugendlektüre an das Erziehungskonzept der Spätaufklärung Ende des 18. Jahrhunderts und die Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Erziehungswesen. Im zweiten Teil legt Gabriele von Glasenapp die "Neo-orthodoxen Konzepte" der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur im 19. Jahrhundert, die jüdische Rezeption der Jugendschriftenbewegung und die Vorstellungen des deutschen Zionismus zur literarischen Erziehung dar. Das abschließende Kapitel widmet sie der literarischen Erziehung unter nationalsozialistischer Herrschaft. Es wird gezeigt, wie die Ausgrenzung der Juden zu einer Rückbesinnung auf jüdische Besonderheiten und Traditionen führte, die den Kindern und Jugendlichen, etwa mittels Palästina-orientierter Erzählungen, Perspektiven aus der unmenschlich gewordenen Umgebung heraus bieten wollte.

Bei der äußerst schwierigen Quellenlage ist es eine erstaunliche Leistung, einen zusammenhängenden Überblick zu erarbeiten. Als Quelle wurden deshalb alle Materialien genutzt, die auf kindliche und jugendliche Lektüre Bezug nehmen, neben Vorworten jüdischer Kinder- und Jugendbücher und Rezensionen auch kommentierte Ankündigungen in Zeitungen und Zeitschriften, Schulberichte und -programme, Lehrpläne, Briefwechsel, Vorträge, Autobiographien, Biographien und allgemein-pädagogische Vorträge. Ein umfangreicher Anmerkungsteil dokumentiert und erläutert die Quellen. Die Literaturverzeichnisse allerdings, die für Teil 1 und Teil 2 getrennt angelegt sind, hätte man besser zusammenfügen sollen. Da sie sehr umfangreich sind, stören Überschneidungen und Wiederholungen. Außerdem findet man einige Titel, die den gesamten Bereich betreffen, zuweilen nur in einem Teil, andere Titel, die eigentlich Teil 1 betreffen müßten, sind nur bei Teil 2 aufgeführt.

Der Titel der vorliegenden Publikation hätte im Untertitel näher erläutert werden müssen. Die bloße Zeitangabe assoziiert die Vorstellung, es handle sich um eine Geschichte des jüdischen Jugendbuches. Die beiden Verfasser schufen mit dem gut lesbaren Überblick über die Einstellungen innerhalb des deutschen Judentums zur jüdischen Kinder- und Jugendlektüre im Verlauf der zweihundert Jahre eine Voraussetzung für die Erarbeitung der Geschichte der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur. Die vorliegende Arbeit wird sicher in eine derartige Geschichte einfließen.

Heinz Wegehaupt


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