Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
[ Bestand in K10plus ]
[ Bestand in K10plus ]

Augustinus-Lexikon


96-4-443
Augustinus-Lexikon / hrsg. von Cornelius Mayer. - Basel : Schwabe. - 27 cm. - ISBN 3-7965-0854-5
[3565]
Vol. 1. [Aaron - Conuersio]. - 1986/94. - LI S., 1294 Sp. : Kt. - ISBN 3-7965-0964-9 : SFr. 294.00, DM 258.00

Als 1996 die frühen Vorlesungen Martin Heideggers zur Religionsphilosophie erschienen, wurde für viele überraschend deutlich, wie sehr die Augustinuslektüre Grundbegriffe der existenzialen Analyse in Sein und Zeit geprägt hat; als Descartes sein cogito formulierte, wurde ihm bald vorgehalten, daß sich der Gedanke schon bei Augustin finde ... Wenn man dazu nimmt, daß das Grundbuch der scholastischen Theologie, die Sentenzen des Lombarden, über 900 von 1500 Sentenzen aus Augustinus schöpft, so zeigt sich an den weitgestreuten und leicht ergänzbaren Beispielen, wie sehr der Bischof von Hippo die europäische Kultur geprägt hat. Der Gedanke einer lexikalischen Erfassung von Person, Werk und Umwelt ist daher nicht abwegig.

Das von Cornelius Mayer organisierte Augustinus-Lexikon (AL), dessen 1. Bd. in Faszikeln von 1986 - 1994 erschien, sucht dieses Desiderat zu realisieren. Das Werk ist international konzipiert. Das Herausgebergremium umfaßt renommierteste Spezialisten aus verschiedenen Ländern. Die Texte werden in Deutsch, Französisch oder Englisch als Berichtssprachen gedruckt (nur das Vorwort ist dreisprachig). So folgen Augustinus (uita (G. Bonner, engl.), Aurelius episcopus (A.-M. La Bonnardière, franz.) und bald darauf Balneum, balneae (A. Zumkeller, dt.) einander. Der Leser muß also (mindestens) viersprachig sein, da die wesentlichen Begriffsartikel unter den entsprechenden lateinischen Termini stehen und selbstverständlich auch lateinisch zitiert wird. Damit ist auch klar, welchen Adressatenkreis das Werk anzielt, und ein Indiz gegeben, welchen Qualitätsanspruch es stellt.

Doch zunächst zur Konzeption. Das AL umfaßt Realien und Begriffe. Es enthält Artikel zu Personen (der Bibel, soweit für Augustinus theologisch relevant: Aaron, Abel ...; der antiken Literatur: Cicero ...; der Umwelt Augustins: Ambrosius ...), zu geographischen Namen (Africa, Carthago ...), zu Sachthemen (das schon genannte Badewesen, Amphitheatrum usw.), zu Begriffen die für Augustinus relevant sind (Bonum, Ciuitas dei ...), zu Werken Augustins (Ciuitate dei [De ...], Confessiones). Der 1. Bd. umfaßt ca. 190 Artikel (von geplanten 1200), die von ca. 70 Autoren verfaßt wurden. Vom Umfang her ist das AL damit für eine weitgefächerte bzw. interdisziplinäre Forschung ein Werk der Grundinformation.

Dem Erscheinen des ersten Faszikels 1986 ging eine zehnjährige Vorbereitungsphase voraus - wenn man von der Konstituierung des Herausgebergremiums ausgeht. Durch die DFG gefördert wurde Anfang der 80er Jahre das ganze Augustinische Corpus elektronisch erfaßt - was inzwischen zu einer Neben-(?)Nutzung dieser Daten auf CD-ROM führte, dem vorstehend besprochenen Corpus Augustinianum Gissense (CAG). Durch diese Vorbereitung ist das AL auch wohl das erste derartige Unternehmen, das seine Darstellung auf die volle elektronische "Durchsichtigkeit" einer solchen Textmenge stützen kann, - andere vergleichbare pionierhafte EDV-Leistungen wie der Index Thomisticus von R. Busa SJ sind ja auf der Nutzungsebene einer Begriffs-Datenbank stehen geblieben. Aufgrund dieser Voraussetzungen kann der Herausgeber mit Recht anmerken, daß ein Gutteil der Artikel nicht nur Informationsangebote, sondern Forschungsleistungen sind.

Der Aufbau der Artikel entspricht - je nach Gegenstand abgewandelt - einem Strukturschema, das das Vorwort beschreibt (S. VIII) und das die naheliegenden historischen und philologischen Aspekte umfaßt. Die Literaturangaben sind ausführlich, - angesichts des neuen elektronischen Angebots der Literaturdatenbank im Corpus Augustinianum Gissens (CAG) manchmal eher zu ausführlich. Jedenfalls wäre für die kommenden Faszikel eine möglichst strikte Beschränkung auf zentralste Literatur wünschenswert.

