Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 2/3
[ Bestand in K10plus ]

Einführung in die feministische Sprachwissenschaft


96-2/3-214
Einführung in die feministische Sprachwissenschaft / von Ingrid Samel. - Berlin : Erich Schmidt, 1995. - 244 S. ; 21 cm. - ISBN 3-503-03709-8 : DM 29.80
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Es gibt in unserer Sprache zwar das Indefinitpronomen man, aber nicht frau; Berufsbezeichnungen sind nicht geschlechtsneutral (Lehrer meint gemeinhin sowohl die männliche als auch die weibliche Person, Lehrerin hingegen nur die weibliche Person): Vor allem in solchen Asymmetrien sehen feministische Sprachkritikerinnen und Linguistinnen den Nachweis einer Sprache (Sprachsystem wie Sprachgebrauch) und zugleich einer Gesellschaft, die Männer privilegiere und Frauen diskriminiere.

Die wesentlichen Anliegen der feministischen Sprachkritik und Sprachwissenschaft, die inzwischen auch von einer nicht-linguistischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sowie die Forschung zum Thema "(deutsche) Sprache und Geschlecht" trägt Ingrid Samel in ihrer Einführung vor. Kapitel 1, Entstehung und Themen der feministischen Sprachwissenschaft (S. 13 - 48), skizziert die frühe Beschäftigung zum Thema "Sprache und Geschlecht" (z.B. die Idee von den "Frauensprachen") und diskutiert Konzepte feministischer Linguistik wie genderlect (ein Terminus, der analog zu dialect und sociolect geprägt wurde) sowie Schlagwörter wie "Sexismus in der Sprache" und "sprachliche Gewalt gegen Frauen". Im Zentrum des 2. Kapitels, Sprachsystem und Sprachgebrauch in der feministischen Kritik (S. 49 - 85), stehen die feministische Sprachkritik sowie "Vorschläge für ein geschlechtergerechtes Deutsch" (S. 70 - 76). Kapitel 3, Sprachwandel unter dem Einfluß der Frauenbewegung (S. 86 - 123), will aufzeigen, inwieweit die feministische Sprachwissenschaft, die Sprachgebrauch nicht nur bewerten, sondern auch verändern will, einen Sprachwandel initiiert hat; der Schwerpunkt dieser "Erfolgsgeschichte" liegt auf den personenbezogenen Pronomen und den weiblichen Berufsbezeichnungen. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der "Gleichbehandlung in der Rechtssprache" (S. 109 - 120) zu, d. h. in der Amts- und Verwaltungssprache sowie in der Vorschriftensprache (Beispiele: Amtfrau, Schirmfrauschaft). Kapitel 4 stellt die Feministische Sprachpolitik (S. 124 - 144) vor: den Kampf gegen sexistischen Sprachgebrauch und die vielfältige Förderung von "Maßnahmen zur sprachlichen Gleichbehandlung" (S. 138 - 144), die sich vor allem auf Namen, Anredeformen, Titel, Berufs-, Amts- und Funktionsbezeichnungen beziehen und auch "Auswirkungen auf die legislative und administrative Ebene" (S. 141 - 144) haben. Spätestens hier - im Vergleich der Ausführungen zum Sprachgebrauch innerhalb der öffentlichen Verwaltung, die teils in Kapitel 3, teils in Kapitel 4 erfolgen - zeigt sich eine gewisse Beliebigkeit der Kapiteleinteilung. Kapitel 5, Feministische Gesprächsforschung (S. 145 - 162), befaßt sich mit den Anliegen, Methoden und Arbeitsweisen der Gesprächs-, Konversations- oder Diskursanalyse, deren Ergebnisse die Autorin als äußerst produktiv für die Untersuchung geschlechtsspezifischen Gesprächsverhaltens bewertet.

