Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4

Russische Literaturgeschichten 1905 bis 1996 : ein kritischer Überblick


96-4-534

von
Wolfgang Kasack

1. Vorbemerkung

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der damit aufgehobene Zwang für russische, im Lande wohnende Wissenschaftler, ihre Sicht auf die Literatur einer vorgegebenen politischen Meinung unterzuordnen, hat dort die Voraussetzung geschaffen, die Geschichte der russischen Literatur neu zu schreiben. In den verschiedenen Phasen der Entwicklung der Sowjetunion änderte sich die politisch bedingte Auswahl der Autoren und Werke, die berücksichtigt werden durften, änderten sich die Wertung und damit auch der Umfang der zugebilligten Seiten oder Zeilen. Verhaftung, Hinrichtung und Ausreise eines Schriftstellers bedeuteten seinen Ausschluß aus der Geschichte der russischen Literatur, selbst wenn unmittelbar davor größtes Lob gespendet worden war.

Auch viele außerhalb des sowjetischen Machtbereichs veröffentlichte Geschichten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts sind keineswegs frei von der sowjetischen Sicht geblieben. Das veranschaulicht bereits die Übernahme des Begriffs "Sowjetliteratur" für die russische Literatur des 20. Jahrhunderts, der - den Verfassern sicher oft nicht bewußt - den Primat der Politik über die Literatur akzeptiert. Eine Entscheidung, die "Sowjetliteratur" darzustellen und nicht die russische, bedeutete einen Verzicht auf die Berücksichtigung der Literatur der Emigration. Außerdem wurde im Westen der Begriff "Sowjetliteratur" in der Regel gleichgesetzt mit "Russische Literatur ab 1917" und schloß so die sowjetische Literatur anderer Sprachen außer der russischen in der UdSSR aus. Dort war dafür der Begriff "Russische Sowjetliteratur" üblich. Ferner entsprach der Kanon der Autoren, die westliche Wissenschaftler als "sowjetisch" einordneten, keineswegs dem des aktuellen sowjetischen Zensors. Das bezog sich z.B. auf bedeutende Schriftsteller der zwanziger Jahre wie Babel oder Pilnjak als Ermordete, Achmatowa oder Pasternak als Unterdrückte und Verleumdete und Samjatin als Geschmähten und Emigrierten. In die meisten westlichen Geschichten der "Sowjet"-Literatur sind sie einbezogen.

Der Ausschluß der Literatur der Emigranten aus vielen westlichen Literaturgeschichten beginnt damit, daß russische emigrierte Literaturwissenschaftler der in der Sowjetunion nach 1917 entstandenen Literatur gesonderte Aufmerksamkeit widmen. Mark Slonim veröffentlichte 1933 ein Buch Porträts sowjetischer Schriftsteller und brachte zwei Jahre später in französischer Sprache eine entsprechende Anthologie heraus. Ebenso verhielt sich Gleb Struve, der erstmals 1935 der "Sowjetliteratur" eine Monographie widmete.[1] Beide wollten deutlich machen, daß unter dem neuen Regime trotz Lenins totaler Zerschlagung von Adel, Bürgertum, Wirtschaft und der überkommenen russischen Kultur und trotz der Ausreise des überwiegenden Teiles der angesehenen russischen Schriftsteller das literarische Leben nicht zum Erliegen gekommen war. In den Neuauflagen korrigierte Struve den zunächst verständlichen Ausschluß der Auslandsliteratur nicht, sondern vertiefte ihn noch 1956 durch eine isolierte, jedoch nur auf russisch erschienene Abhandlung über diese Literatur "in der Vertreibung".[2]

Nach dem Ende der Sowjetära 1991 sind neue Geschichten der russischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen, und diese sollen hier als erste vorgestellt werden. Sie werden mit ausgewählten älteren Darstellungen der Sowjetperiode verglichen, darauf folgen Beschreibungen von Geschichten der russischen Literatur über den gesamten Zeitraum. Der Gesamtbestand an Literaturgeschichten und Nachschlagewerken, aus dem für diesen Überblick ausgewählt werden mußte, liegt bei 150 Titel. Die nachfolgende Übersicht wird in erweiterter Form 1997 als Buch erscheinen.[3] Ein Teil der hier nicht berücksichtigten Titel findet sich in der Bibliographie, die ich in die knappen Abhandlungen des Gegenstandes von Wilhelm Lettenbauer und mir in Kindlers neues Literaturlexikon[4] und in mein Buch Russische Autoren[5] einbezogen habe.

2. Geschichten der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts aus der Zeit nach dem Ende der Sowjetära

Noch vor der Wende wurde in der DDR der Plan gefaßt, eine neue, etwas liberalere Geschichte der russischen Literatur der Sowjetzeit herauszubringen. Die Verwirklichung durch zwei Leipziger Slawisten - Willi Beitz und Karlheinz Kasper - nach der Wiedervereinigung befreite die Herausgeber von jeglichen ideologischen Vorgaben, brachte aber finanzielle und personelle Probleme. Sie beschlossen, zwei unabhängige Bände mit jeweils eigenen Autoren herauszugeben.


[1]
Zur deutschen Ausg. 1957 s.u. IFB 96-4-542. (zurück)
[2]
Russkaja literatura v izgnanii : opyt istoriceskogo obzora zarubeznoj literatury = Russian literature in exile / Gleb Struve. - N'ju-Jork : Izd. im. Cechova, 1956. - 408 S. - Zur 2. Aufl. 1984 s.u. IFB 96-4-543. (zurück)
[3]
Das durch diesen Beitrag inspirierte Buch wird auf weitere Geschichten der russischen Literatur sowie auf Lexika eingehen und auch spezielle Register zu den übergreifenden Literaturlexika enthalten: Russische Literaturgeschichten und Lexika der russischen Literatur : die Handbücher des 20. Jahrhunderts ; Überblick, Einführung, Wegführer / Wolfgang Kasack. - Konstanz : Universitätsverlag Konstanz, 1997. - ISBN 3-87940-585-9. (zurück)
[4]
Die russische Literatur [des 10. - 19. Jahrhunderts] / Wilhelm Lettenbauer. Überarb. von Wolfgang Kasack // In: Kindlers neues Literaturlexikon. - München : Kindler. - Bd. 20 (1992), S. 379 - 385.
Die russische Literatur des 20. Jahrhunderts : vom Symbolismus bis zum Ende der Sowjetunion / Wolfgang Kasack. // In: Kindlers neues Literaturlexikon. - München : Kindler. - Bd. 20 (1992), S. 386 - 392. (zurück)
[5]
Russische Autoren in Einzelporträts / Wolfgang Kasack. - Stuttgart : Reclam, 1994. - 438 S. ; 16 cm : Ill. - (Universal-Bibliothek ; 9322). - ISBN 3-15-009322-8 (br.) : DM 18.00 [2437]. - Vgl. IFB 94-3/4-487 sowie unten IFB 94-4-562. (zurück)

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