Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
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Märchen und Märchenforschung in Europa


96-1-074
Märchen und Märchenforschung in Europa : ein Handbuch / im Auftrag der Märchen-Stiftung Walter Kahn, Braunschweig, hrsg. von Diether Röth und Walter Kahn. - Frankfurt am Main : Haag + Herchen, 1993. - 328 S. ; 22 cm. - ISBN 3-86137-057-3 : DM 39.80
[3279]

Der 1993 erschienene Sammelband trägt seinen Untertitel Handbuch zu Recht. Ausgewiesene Fachkenner geben in 21 Aufsätzen einen Überblick über Märchen und Märchenforschung ihrer Heimatländer; Skandinavien sowie Großbritannien und Irland werden jeweils gemeinsam behandelt, ebenso Jugoslawien (Stand 1991) und die Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei. Aufsätze für Polen, Belgien und die europäischen GUS-Staaten mit Ausnahme Rußlands fehlen, leider auch Lettland und Litauen, während die estnische Märchenforschung mit Pille Kippar, Tallinn zu Wort kommt.[1] - Der Band ist für den interessierten Laien und den Fachmann gleichermaßen von Interesse. Tatsächlich hat es seit 1932, als Johannes Bolte mit dem "Gefühl der Erleichterung" den fünften Band der Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm abschloß, keine derartige Zusammenschau mehr gegeben.[2] Dementsprechend wird der Anschluß der hier vorgelegten Ausführungen an Bolte/Polívka von einer Reihe osteuropäischer Autoren ausdrücklich festgestellt.[3] Die Neufassung und Fortschreibung des Themas erfolgt seit 1977 in den Länderartikeln der Enzyklopädie des Märchens, deren Alphabet jedoch noch nicht abgeschlossen ist.[4] Eine weitere, allerdings weniger bequeme Möglichkeit für den interessierten Leser, sich über den Stand der Forschung in einzelnen Ländern verläßlich zu informieren, bildeten vor Erscheinen dieses Bandes die Nachworte in den Bänden der Textreihen Märchen der Weltliteratur (MdW, Diederichs) und Märchen der Welt (Akademie-Verlag Berlin/DDR).[5]

Neben den Länderartikeln enthält der hier anzuzeigende Band nach einem kurzen Vorwort der Herausgeber Diether Röth und Walter Kahn eine knappe Einführung von Lutz Röhrich; einen die völkerverbindende Bedeutung der Märchen betonenden Aufsatz des Grimm-Forschers Ludwig Denecke (S. 14 - 19) und, wiederum von Lutz Röhrich, einen Nachruf auf den 1991 verstorbenen Nestor der europäischen Märchenforschung Max Lüthi (S. 20 - 23). Dieter Röth berichtet über die deutschsprachigen Texteditions-Reihen MdW und Das Gesicht der Völker. Man hätte sich gewünscht, daß in diesen Aufsatz die Reihe Märchen der Welt (Akademie-Verlag Berlin/DDR) und die gleichnamige Reihe des Insel-Verlages ebenfalls Aufnahme gefunden hätten (S. 68 - 72). Röhrich faßt zum Thema Märchen und Märchenforschung heute (S. 9 - 13) die Aspekte der derzeitigen Märchenforschung stichwortartig zusammen. Er nennt zunächst die traditionellen kulturhistorischen, philologisch-literaturwissenschaftlichen oder auch komparativistischen Forschungen, die auch der Gattungsabgrenzung dienen. Dazu treten solche der Gegenwartsvolkskunde, soziologische, psychologische, pädagogische, funktionalistische und strukturalistische: Wirklichkeit und kulturhistorische Hintergründe werden beleuchtet, die Art der Vermittlung von gesellschaftlichen Modellen; die Kontextforschung erfaßt den Erzähler, die Märchenbiologie den Erzählvorgang als sozialen Kommunikationsakt; schließlich ist von Monographien und Fallstudien zu einzelnen Märchen zu berichten. Die Wiederentdeckung des Märchens durch die hermeneutischen Interpretationswissenschaften führt letztlich zu einer Literaturschwemme von höchst unterschiedlichem Niveau.

Außerhalb der Reihe der Länderartikel steht ein Aufsatz von Katalin Horn, der unter dem Titel Modernes Märchenerzählen in der deutschsprachigen Schweiz (S. 238 - 240) zwar die regionale Begrenzung wahrt, mit einem Überblick über moderne Märchenerzähler aber einen Bereich der sonst hier ausgeklammerten Folkloristik erschließt.

