Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4

Zur Katalogisierung illuminierter Handschriften in1


96-4-375
Zur Katalogisierung illuminierter Handschriften in1 Deutschland : Ziele und Methoden der kunsthistorischen Handschriftenkatalogisierung (aus Anlaß von zwei Neuerscheinungen)
von
Bernd Michael

1. Die Katalogisierung illuminierter Handschriften in Deutschland

Die noch lange nicht vollendete Erschließung der mittelalterlichen Handschriften in Deutschland ruht heute im wesentlichen auf drei Säulen: der mehr oder minder "einfachen" Inventarisierung der Bestände, der detaillierten inhaltlichen, kodikologischen und buchhistorischen Aufarbeitung der einzelnen Handschriften in den sogenannten Textkatalogen und den für illuminierte Handschriften üblichen kunsthistorischen Spezialkatalogen, die ergänzend zu den ersten beiden Katalogtypen hinzutreten können.

Während die Inventarisierung der Handschriften, deren jüngstes Beispiel in den Bänden des rheinischen Handschriftencensus[1] vorliegt, so alt wie die Katalogisierung von Bibliotheksbeständen überhaupt ist, sind der Textkatalog und der kunsthistorische Spezialkatalog Kinder aus dem historisch-wissenschaftlichen Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die in ihrer paradigmatischen Form fast gleichzeitig das Licht der Welt erblickt haben. Während Valentin Roses Berliner Textkataloge aus den Jahren 1893 - 1905,[2] die mit Recht als der Beginn des umfassenden wissenschaftlichen Handschriftenkatalogs betrachtet werden,[3] ausschließlich vom Geist der philologisch-historischen Methode durchdrungen sind und dem spektakulärsten Aspekt des mittelalterlichen Buches, dem Buchschmuck und den Miniaturen, ein nur rudimentäres Interesse entgegenbrachten, sind die von Franz Wickhoff, dem Kollegen Alois Riegls an der Wiener Universität, seit 1896 vorbereiteten, seit 1905 herausgegebenen Bände des Beschreibenden Verzeichnisses der illuminierten Handschriften Österreichs[4] vom ästhetischen Geist des Fin de siècle und dem die bloße Kennerschaft und den Tatsachenpositivismus überwindenden stilhistorischen Interesse der Wiener kunsthistorischen Schule geprägt. Die in den Codices überlieferten Texte werden zwar notiert, aber sie spielen in diesem Unternehmen nur eine Nebenrolle; im Zentrum der Aufmerksamkeit steht allein der künstlerische Schmuck der mittelalterlichen Handschriften, deren Initialen und Miniaturen mindestens durch eine bezeichnende Abbildung dokumentiert sind.

Das Wiener Modell eines kunsthistorischen Spezialkataloges, der in der Hauptsache auf den kunsthistorischen Befund in den mittelalterlichen Handschriften abzielte, fand, wenn auch in reduzierter Form, schon in den zwanziger Jahren in Deutschland - vor allem in Berlin, Heidelberg und Frankfurt - und nach dem zweiten Weltkrieg in der Schweiz, in Frankreich und England seine erklärten Nachahmer.[5] Die wissenschaftliche Handschriftenkatalogisierung im Deutschland der Nachkriegszeit konzentrierte sich seit dem Ende der fünfziger Jahre dagegen zunächst ausschließlich auf die "Textkatalogisierung"; denn dort war der Nachholbedarf - gemessen am Reichtum der Bestände - im internationalen Vergleich am größten. An die großen kunsthistorischen Spezialkataloge aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren knüpfte man mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erst in der Mitte der siebziger Jahre wieder an, als das Beispiel der ausländischen Spezialkataloge und ein umfassender, die philologisch-textlichen Aspekte der Handschriftenanalyse übersteigender Begriff von Kodikologie die Erinnerung an die verschütteten eigenen Traditionen wieder wachrief.

Seit 1976 hat sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft der Kataloge der illuminierten Handschriften in Deutschland planend und seit 1978 fördernd angenommen. Ein knappes Dutzend kunsthistorischer Spezialkataloge[6] ist seitdem zu den illuminierten Handschriftenbeständen aus karolingischer, romanischer und gotischer Zeit in Bamberg, Berlin, Fulda, Hildesheim, München und Stuttgart erschienen, darunter die beiden hier vorzustellenden Bände.

