Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4

Russkaja literatura XX veka


96-4-540
Russkaja literatura XX veka : ocerki, portrety, esse ; ucebnoe posobie dlja ucascichsja 11 klassa srednej skoly ; v 2 castjach / [sost. E. P. Pronina]. Pod. red. F. F. Kuznecova. - 2. izd., dorab. - Moskva : Prosvescenie, 1994. - C. 1 - 2. - ISBN 5-09-005910-1 (1) - ISBN 5-09-005911-X (2)
[3688]

Das Ende der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei der UdSSR bedingte in Rußland auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, neue Schullehrbücher zu verfassen. Für den Bereich der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts liegt seit 1991 eine für die 11. Klasse der höheren Schulen bestimmte Ausgabe in zwei Bänden vor, die das zuständige Ministerium empfiehlt. 1994 erschien eine ergänzte Neuausgabe in einer Auflage von 178.000. Es ist sehr erfreulich, daß die russischen Schüler in dieser Weise mit ihrer Literatur der Sowjetepoche und den beiden Jahrzehnten davor vertraut gemacht werden. Hier wird nicht einfach ein berichtigtes Bild geboten, hier wird Vergangenheit bewältigt. Hier ist die Literatur der Emigration mit Selbstverständlichkeit einbezogen, und es werden alle Gattungen berücksichtigt. Teils werden einzelne Schriftsteller vorgestellt, teils werden thematische und historische Fragen für sich behandelt, z.B. "Wie ist er, der Realismus des 20. Jahrhunderts?" oder "Brauchen wir jetzt eine neue 'gehorsame' einsträngige Geschichte [der Literatur]?", wobei die ablehnende Antwort mit dem Hinweis beginnt: "Kurzsichtige Theoretiker verfälschten und 'optimistisierten' die Geschichte, lange ehe es einen Persönlichkeitskult und eine Phase der Stagnation gab" (S. 230). Unter den 17 Autoren heben sich durch mehrere Beiträge L. Smirnowa, W. Tschalmajew, O. Michailow und A. Karpow ab. Die Schwächen als Literaturgeschichte liegen im essayistischen Stil vieler Beiträge, die nicht nach erkennbarer Planung die Basiskenntnis über Leben und ausgewählte Werke des jeweiligen Autors vermitteln, ferner im Fehlen eines Registers, das gerade bei einem Werk von mehreren Autoren und zahlreichen Abschweifungen wichtig gewesen wäre. Auswahl, Rangordnung und z.T. der Umfang der Darstellung der Schriftsteller unterscheiden sich natürlich wesentlich von den Lehrbüchern sowjetischer Zeit, doch läßt sich ein gewisses Fortwirken nicht leugnen.[1] Jessenin, Majakowski, Platonow und Scholochow erhielten zwischen 30 - 40 Seiten. Wenn Achmatowa, Babel, Blok, Bulgakow, Gumiljow, Kljujew, Mandelstam, Pasternak, A. N. Tolstoi und Zwetajewa auf 10 - 20 Seiten vorgestellt werden, dann sind das außer dem "Roten Grafen" Tolstoi alles Schriftsteller, die früher verschwiegen oder verfemt wurden. Die Verwunderung, daß N. Ostrowski in sowjetischer Tradition ein eigenes Kapitel mit 19 Seiten zugebilligt wurde, klärt sich bei der Lektüre auf: Dieser Reklameautor des Sozialistischen Realismus, mit dessen Pseudoliteratur Generationen von Sowjetschülern erzogen wurden, wird von Lew Anninski als "Schlüsselfigur der sowjetischen Jahre unserer Geschichte" abgehandelt, in dem "das Rätsel dessen, was mit uns und mit Rußland geschah" läge. Einen ähnlich guten Beitrag der bereinigten Sicht auf die Sowjetzeit bildet die entlarvende Darstellung des Generalsekretärs des Schriftstellerverbands Fadejew (18 S.). Natürlich sind elf Seiten für Nabokov und teils noch wesentlich weniger für die wichtigsten Emigranten der ersten Welle relativ zu dürftig. Ganz erheblich zu eng ist die Beschränkung der Dritten Emigration auf Solshenizyn (19 S.). Andererseits ist Oleg Michailow[2] ein so hervorragender Spezialist für die Emigration der zwanziger Jahre, der eine gute Auswahl ihrer wichtigen Autoren auf 15 Seiten vorstellt und auch die Zweite Emigration etwas einbezieht, daß jedenfalls für den frühen Bereich ein ausgewogenes Bild entsteht. O. Michailow hatte im Jahr davor das erste Buch in Rußland über die Literatur der Ersten russischen Emigration veröffentlicht und auch dort am Schluß in knapper Form die Zweite Emigration einbezogen. Es ist typisch für die mangelnde Systematik des Schullehrbuchs, daß in einem kleinen Kapitel "Von Juri Trifonow bis zu Andrej Bitow" auch Romane von Emigranten wie Friedrich Gorenstein und in anderem Zusammenhang Titel von Woinowitsch und Axjonow erwähnt werden, doch nicht erst ein falscher Titel bei Sinowjew macht bewußt, daß das gestern Verbotene noch nicht aufgearbeitet ist. Wesentlich und positiv bleibt, daß die russische Literatur in diesem Schulbuch in großer Auflage neu und als Einheit erfaßt wird und daß es auch den westlichen Forscher bereichert.

3. Geschichten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts aus der Sowjetära


[1]
Die Literaturabteilung des Verlages unter Leitung von W. P. Shuraljow und die Redakteurin, Frau Je. P. Pronina, informierten mich im Herbst 1996 in Moskau über den Plan, 1997 eine neue Literaturgeschichte herauszugeben, in der die meisten der geäußerten Beanstandungen mit Ausnahme des fehlenden Registers beseitigt werden sollen. (zurück)
[2]
Literatura russkogo zarubez'ja [pervoj volny] / Oleg N. Michajlov. - Moskva : Prosvescenie, 1995. - 432 S. (zurück)

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