Höhepunkt des Bandes ist der nicht nur durch seine relative Länge ausgezeichnete Aufsatz Märchen in Rußland von Isidor Levin (S. 203 - 228). Levin, 1919 geboren und Emeritus der Universitäten von St.Petersburg, Dusanbe und Jerewan, kann nach dem Tode Max Lüthis als der Doyen der europäischen Volkserzählungsforscher gelten; er legt hier auf nur 25 Seiten seine Abrechnung mit der Erzählforschung des Sowjetstaates vor und informiert den Leser gleichzeitig umfassend im Sinne des Themas. "Die Folgen linker und rechter Ideologien in der Märchenforschung und in der Märchenpflege sind wahrlich zu einer gesamteuropäischen problematischen Erscheinung geworden, die man tunlichst untersuchen sollte" (S. 214) - eine Erscheinung, deren Diskussion, wie Levin nur andeutet, auch unter deutschen Forschern noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Der schöne Satz, mit dem Levin seinen engagierten und instruktiven Aufsatz schließt, könnte ein ceterum censeo nicht nur für Märchenforscher sein: "Die individuelle Fähigkeit, Märchen als Kunst zu genießen, ist es, welche die für Menschen mögliche geistige Affinität quer durch Länder, Zeiten, Sprachen und Religionen bildet. Dieses Phänomen ist eurasisch-antik, und man sollte es jetzt und für die Zukunft in Schutz nehmen" (S. 230).

Das Schwergewicht der Darstellung liegt durchweg auf dem Zaubermärchen, eine Begrenzung, die der Titel nicht andeutet. Den Beiträgen ist durchweg hohes akademisches Niveau bei guter Verständlichkeit zu bescheinigen. Schwierig ist die Lektüre des Beitrages von Juliette Wood über Volksmärchen und Volksmärchenforschung in Großbritannien und Irland (S. 106 - 129), der ebenfalls länger als die Norm geraten ist. Es empfiehlt sich hier, die Lektüre mit dem "Schlußfolgerung" überschriebenen Teil zu beginnen (S. 127). Der Text ist ohne Vorkenntnisse nicht einfach zu verstehen, voller verwirrender Antithesen und unklarer Wiederholungen.

Unter den Länderaufsätzen ragt als besonders instruktiv der von Jurjen van der Kooi (Univ. Groningen) hervor, der den niederländischen und flämischen sowie den friesischen Sprachbereich beschreibt (S. 156 - 166). Van der Kooi zeichnet ein Bild vom Zaubermärchenbestand dieses Bereiches im 19. und 20. Jahrhundert (S. 161). Es gelingt ihm, die Popularität von Märchentypen verbindlich regional aufzuschlüsseln - und das vor dem Hintergrund, daß zeitgebundene Märchensammlungen für die Erzählhaltung der Bevölkerung insgesamt kaum je repräsentativ sein können. Er erklärt uns, "daß Märchentypen es gerade dann zu einer größeren Beliebtheit gebracht haben, wenn sie das Zauberische und das Wunder mit Tendenzen zum Schwankhaften verbinden, wenn sie besonders für Kinder geeignet sind, eher moralisch-didaktische Erzählung als Zaubermärchen sind oder/und zur Sage tendieren" (S. 163), und er stellt seine Aussagen in das Geflecht gesamteuropäischer Interdependenzen: "Aus dem Vorhergehenden erhellt, daß das Zaubermärchen in unserem Gebiet keinen monolithischen Block mit einer festen, in eigener Überlieferung eingebetteten, kaum von außen beeinflußten Tradition darstellt, sondern ein vom Typ- und Motivbestand her äußerst variables, vielen oralen und literarischen Einflüssen ausgesetztes Konglomerat" (S. 165). Ein Ergebnis, das nicht für alle Märchenregionen zu gelten scheint (oder zu dem manche Forscher erst hinfinden müssen).

Nicht alle Aufsätze lassen sich hier referieren, den Horizont auch des mit der Literatur Vertrauten erweitert jeder von ihnen, und sei es mit handfesten Illustrationen zur Klassensituation, angewandt auf das Verhältnis Erzähler - Zuhörer: "Im 19. Jahrhundert wählten sogar bestimmte Bauern offenbar ihre Knechte nach deren Erzählqualitäten aus" (Niederlande - S. 166) - "In der Mitte des 19. Jahrhunderts, sogar nachweislich früher, hielten sich manche Gutsbesitzer derart Erzähler und Fußkratzer als Schlafmittel" (Rußland - S. 208).

