Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der russischen Literatur


96-4-566
Geschichte der russischen Literatur : von den Anfängen bis 1917 / [hrsg. von Wolf Düwel ; Helmut Grasshoff]. - Berlin ; Weimar : Aufbau-Verlag. - 25 cm
[3712]
Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts / Red. Helmut Grasshoff. - 1. Aufl. - 1986. - 495, [31] S. : Ill.
Bd. 2. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1917 / Red. Wolf Düwel. - 1. Aufl. - 1986. - 716, [32] S. : Ill.

Die Arbeit mit DDR-Literaturgeschichten auch über die vorsowjetische Zeit ist für objektive Informationsaufnahme ein ständiges Problem. Die letzte zweibändige Darstellung von 1986, die Helmut Grasshoff und Wolf Düwel mit sechs anderen Slawisten herausgegeben haben, ist politisch lediglich etwas liberaler als vorangegangene Werke. Letztlich hatte jedes wissenschaftliche Werk im totalitären Staat zur ideologischen Festigung des Systems beizutragen. Dem waren objektive Erkenntnisse des Forschers untergeordnet. Werke wie Literaturgeschichten hatten aber auch das Ziel, der internationalen Anerkennung des Systems zu dienen, und dem war eine zu deutliche ideologische Prägung abträglich. Durch alle diese Literaturgeschichten zieht sich das marxistische teleologische Geschichtskonzept, so daß bei jedem Autor kritische Darstellungen der zaristischen Gesellschaft oder solche, die sich so interpretieren ließen, besonders betont werden. Daher sind Autoren wie Belinski, Tschernyschewski oder Pissarew überproportioniert herausgestellt. Andererseits werden bei vielen Autoren alle Fakten unterschlagen, die sich nicht in die materialistische Denkschablone einordnen ließen, insbesondere ein metaphysisches Erfassen der Welt oder christlicher Glaube. Das Schlüsselwort der Darstellung dafür lautet "widersprüchlich": Der Widerspruch zur "revolutionären" Denkweise wird als Widerspruch im Schriftsteller selbst definiert und möglichst eine irgendwann in seinem Leben gefallene, systemkonform interpretierbare Äußerung zitiert. So wird Feth, von dem von Guenther - ähnlich wie Tschizewskij - zu Recht schreibt: "Das Wissen um das Jenseitige ist das Entscheidende", mit dem Adjektiv "atheistisch" belegt ("nicht-christlich" wäre eher berechtigt gewesen). Die besonders stark ideologisch verzerrenden Kapitel sind die Einführungs- und Überblickskapitel der Herausgeber. In den Kapiteln von Dudek über Puschkin, Baratynski, Lermontow oder Tjuttschew findet man eine Menge zuverlässigen Faktenmaterials und interessanter Interpretationen. Ähnlich positiv anzuerkennen sind u.a. die Darstellungen Alexander Bloks durch Roland Opitz, Alexander Herzens und Iwan Turgenjews durch Klaus Dornacher. Solche Artikel bleiben Beiträge zur Polyphonie der Wissenschaft, wobei man sich der bewußten oder unbewußten Anpassung an die grundsätzlichen politischen Vorgaben bewußt sein muß.

5. Zusammenfassung

Das Spektrum der vielen Geschichten der russischen Literatur ist naturgemäß breit. Stammen sie von einem einzelnen Autor, sind nicht nur die Wertung und Darstellungsmethode einheitlich durch diesen bestimmt, sondern in der Regel auch Aufbau und Proportionen ausgewogen. Eine vergleichende Sicht fördert die Einheit. Sind sie das Werk mehrerer Autoren, unterscheidet sich der Grad der Ausgewogenheit, auch der jeweiligen Vollständigkeit erheblich. Die im kommunistischen Machtbereich entstandenen Darstellungen sind in der Regel Kollektivarbeiten, die eine gründliche, aber politisch bestimmte Planung erkennen lassen. Entsprechende westliche Editionen zeigen oft Mängel in der Detailplanung und laufen eher Gefahr, Sammlungen selbständiger - oft recht guter - Essays zu bieten, doch gelegentlich Grundfragen einer Literaturgeschichte nicht zu beantworten. Literaturgeschichten sollen Nachschlagewerke und Einführungen in die Entwicklung einer Literatur zugleich sein. Die umfangreichen Werke erfüllen diese Forderungen kaum. Selten wird jemand sie ganz lesen. Sie bieten eher eine systematische Zusammenstellung von Artikeln zu wichtigen Autoren und zu Grundfragen einer Literatur. Als Einführungen für Studenten und Hilfen für den Wissenschaftler zur Einordnung sind die einbändigen Darstellungen besser geeignet. Doch auch diese enthalten das Basiswissen über Biographie und Hauptwerke oft unvollständig, um mehr die Zusammenhänge deutlich zu machen. Hier ergänzen Literaturlexika.[1]

