Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
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Lehrbuch des Schachspiels


96-4-487
Lehrbuch des Schachspiels / Jean Dufresne ; Jacques Mieses. Hrsg. von Rudolf Teschner. - 29., völlig neu bearb. Aufl. - Stuttgart : Reclam, 1996. - 753 S. : Ill. ; 16 cm. - ISBN 3-15-021407-6 : DM 34.80
[3601]

Seit nunmehr 115 Jahren bringt der Reclam-Verlag das Lehrbuch des Schachspiels heraus, das sich bei Anfängern und geübten Spielern bis heute großer Beliebtheit erfreut. Es geht zurück auf das 1881 erstmals erschienene Kleine Lehrbuch des Schachspiels von Jean Dufresne, das innerhalb von nur 11 Jahren sechs Auflagen erlebte. Als Dufresne 1893 starb, hat der Verlag Jacques Mieses für die Neubearbeitung gewonnen. Mieses, der als deutscher Großmeister über 60 Jahre lang an internationalen Turnieren teilnahm und während des Dritten Reichs als Verfolgter des Nazi-Regimes nach England emigrieren mußte, hat das Lehrbuch von der 7. Aufl. 1901 bis zur 18. Aufl. 1952 betreut (mit Ausnahme der 15. und 16. Aufl., die Max Blümich bearbeitet hat). Seit dem Tod von Mieses 1954 zeichnet der internationale Meister und Schachschriftsteller Rudolf Teschner für die Herausgabe verantwortlich. Das Lehrbuch ist mit den Namen der beiden ersten Herausgeber so eng verbunden, daß es weiterhin zu Recht unter deren gemeinsamer Autorschaft erscheint.

In seiner Anlage ist das Buch bis heute unverändert geblieben. Der 1. Abschnitt vermittelt die Grundregeln und Spielgesetze, der 2. ist der Eröffnungslehre, der 3. den Endspielen gewidmet. Der 1. Abschnitt, der in 14 Unterabschnitte gegliedert ist, macht die Spieler mit Aufstellung und Gangart der Steine bekannt und erklärt wichtige Begriffe und Stellungen wie Matt, Patt, Rochade und Remis. Im 11. Unterabschnitt, der nicht stringent alphabetisch geordnet ist, werden Übliche Fachausdrücke erläutert, wobei der Begriff en passant hier noch zu ergänzen wäre.[1] Die Spielgesetze (14. Unterabschnitt) sind sehr knapp gehalten; bei einer Neuauflage sollte man vielleicht die vollständigen Spielregeln des Weltschachbundes (Teil 1: Allgemeine Regeln; Teil 2: Ergänzungsregeln für Turniere) abdrucken, zumal das Werk - wie dem Vorwort zu entnehmen ist - auch für künftige Turnierspieler gedacht ist.

Der umfangreichste Teil des Buches bringt eine ausführliche Typologie der Eröffnungen, die in offene, halboffene und geschlossene Spiele gegliedert ist. Die einzelnen Eröffnungen werden eingehend beschrieben und anhand eines trefflichen Beispielmaterials kommentiert. Hier zeigt sich der lehrhafte Charakter des Buches: Dem Leser werden die Vor- und Nachteile bestimmter Spielzüge und Stellungen geschildert, die Absichten der Spieler nahegebracht, Varianten aufgezeigt usw., so daß er sich beim Nachspielen der Partien eine gute Vorstellung von der Eigenart der jeweiligen Eröffnung, ihrer Schönheit und Gedankenfülle, aber auch von ihren mitunter widersprüchlichen und fragwürdigen Zügen machen kann.

Diese beispielhaften Eröffnungen werden jeweils ergänzt durch Partien berühmter Schachmeister, die gleichfalls von den Verfassern sachkundig interpretiert werden. Insgesamt sind 133 solcher Partien abgedruckt, exakt so viele, wie in der Vorauflage auch. Allerdings wurden ca. zwei Dutzend Partien ausgewechselt. Nach wie vor stammt der überwiegende Teil der Partien aus der Zeit zwischen 1920 und 1960; rund 30 Partien liegen davor, etwa ebenso viele in der Zeit danach. Die älteste hier publizierte Meisterpartie (Nr. 44) stammt aus dem Jahre 1851,[2] die neueste (Nr. 97) wurde bei den Dortmunder Schachtagen 1995 gespielt. Da bei einer solchen Auswahl auch die Kriterien der Individualität und der Ästhetik eine Rolle spielen, ist es durchaus gerechtfertigt, auf eindrucksvolle klassische Spiele, auf "unvergängliche" und "unsterbliche" Partien zurückzugreifen. Am Ende der geschlossenen Spiele wird eine Reihe unregelmäßiger Eröffnungen abgedruckt, die in theoretisches Neuland führen. Dieser Teil ist gegenüber der Vorauflage stark überarbeitet worden.