Manche Selbstverständlichkeit scheint dem Leser neu, wenn er sie aus unterschiedlichen Regionen unter verschiedenen Aspekten sehen kann, so das schwierige Verhältnis zwischen Volksüberlieferung und nationaler Identität. Kein Aufsatz, der diese Beziehung nicht artikuliert, und sei es historisch. Daneben steht die Regionalisierung ebenderselben Überlieferung bis hin zum Nachweis spezifischer Märchenrepertoires kleiner geographischer Räume (Portugal S. 189, Großbritannien S. 128, Mazedonien S. 154, Ungarn S. 284). Isidor Levin ist der Meinung, daß der Hörer oder Leser, der ein Märchen national empfinde, einer merkwürdigen Illusion zum Opfer falle, und daß das Nationale an einem Märchen lediglich die Sprache sei. Geachtet werden müsse von der Forschung auf die nationale Varianz eines jedenfalls internationalen Stoffes (S. 203 - 204).

Schließlich noch der Hinweis auf einige technische Fehler: Die Reihenfolge der Aufsätze entspricht nicht der der jeweils zugehörigen Anmerkungen im Anhang. Hier heißt es suchen. Im Text werden außerdem Quellen in Kurzform zitiert, die in der zugeordneten Bibliographie nicht zu identifizieren sind (z.B. entfallen auf das Kurzzitat Petzoldt 1992 auf S. 172 drei verschiedene Titel auf S. 300). Auf S. 151 fehlt die Angabe der Sprache, in der die erste Märchenveröffentlichung von Vuk Karadzic entstand. Es muß natürlich "serbisch" heißen. Und wie mag sich die renommierte kroatische Volkskundlerin Maja Boskovic-Stulli fühlen, wenn ihr in ihrem eigenen Aufsatz bescheinigt wird, ihre Sammlung "Kroatische Volksmärchen" in der Reihe MdW zähle als nichtigstes (statt wichtigstes) Buch für deutschsprachige Leser (S. 152)?!

Man mag sich auch da mit Isidor Levin trösten, der, als er Wege beschreibt, die Märchenüberlieferung bei den Völkern Europas kennenzulernen, nicht nur die methodische Zuverlässigkeit dieser Wege betrachtet, sondern auch das mögliche Vergnügen ins Auge faßt, das der Forscher bei ihrem Beschreiten empfindet (S. 215).

Willi Höfig


[1]
Die Autoren aus Bulgarien, Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und aus Ungarn, Rumänien, Rußland, den Niederlanden und Schweden stellten deutsche Manuskripte zur Verfügung; Übersetzungen erfolgten aus dem Estnischen und Finnischen, dem Italienischen, Spanischen und Portugiesischen, dem Tschechischen, Französischen und Englischen. Die Folklore Fellows können sich, wie man sieht, noch deutsch verständigen. (zurück)
[2]
Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm / neu bearb. von Johannes Bolte und Georg Polívka. - Leipzig : Dieterich, 1913 - 1932. - Bd. 1 - 5. - 2., unveränderte Aufl. - Hildesheim : Olms, 1963. - Hier einschlägig: Zur Geschichte der Märchen, Bd. 4 (1929) - 5 (1932). Seiner Erleichterung gab "Doktor Allwissend" Johannes Bolte im Vorwort zu Bd. 5 (S. III) Ausdruck. (zurück)
[3]
So von Aleksandra Popvasileva für Mazedonien, von Isidor Levin für Rußland. (zurück)
[4]
Enzyklopädie des Märchens. - Berlin [usw] : de Gruyter 1 (1977) - . - Derzeit bis zum Artikel Legende erschienen. (zurück)
[5]
Der letzte dem Rezensenten vorliegende Bd. ist die 1984 von Franz Peter Künzel hrsg. 2. Aufl. der deutschen Übersetzung der Tschechischen Volksmärchen von Jaromír Jech.- Für den Leser, der von sozialistischer Märchentheorie zu abstrahieren weiß, sind die Nachworte der DDR-Reihe denen der MdW wegen ihrer Materialfülle vorzuziehen. Einige Bände wurden einschließlich ihrer Kommentare in die MdW übernommen, so die lettischen (1977/1989) und estnischen (1980/1990) Volksmärchen. (zurück)

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