Für die russische Literatur gibt es ein reiches, hier auszugsweise vorgestelltes Angebot an Literaturgeschichten. Unerfreulich ist bei der Darstellung des 20. Jahrhunderts die mehrfache Ausklammerung ganzer Bereiche - einerseits von Poesie und Drama, andererseits der Emigration und politisch bedingter Auslandspublikationen. So gilt bei jedem Autor und bei jeder thematischen Frage mehr als sonst die in der Wissenschaft grundsätzliche Forderung, sich nicht auf eine einzige Abhandlung zum Thema zu stützen, sondern auf mehrere im Vergleich.


[1]
An deutschen übergreifenden Lexika enthält am meisten zur russischen Literatur Kindlers neues Literaturlexikon. - 1 (1988) - 20 (1992) [ABUN in ZfBB 36 (1989),1, S. 51 - 54; IFB 93-1/2-057]; ein Ergänzungsband ist seit 1996 in Arbeit. Die Charakteristiken von über 1000 Werken in den 20 Bänden sind in der Regel ausführlicher und konsequenter als solche in Literaturgeschichten.
Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur, 3. Aufl., [ABUN in ZfBB 36 (1989),1, S. 51 - 54; IFB 94-3/4-433] bietet in seinem 1. Teilbd. Autoren (1988) 460 Artikel über russische Schriftsteller. Die kurzen Artikel sind reich an wesentlichen Daten. Der Teilbd. Werke (1993) umfaßt etwa 200 Analysen von ca. russischen 100 Schriftstellern.
Das von Heinz Ludwig Arnold als Loseblattausgabe herausgegebene Kritische Lexikon zur fremdsprachlichen Gegenwartsliteratur. - München : Text + Kritik, 1983 - enthält besonders ausführliche Beiträge (um 20 Seiten mit Übersetzungbibliographie) über bisher etwa 40 der wichtigsten russischen Schriftsteller.
Eine amerikanische, auf 50 Bände geplante Enzyklopädie, die alle Literaturen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion umfassen sollte, blieb nach zwölf Jahren bei Ho stecken: The modern encyclopedia of Russian and Soviet literatures : including non-Russian and emigre literatures ; MERSL / ed. Harry B. Weber [u.a.] - Gulf Breeze, Fla. : Academic International Press. - 1 (1977) - 9 (1989). Es mischen sich ausgezeichnete Autoren- und Sachartikel mit kurzen Übersetzungen aus sowjetischen Lexika.
Mein oben zitiertes Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts (1992) geht auf eine Anregung des Alfred Kröner-Verlages zurück. Mehrfache Übersetzung (1996 auch in einer bulgarischen, polnischen und russischen Ausgabe) bestätigt die Notwendigkeit solcher Ergänzungen zu Literaturgeschichten.
Das wichtigste sowjetische Werk ist: Kratkaja literaturnaja enciklopedija. - Moskva. - 1 (1962) - 9 (1978). Auch sein ideologisch engerer Vorgänger enthält viele lohnende Artikel: Literaturnaja enciklopedija. - Moskva. - 1 (1929) - 9 (1935), 11 (1939). - Bd. 10 erschien 1991 (München : Sagner) auf Grund des ursprünglich verbotenen und bis dato verschollenen Umbruchexemplars.
Politisch zunehmend objektiv, weniger wertend und sehr faktenreich ist das neueste russische Werk: Russkie pisateli : 1800 - 1917 / glavn. red.: P. A. Nikolaev. - Moskva. - 1 (1989) - 3 (1994). - Bd. 3 reicht bis M. (zurück)

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