Die Beurteilung des Vorliegenden wird nach den Interessen des Lesers sicher leicht unterschiedlich ausfallen. Aus theologischer und philosophischer Sicht bieten etwa das Beatitudo-Thema, die "Erkenntnis"-Artikel (cogitatio, cognitio) oder der Komplex "Bonum" Testmöglichkeiten. An letzterem ließe sich etwa zeigen, wie die Textbasis für eine überzeugende historische und sachliche Gliederung ausgenutzt wird, in die selbst anscheinend entlegene exegetische Aussagen noch eingebracht werden können (bonum Susannae; Deutung der Tobias-Geschichte u.a.m.), und wie schließlich eine systematische Interpretation geleistet wird, die auch "verbleibende Probleme" nicht umgeht, die bei der ungeheuren Wirkungsgeschichte Augustins immer noch virulent sein können (was sich am Phänomen eines betroffen wirkenden Antiaugustinismus auch heute noch gelegentlich zeigt). Andere Artikel haben hohen kulturgeschichtlichen Reiz. Das genannte Badethema gehört dazu, umfaßt religiöse Reinigung, Hygiene, Askese wie Luxus und ist auch im Vergleich mit späteren Schamvorstellungen nicht uninteressant. Daß der Artikel Confessiones (60 Spalten) in diesem Band herausragt, war von der Bedeutung dieses Buches im Werks Augustins und von der Rezeption her, die es bis heute zu einem der doch relativ wenigen Bestseller der Antike macht - überprüfbar selbst im Internet -, anzunehmen. Allein der forschungsgeschichtliche Teil ist für den Nichtspezialisten schon von hohem Reiz. Die lexikalische Darstellungsform mit der notwendigen Verknappung hemmt freilich etwas das Lesevergnügen. Doch das ist die unvermeidliche Crux solcher Werke.

Kein Unternehmen dieser Art kann ohne selbstgesteckte Grenzen durchgeführt werden. In diesem Fall ist es vor allem die strikte Beschränkung auf Augustinus und das Weglassen des Augustinismus. Dies wird so konsequent durchgeführt, daß wohl noch die umstrittenen, nicht aber die unechten, aber zeitweise unter Augustinus Namen überlieferten Werke genannt werden. Man wird das hinnehmen und auch wohl als eine Grundbedingung für das Gelingen des Werkes beim derzeitigen Forschungsstand überhaupt ansehen müssen (die relativ schwachen Augustinismus-Artikel selbst in so renommierten Werken wie dem Lexikon für Theologie und Kirche[1] belegen diese These; daß der offensichtliche "Augustinismus" an zentralen Stellen der modernen Philosophie weithin Überraschung auslöst - wie eingangs für Heidegger belegt; bei Wittgenstein ließe es sich an anderer Stelle zeigen, um komplementär zu argumentieren; andere große Denker wie Maurice Blondel ließen sich noch weit mehr als "Augustiner" einordnen, von Max Scheler ganz zu schweigen -, ist ein anderes Indiz).

Bedauerlich ist, daß seit zwei Jahren kein Faszikel des Lexikons mehr erschienen ist (das 1. Faszikel von Bd. 2 ist für Anfang 1997 angekündigt). Vergleicht man die Laufzeiten manch anderer Großunternehmen (Reallexikon für Antike und Christentum, eine ganze Reihe französischer Lexika u.a.m.), so ist das noch nicht erschreckend. Vielleicht sah man auch andere Aufgaben als vordringlicher an wie das Erscheinen des CAG - die Konkurrenz mit anderen Elektronisierungen von Augustinus-Texten ist ja gegeben. Dazu kommt - wie sich schon bis in Presseberichte herumgesprochen hat -, daß der selbsterhobene Qualitätsstandard auch auf bereits abgelieferte Artikel angewandt wurde, so daß sich wohl erheblich Planungsverzögerungen ergaben. Bei einem Unternehmen dieser Größenordnung wird man das nicht für gewichtig halten, wenn nur die Konzeption konsequent durchgehalten wird (wie es leider bei einem zweiten Großunternehmen desselben Verlags, dem Historischen Wörterbuch der Philosophie, das sich ganz ungleichgewichtig zu seinen Anfängen entwickelt hat, leider nicht geschehen ist).

Ein Frage, die sich die Herausgeber sicher auch schon gestellt, aber (m.W.) noch nicht öffentlich beantwortet haben, bleibt am Schluß: Auch wer die Nutzungsform "Buch" für solch ein Unternehmen nach wie vor für bequem und angemessen hält und auf das zügige weitere Erscheinen des AL hofft, fragt sich doch, ob nicht als Rechercheform auch die elektronische Version des Lexikons sinnvoll wäre. Das CAG wäre damit nicht nur - nach Selbstaussage - die "unübertroffene Trias" von Volltextinformation mit Zitatauszeichnung, Wortformen- und Lemmarecherche sowie Literaturinformation, sondern unter Beigabe der reflektierten Darstellung der Grundthemen in lexikalischer Form eine derzeit auf diesem Gebiet kaum übertreffbare "Quaternitas", - aber vielleicht denkt man hier noch zu augustinisch: "ut trinitas maneat, non accedente homine quaternitas fiat".

Albert Raffelt


[1]
Vgl. IFB 94-3/4-421. (zurück)

Zurück an den Bildanfang