2. Ziele und Methoden der kunsthistorischen Handschriftenkatalogisierung

Die systematische Erschließung der illuminierten Handschriften in Deutschland soll das kunsthistorisch relevante Quellenmaterial in den einzelnen Handschriften verbal beschreiben und bildlich dokumentieren. In einer Vielzahl von Fällen wird damit erstmals publiziertes Material einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekanntgemacht. Diese Zielsetzung des Gesamtprojektes reicht weit über das engere Interesse der eigentlichen Erforschung der Buchmalerei hinaus. Denn stilistische Wandlungen, die beispielsweise mit allgemeinen kulturellen oder gar nur dynastischen Verschiebungen einhergehen, betreffen die gesamte Mediävistik ebenso wie inhaltlich-ikonographische Fragen der Buchmalerei. Didaktische Bildprogramme, genealogische Schemata, die Illuminationszyklen juristischer oder historischer Handschriften - um nur wenige Beispiele zu nennen - interessieren über die Kunstgeschichte hinaus auch die Universitäts- und Mentalitätsgeschichte, die Geschichte der Rechte und die der allgemeinen Politik. Die detaillierte Analyse des früher kaum beachteten dekorativen Buchschmucks, also vor allem die des nicht-figürlichen Initialschmucks, erlaubt, wie die Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, vielfach präzisere Aussagen zur Lokalisierung und Datierung von Handschriften als die Paläographie.

Dieser kunsthistorische Spezialkatalog soll wegen seiner fast ausschließlichen Ausrichtung auf den Buchschmuck der mittelalterlichen Handschriften zu den vorliegenden oder geplanten allgemeinen Textkatalogen derselben Handschriften nur ergänzend hinzutreten. Er erfordert für seine Realisierung den kunsthistorisch in Buchschmuck und Buchmalerei sowie den mediävistisch ausgewiesenen Spezialisten. Die Einheitlichkeit dieser Kataloggattung soll - wie bei den allgemeinen Handschriftenkatalogen auch - durch Bearbeitungsrichtlinien erreicht werden, die in den siebziger Jahren für die Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München erarbeitet wurden und ausdrücklich auf diese Spezialkatalogisierung zugeschnitten sind.[7]

Methodisch unterscheiden sich die Kataloge der illuminierten Handschriften von den Textkatalogen dadurch, daß "sie die Beschreibungen der einschlägigen Handschriften nicht nach der Signaturenabfolge, sondern nach der Zugehörigkeit zu regionalen oder nationalen Schulen, innerhalb der Schulen nach kunsthistorischen Epochen, innerhalb der Epochen in chronologisch aufsteigender Folge anordnen."[8] Die kodikologische Beschreibung der Handschrift und die Angaben zum Textinhalt der Bände werden sehr kurz gehalten, wenn sie nicht teilweise sogar gänzlich entfallen. Das Hauptaugenmerk dieses Katalogisierungsunternehmens liegt, wie bemerkt, auf der Beschreibung der künstlerischen Ausstattung der einzelnen Bände, die sich - grob gesprochen - in drei Hauptabschnitte untergliedern läßt: Einige summarische Bemerkungen, hierarchisch nach der Bedeutung der einzelnen Ausstattungsmerkmale gegliedert, beschreiben schlagwortartig die Schmuckelemente der Handschrift insgesamt; eine ebenfalls hierarchisch nach Gruppen gegliederte detaillierte Einzelbeschreibung des Initialtypus oder der einzelnen Initialen, der Zierrahmen, Miniaturen, Schemata, Diagramme usw. schließt sich an. Den Abschluß der kunsthistorischen Beschreibung bilden ein zusammenfassender Textabschnitt über den Stil und die kunsthistorische Einordnung der einzelnen Ausstattungselemente sowie die mit der Handschrift insgesamt sich beschäftigende Literatur. Mit der verbalen Beschreibung der Ausstattungselemente geht eine nicht bloß exemplarische, sondern eine extensive Bilddokumentation der Handschriften einher, die sowohl die figürlich-szenischen Darstellungen wie auch den ornamentalen Schmuck der Codices in aller Breite bekannt macht. Es ist diese reiche Bebilderung der Kataloge illuminierter Handschriften, die den außerordentlich hohen Gebrauchswert dieser Bände für jede weitere wissenschaftliche sowie vergleichende stil- und provenienzgeschichtliche Arbeit an mittelalterlichen Handschriften ausmacht.

