Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
[ Bestand in K10plus ]

Das Fischer-Lexikon Literatur


96-4-445
Das Fischer-Lexikon Literatur / hrsg. von Ulfert Ricklefs. - Orig.-Ausg. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag. - 19 cm. - ([Fischer-Taschenbücher] ; ...). - Nebent.: Literatur
[3507]
Bd. 1. [A - F]. - 1996. - XI, 703 S. : Ill. - (... : 4565). - ISBN 3-596-24565-6 : DM 24.90
Bd. 2. [G - M]. - 1996. - VIII S., S. 705 - 1416. - (... ; 4566). - ISBN 3-596-24566-4 : DM 24.90
Bd. 3. [N - Z). - 1996. - VIII S., S. 1417 - 2132. - (... ; 4567). - ISBN 3-596-24567-2 : DM 24.90

Vor über 30 Jahren hatten der Altphilologe Wolf-Hartmut Friedrich und der Germanist Walther Killy zum erstenmal als Bd. 34 des Fischer-Lexikons den Teil Literatur in drei Bänden herausgegeben. Der erste Band bot historisch ausgerichtete Überblicksartikel zu den verschiedenen Literaturen, die zwei anderen umfaßten ein Sachlexikon. Das hier anzuzeigende Unternehmen, das der Erlanger Literaturwissenschaftler Ulfert Ricklefs herausgegeben hat, ist keine Neubearbeitung des seinerzeit rasch als Standardwerk eingeführten Buches, sondern folgt einer von Grund auf neuen Konzeption, deren Ausführung auch durchweg in den Händen anderer Autoren gelegen hat.

Beibehalten sind die alphabetische Anlage mit enzyklopädisch weitgefaßten Stichwörtern. Ihre veränderte Auswahl zeigt, wie sehr eine intensive Forschung in den letzten Dekaden unser Bild von der Literaturgeschichte durch die Erschließung ganz neuer Felder verändert hat. Da wird Literaturgeschichte zum einen gar nicht mehr als "Nationalphilologie" betrieben, sondern durchweg komparatistisch, wie etwa der große Artikel Europäische Literaturen (Wirkung in Deutschland) von Achim Hölter belegt. Da hat die von Arthur Henkel und Albrecht Schöne mit ihrem großen Handbuch Emblemata[1] begonnene Emblematik-Forschung die Einsicht vermittelt, daß man ohne die Kenntnis dieser spezifischen Bildlichkeit die Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts nicht verstehen kann.[2] Die Artikel Erbauungsliteratur (Dietmar Peil) und Schäferdichtung (Klaus Garber) belegen, daß die jüngere Literaturwissenschaft ganze Gattungen wiederentdeckt hat. Mit Alfred Estermann behandelt einer der besten Kenner das Zeitschriftenwesen. Vor wenigen Jahrzehnten von den Literarhistorikern kaum beachtet, ist die Zeitschrift als Schlüsselmedium erkannt. Auch die Kohärenz literarischer Gruppenbildung gründet ganz wesentlich in diesem Medium, und so rückt derselbe Autor in einem eigenen Artikel denn auch das Phänomen Dichterkreise/Koproduktionen in den Blick.

Auch die zahlreichen methodischen und literaturtheoretischen Wandlungen, denen die Literaturwissenschaft im letzten Vierteljahrhundert unterworfen gewesen ist, spiegeln sich in dem neuen Lexikon. Damit sind nicht die vielen modischen Eintagsfliegen gemeint, von denen eine "Diskussionswissenschaft" offenbar unvermeidlich heimgesucht wird, sondern solche neuen methodischen Ansätze, die ihre Ergiebigkeit in der Anwendung auf literarische Phänomene tatsächlich erwiesen haben. Wer dazu Beispiele sucht, findet sie in den Artikeln zu Ästhetik, Hermeneutik, Intertextualität, Lesen, Literaturtheorie usw. Überall wird die enge Verbindung von Literaturwissenschaft und Philosophie sichtbar, sei es bei subtileren hermeneutischen Verfahren, beim Einzug der Diskursanalyse ins literaturwissenschaftliche Methodenarsenal oder bei der verbreiteten Ausrichtung poststrukturalistischer Textanalyse am philosophischen Verfahren der Dekonstruktion.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die traditionellen Teilgebiete der Literaturwissenschaft (Gattungen, Rhetorik, Epochen usw.) angemessen berücksichtigt sind, ja daß die erwähnten neuen methodischen Ansätze usw. gerade im Kontext solcher Teilgebiete abgehandelt werden, wenn sie sich dort nachhaltig ausgewirkt haben.

Alle Artikel enthalten weiterführende Bibliographien, die sich durch die Auswahl der wichtigsten - überwiegend monographischen - Veröffentlichungen auszeichnen, statt durch erdrückende Titelmengen abzuschrecken. Die über 2000 Textseiten werden durch ein sorgfältig gearbeitetes Register erschlossen, in dem alle Titel durch Kursive hervorgehoben sind.

Die Artikel laden zu zusammenhängender Lektüre ein,[3] zumal sie in erfreulich unprätentiöser Diktion daherkommen. Nicht nur zum punktuellen Nachschlagen, sondern zu ergänzender Lektüre sollten Studenten literaturwissenschaftlicher Disziplinen das neue Lexikon neben einer systematischen Einführung bzw. einem literaturgeschichtlichen Abriß stets in greifbarer Nähe haben.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Emblemata : Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts / hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. - Stuttgart : Metzler. - 32 cm [0402]. - [Hauptbd.] - (1967). - LXXXI S., 2198 Sp. : Ill. - Supplement der Erstausg. - 1. Aufl. - 1976. - CCXVII S. - Die Originalausgabe ist ebenso vergriffen wie die ergänzte Neuausgabe (1976) und die Sondersausgabe (1978). Die im Herbst 1996 erschienene Taschenausgabe (ISBN 3-476-01502-5 : DM 98.00) ist zwar im Unterschied zur Originalausgabe erschwinglich, trotzdem kann man vom Kauf nur abraten, da wegen der starken Formatverkleinerung auf 22 cm die Details vieler Emblemata nicht mehr erkennbar sind. [sh] (zurück)
[2]
Der Artikel Emblematik von Dietmar Peil ist der einzige, dem einige Abbildungen beigegeben sind. (zurück)
[3]
Jeder Band enthält am Anfang eine Rubrik Die Artikel in systemtischer Übersicht, und zwar nicht nur die des jeweiligen Bandes, sondern des gesamten Lexikons. (zurück)

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