Der vielleicht interessanteste Teil der Studie erörtert sodann Geschlechtstypische Gesprächsstile (Kapitel 6, S. 163 - 202): Samel widmet sich hier vor allem den dominanten Formen des Gesprächsverhaltens; hierzu zählen u.a. Unterbrechungen, Unterbrechungsversuche, verzögerte oder ausbleibende Minimalreaktionen (Äußerungen der Hörerin oder des Hörers wie ja, mhm oder hmm), Anspruch auf längere Redezeit, größere Anzahl und längere Dauer der Redebeiträge, Steuerungen des Gesprächsthemas. Erfreulicherweise warnt die Autorin hier vor Generalisierungen und weist nach, daß die besprochenen Redestrategien nicht zwangsläufig (männliches) Dominanzstreben unter Beweis stellen: So kann, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Themenwechsel beispielsweise der Abwehr einer peinlichen Situation dienen. Überdies darf das Geschlecht, wie die Autorin darlegt, nie in situationsabstrahierender Komplexitätsreduktion als alleiniger Parameter der Erforschung des Gesprächsverhaltens monopolisiert werden; ebenso zu berücksichtigen sind: Gesprächstyp, Gruppenzusammensetzung, Status, Rolle und Intentionen der beteiligten Personen.

Die Studie schließt mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis (S. 203 - 215) und einem nützlichen Sachregister (S. 216 - 224), das auch auf die zahlreichen, in der Studie diskutierten Beispiele (u.a. Geliebtin, Kaufperson, MitgliederInnen, Väter und Mütter des Grundgesetzes) verweist.

Die vorliegende Studie läßt sich vielfältig lesen:

- als Einführung (so ja auch im Titel schon erkennbar) in ein produktives Gebiet der Sprachwissenschaft, das auch außerhalb der Grenzen der linguistischen Disziplin große Aufmerksamkeit findet. Ob ein solches Gebiet, das sich aus einem einzelnen Aspekt, einer einzelnen dezidiert parteilichen Position motiviert, jedoch Anspruch auf Etablierung als eigenes Fach anmelden kann (S. 9), wird sicherlich nicht nur vom Rezensenten stark bezweifelt.

- als detaillierte, geradezu positivistisch bemühte Dokumentation, als Beispiel- und Vorschlagssammlung sowie als Literaturbericht zum Thema "Sprache und Geschlecht" im Gegenwartsdeutsch (hierin liegt vielleicht der größte Wert der Studie). Angesichts der Künstlichkeit, Umständlichkeit, unökonomischen Schwerfälligkeit, Gebrauchsferne und bizarren Scholastik einiger Vorschläge, die sich überdies dem Vorwurf aussetzen, hier werde Sexus und grammatisches Genus verwechselt, wird deren Ablehnung freilich geradezu herausgefordert. Beispiele: Vorschläge zur Neutralisation: Sie ist eine gute Student, S. 73; die Feminisierung von jemand: Ist da jemand, die mir ihr Fahrrad leiht? (S. 94); die Einführung eines Knackgeräuschs (!), um Schreibweisen der Beidbenennung wie LeserIn auch in gesprochene Sprache umzusetzen (S. 79).

- ein Anstoß für einen Sprachwandel im Sinne des Feminismus, der freilich in der Anklage einer androzentrischen (männerzentrierten) Sprache und Gesellschaft und ihrer Patriarchalismen aus Sicht des Rezensenten übertreibt; vielleicht beruhen diesbezüglich abweichende Einschätzungen jedoch auf unterschiedlichen Einstellungen, die sich letztlich wissenschaftlicher Objektivität entziehen.

- ein Plädoyer zur Veränderung der Gesellschaft, die dem - aus aufklärerischen wie idealistischen Quellen gespeisten - Gedanken entspringt, "daß die gesellschaftlichen Zustände über ein verändertes Sprechen und über eine veränderte Sprache geändert werden können" (S. 131).

Der vorgebrachten erheblichen Skepsis zum Trotz, die den grundlegenden dokumentarischen Wert der Publikation nicht schmälern will, wird man die vorliegende Studie aufgrund der Präsenz, Aktualität und Brisanz des Themas zur Anschaffung für öffentliche wie wissenschaftliche Bibliotheken gleichermaßen empfehlen.

Werner Bies


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