Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der russischen Sowjetliteratur


96-4-547
Geschichte der russischen Sowjetliteratur / Leitung: Harri Jünger. Hrsg.: Willi Beitz ... - Berlin : Akademie-Verlag. - 25 cm. - 2., unveränderte Aufl. ersch. 1977
[3696]
1. 1917 - 1941. - 1973. - XI, 674 S. : Ill.
2. 1941 - 1967. - 1975. - IX, 608 S. : Ill.

Die im Verlag der Akademie der Wissenschaften der DDR 1973 und 1977 publizierte zweibändige Geschichte der russischen Sowjetliteratur ist gegenüber der von Timofejew im erfaßten Schriftstellerbestand und in der Wertung ausgewogener, was der gewandelten politischen Situation in der Sowjetunion und damit in der DDR, aber auch dem Bestreben nach einer gewissen Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion entspricht. Die vom Umfang her außerhalb der UdSSR damals einmalige Darstellung geht auf einen kürzeren "Überblick" zurück, den die Hauptautoren 1970 im Reclamverlag herausgebracht hatten. Die Vorentscheidung des Herausgeberkollektivs, welche Autoren ein besonderes Kapitel bekommen, wer in einem Überblick behandelt wird und wer, wie es intern hieß, eines "Medaillons" zu würdigen ist, war unverändert mehr ideologischer als literarischer Natur, läßt aber das Bemühen erkennen, eine gewisse Vielfarbigkeit zu zeigen. Aus politischen Gründen mußten aus der Partei ausgeschlossene oder emigrierte Schriftsteller wie Nekrassow eliminiert oder die wegen ihrer kritischen Haltung inzwischen im Westen bekannter gewordenen wie Grossman erheblich weniger herausgestellt werden. Dementsprechend sehr knapp ist der Umfang gehalten, der bedeutenden, aber nicht systemtreuen, verfolgten, unterdrückten oder ermordeten Autoren bewilligt wurde, wie Bulgakow, Pilnjak oder Platonow. Immerhin wird Chlebnikow, der gleichzeitig (1974) im sowjetischen Hochschullehrbuch nur in Listen als einer der Futuristen erwähnt wird, von Fritz Mierau in einem Unterkapitel auf zwei Seiten sachlich und anerkennend dargestellt. Mierau hat sogar - allein dem Spezialisten entschlüsselbar - politisch Kritisches einbezogen. Sein Manuskript über Achmatowa und Mandelstam wurde allerdings erheblich zusammengestrichen. Es entsprach der politisch über Jahrzehnte beeinflußten Haltung der Herausgeber und der meisten Autoren, daß das Gesamtbild idealisiert und Kritik eines Schriftstellers an der gesellschaftlichen Entwicklung in der Sowjetunion konsequent verschwiegen wird, daß allgemein menschliche Probleme als Schwierigkeiten auf dem Wege zur sozialistischen Gesellschaft mit ihrer idealen sozialistischen Persönlichkeit interpretiert, die Gewaltmaßnahmen des Staates gegenüber Schriftstellern nicht erwähnt werden und kritisch denkende Autoren, wenn sie überhaupt einbezogen sind, so präsentiert werden, daß sie letztlich das System unterstützten. Die kulturpolitischen Passagen zeigen erhöhte Linientreue - "fortschrittliche Ideologie" -, so z.B., wenn Harri Jünger, der Hauptherausgeber, die Festigung des totalitären Systems 1932, in der schon damals Autoren wie Paustowski die große Gefahr für wahre Kunst erkannten, mit den Worten erklärt: "Im Interesse eines weiteren Aufschwungs der Literatur machte die Kommunistische Partei ihren Führungsanspruch in der Gesellschaft geltend". Das Interesse der Partei lag in Wirklichkeit in einer einheitlichen Ausrichtung und totalitären Nutzung der Literatur als Propaganda - darin bestand aus ihrer Sicht der "Aufschwung". Jünger besprach die Arbeit zunächst mit A. Dementjew vom Institut für Weltliteratur als leitendem Herausgeber der vierbändigen sowjetischen Akademieausgabe. Als dieser aber wegen seiner Arbeit bei Nowy mir, wo Solshenizyn veröffentlicht worden war, ins Schußfeld der verhärteten Kulturpolitik geriet, wechselte Jünger nach Leningrad zu Ju. Andrejew als maßgeblichem Berater. Dieser forderte mit Nachdruck, daß "diejenigen, die in der Sowjetliteratur eine wichtige Rolle gespielt haben", mit "mehr Aufmerksamkeit" bedacht würden (aus seinem unveröffentlichten Gutachten vom 2.5.1969). Das war eine unmißverständliche Aufforderung, der Partei mißliebigen Autoren weniger Raum zu geben und die Propagandaschreiber und Schriftsteller, denen eine "wichtige Rolle" nachträglich zugedichtet wurde, breiter und lobender herauszustellen. Etliches wurde geändert, doch haben die DDR-Herausgeber einen Teil ihrer beabsichtigten Eigenständigkeit gewahrt.

Die politische Unterordnung in Auswahl, Umfang und Tenor war in der Regel kein Ergebnis einer konkreten politischen Weisung oder äußeren Zensur. Aber bei einem offiziell geförderten, letztlich der Genehmigung des ZK der SED unterliegenden "Forschungsprojekt der DDR", um das es sich handelte, konnten fast nur solche in staatlichen Positionen tätigen Slawisten beauftragt werden, die sich an die Ideale der SED gebunden fühlten. Gleichzeitig bildete sich in der DDR eine zweite Slawistengruppe heraus, die nicht an Hochschulen oder bei der Akademie, sondern im Verlagsbereich wirkte. Sie war innerlich unabhängiger, förderte z.B. die Verbreitung von Werken derjenigen russischen Schriftsteller, die in den Literaturgeschichten im Schatten der "Klassiker" mit den Großkapiteln standen und in deren Prosa und Lyrik sich auch eine gewisse Gesellschaftskritik - in Andeutungen oder äsopischer Sprache - und grundsätzliche menschliche Probleme finden, also die Bereiche, nach deren Behandlung man in den Literaturgeschichten vergeblich sucht. Auch sind manche Nachworte, Vorworte und Kommentare zu solchen Übersetzungen - und sei es durch Andeutungen - einem ausgewogenen Bild über die Autoren näher. Die Verzerrungen in den DDR-Literaturgeschichten zum 20. Jahrhundert lassen zwar im Laufe der Jahre etwas nach, aber gültige Teilanalysen wird man fast nur in den Lyrikkapiteln von F. Mierau und I. Schäfer finden, die mehr zu dieser zweiten Gruppe gehören.


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