Obwohl die Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Katalogisierung illuminierter Handschriften standardisierte Kataloge anstreben, ist es immer wieder reizvoll zu sehen, wie unterschiedlich die Resultate letztlich sind, wenn verschiedene wissenschaftliche Temperamente sich der gleichen Sache annehmen. Die beiden hier vorzustellenden Kataloge illuminierter Handschriften in Bamberg und Stuttgart beweisen es aufs neue.


[1]
Handschriftencensus Rheinland : Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen ; mit einem Inventar / hrsg. von Günter Gattermann. Bearb. von Heinz Finger (Projektleitung) ... - Wiesbaden : Reichert, 1993. - Bd. 1 - 2. - XVII, 1625 S. - (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ; 18). - ISBN 3-88226-597-3 : DM 280.00 (freier Pr.) [2177]. - Vgl. IFB 95-1-002. - In das Beschreibungsmodell dieser Inventarisierung sind allerdings einige Elemente der Textkatalogisierung eingegangen. (zurück)
[2]
Verzeichniss der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin / Valentin Rose. - Berlin. - (Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin ; ...) - Bd. 1. Die Meerman-Handschriften des Sir Thomas Phillipps. - 1893. - (... ; 12). - Bd. 2. Die Handschriften der kurfürstlichen Bibliothek und der kurfürstlichen Lande. - Berlin. - Abt. 1 (1901) - 3 (1905). - (... ; 13) (zurück)
[3]
La descrizione del manoscritto : storia, problemi, modelli / Armando Petrucci. - Roma, 1984. - (Aggiornamenti ; 45), S. 32. (zurück)
[4]
Bibliographische Nachweise zu den einzelnen Bänden in: Latin manuscript books before 1600 : a list of the printed catalogues and unpublished inventories of extant collections / by Paul Oskar Kristeller. - 4. rev. and enlarged ed. / by Sigrid Krämer. - München : Monumenta Germaniae Historica, 1993. - XXXVI, 941 S. ; 22 cm. - (Monumenta Germaniae Historica : Hilfsmittel ; 13). - ISBN 3-88612-113-5 : DM 98.00 [2388], S. 230 - 231. - Vgl. IFB 95-1-001. (zurück)
[5]
Vgl. dazu mit bibliographischen Nachweisen: Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek / Elisabeth Klemm. // In: Bibliotheksforum Bayern. - 9 (1981),1, S. 85 - 96, hier: S. 85 und 87 - 88. - Ferner: Die Beschreibung des Buchschmucks in Handschriftenkatalogen / Karl Dachs. // In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. - 29 (1982),1, S. 25 - 34, hier: S. 28 und 31. - Der Autor des ersten deutschen Kataloges illuminierter Handschriften beruft sich in seinem Vorwort ausdrücklich auf das Wiener Vorbild: Beschreibende Verzeichnisse der Miniaturen-Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin / Joachim Kirchner. - Leipzig. - 1. Die Phillipps-Handschriften. - 1926, S. [IX]. (zurück)
[6]
Vgl. Übersicht über die in Deutschland seit 1945 erschienenen Kataloge abendländischer Handschriften. // In: Richtlinien Handschriftenkatalogisierung / Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung. - 5., erw. Aufl. - Bonn-Bad Godesberg : Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1992, S. 63 - 94. - Vgl. IFB 93-1/2-004.
Die Register dieser Kataloge sind - bis auf die beiden hier zu besprechenden - teilweise in die Mikroficheausgabe (vgl. IFB 96-2/3-131) und vollständig in die Datenbank-Version des Gesamtindexes mittelalterlicher Handschriftenkataloge eingearbeitet, vgl.: Der "Gesamtindex mittelalterlicher Handschriftenkataloge" als online-abfragbares Auskunftssystem über DBI-LINK / Bernd Michael. // In: Bibliotheksdienst 27 (1993), S. 1700 - 1709. - Internetadresse der Datenbank:
http://www.dbilink.de (zurück)
[7]
Richtlinien Handschriftenkatalogisierung, S. 29 - 33. (zurück)
[8]
Ebd. S. 29. (zurück)

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