Zum Studium der Endspiele kann der Schachfreund die Beispiele des 3. Abschnitts heranziehen. Hier werden systematisch die strategischen und taktischen Probleme erörtert, die sich bei vergleichsweise geringem verbliebenen Material in der Endphase eines Spiels ergeben. Es können in diesem Rahmen natürlich nur die Grundzüge der Endspieltheorie anhand typischer Beispiele vermittelt werden. Die Zahl der Publikationen zu diesem Spezialthema ist fast unüberschaubar; die von der modernen Technik begeisterten Schachexperten können heutzutage ihr Spiel sogar anhand einer Endspieldatenbank auf CD-ROM perfektionieren.

Der Anhang bringt einen Historischen Teil, der bis zum Jahr 1881 (dem Jahr der 1. Aufl. dieses Lehrbuchs) die Geschichte des Schachspiels in gedrängter Form darstellt; im Anschluß daran werden chronologisch (bis 1995) Wettkämpfe zwischen hervorragenden Meistern aufgeführt. Der Teil Internationale Turniere und Länderwettkämpfe ist in der Neuauflage entfallen.[3] Das Namenregister ist gründlich überarbeitet worden. Da viele neue Namen aufgenommen wurden, hat man in der 29. Aufl. auf die früher übliche Angabe wichtiger Berufsstationen (Wettkämpfe, Turniere) verzichtet, so daß jetzt als Mindestangaben Name, Vorname(n) und Lebensjahre übrigblieben.[4] Bei einer Reihe von Namen konnten Vornamen und Lebensdaten offenbar aber nicht ermittelt werden. Neu sind Verweisungen von unterschiedlichen Namensformen (Yusupov s. Jussupow) und kursiv gestellte Seitenzahlen, die auf Partien verweisen.

Das Inhaltsverzeichnis am Schluß des Bandes hat an Informationsgehalt und Übersichtlichkeit gewonnen. Alle 133 Meisterpartien sind jetzt hier genannt, so daß man über das Inhaltsverzeichnis gezielt die Partien im Hauptteil auffinden kann. Durch die Verwendung von Fettdruck und anderen typographischen Hervorhebungen ist die Orientierung im Inhaltsverzeichnis und im Textteil verbessert worden. Künftig aber sollte man darauf verzichten, die Partien im Textteil in Worten zu numerieren ("Hunderterste Partie"); dann würden die Überschriften im Textteil mit denen im Inhaltsverzeichnis exakt übereinstimmen. Zu überlegen wäre auch, ob man ein Sachregister hinzufügt, wobei die Üblichen Fachausdrücke (S. 29 ff.) integriert werden könnten. Begriffe wie Wolga-Gambit, Lettisches Gambit oder Benoni-Verteidigung[5] könnten dann schnell und gezielt nachgeschlagen werden.

Obwohl das Buch um 40 S. erweitert wurde, ist es dank des dünneren Papiers schmäler und damit handlicher geworden,[6] wobei die zahlreichen Diagramme in einer gerade noch zumutbaren Größe von 3,8 x 3,8 cm wiedergegeben werden. Der Kleine Dufresne, wie der Klassiker unter den Schachbüchern kurz genannt wird, sollte in keiner Bibliothek fehlen; er erfüllt nach wie vor einen doppelten Zweck, nämlich zu belehren und zu unterhalten.

Gunter Maier


[1]
Er wird allerdings im 5. Unterabschnitt: Gangart ... der Bauern erklärt. (zurück)
[2]
Es ist die in einem Londoner Caféhaus zwischen Anderssen und Kieseritzky gespielte Partie, die wegen ihres Kombinationsreichtums und ihrer Schönheit als "unsterbliche Partie" in die Geschichte eingegangen ist. (zurück)
[3]
Man findet eine vergleichbare Aufstellung etwa in: Grosses Schach-Lexikon : Geschichte, Theorie und Spielpraxis von A bis Z ; mit aktualisiertem Tabellenteil / Klaus Lindörfer. Unter Mitarb. von Alfred Diel. - Sonderausg. - München : Orbis-Verlag, 1991. - 390 S. - ISBN 3-572-02734-9 : (beim Verlag vergr.) (zurück)
[4]
Das in der Vorauflage irrtümlich mit 1942 angegebene Todesjahr von Miss Menchik ist jetzt berichtigt worden. (zurück)
[5]
Die eigentümliche Bezeichnung wird dem Leser leider nicht erklärt. Hier hilft Meyers Schachlexikon (1993) weiter (vgl. IFB 94-1-102). (zurück)
[6]
Dies hatte auch zur Folge, daß der Rückentitel nicht mehr horizontal, sondern vertikal aufgedruckt wurde. Leider folgt der Verlag dabei nicht der internationalen Gepflogenheit, den Rückentitel von oben nach unten anzuordnen. (zurück)

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