Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
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Who's who im Märchen


96-1-072
Who's who im Märchen / Ulf Diederichs. - Orig.-Ausg. - München : Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1995. - 392 S. ; 19 cm. - (dtv ; 30503). - ISBN 3-423-30503-7 : DM 16.90
[3154]

Bisher gab es im deutschsprachigen Bereich kein Märchenlexikon, das von den Märchenfiguren oder -personen ausgeht.[1] Der Autor zitiert in seiner Einführung Peter Rühmkorf, der den Wert von Märchenfiguren als Anhaltspunkt literarischer Anspielung hervorhebt in einer Gesellschaft, für die die Verbindlichkeit der Überlieferung von Literatur bis zum Verzicht auf das Zitat verblaßt ist (S. 8). Figuren aus dem Märchen aber werden erinnert; häufig ungenau, was einerseits an ihrer Flächenhaftigkeit, ihrem beinahe abstrakten Charakter liegt und andererseits an der Leichtigkeit, mit der sie sich einem fremden Kontext einfügen lassen. Sie sind höchst präsent, wie der Autor sagt: "Mögen die Inhalte der Märchen verblaßt sein oder neu aufgefüllt und dann wieder vergessen werden: Die Figuren bleiben im Gedächtnis ... längst sind sie Bestandteil eines kollektiven Bewußtseins" (S. 7). Der Autor kann sich hier an den niederländischen Erzählforscher Jurjen van der Kooi anschließen, der auf die Bedeutung erinnerter Märchenfiguren hingewiesen hat, die zu "sprichwörtlichen Symbolfiguren" geworden sind, die "nur noch in neuen Sinngefügen, z.B. pervertiert oder parodiert, verwendbar" sind.[2] Der Zeitpunkt für die Sicht auf die Volkserzählung unter diesem besonderen Aspekt ist gekommen, und Ulf Diederichs ist dafür entschieden der geeignete Autor. Er war bis zur Übernahme seines Verlags durch Hugendubel 1988 Verleger der Reihe Märchen der Weltliteratur und ist Herausgeber und Autor volkskundlicher und folkloristischer Bücher, gibt die Reihe Sagen deutscher Landschaften heraus und vermittelt seinen Lesern den Umgang mit dem I-Ging und germanischer Götterlehre.[3] Sein Lexikon hat das Ziel, "den Märchenhorizont lustvoll zu erweitern - ins Klassische wie ins Exotische, ins Dramatisch-Musikalische wie ins Poetische" (S. 13). Diese Erweiterung ist unmittelbare Folge der Popularisierung von Märchenhelden, die zu Darstellern in der Werbung und zu Anspielungsfigurinen des täglichen Umgangs nicht minder als zu den dramatis personae in Oper und Ballett oder Film geworden sind. Diederichs hebt mit seinem Lexikon zudem auf sehr konkrete Weise die Interdependenz zwischen Volkserzählung und literarischer Überlieferung ins Gedächtnis. Das Wechselverhältnis findet auf allen literarischen Ebenen statt, von Trivialliteratur und Werbespot bis hin zur Oper und zum hochkarätigen Roman. Walter Scherf hat in seinem Märchenlexikon "die beispiellose Vermarktung der Märchen durch die Massenmedien unserer Zeit" nur am Rande berücksichtigt; für ein Who's who im Märchen ist sie das zentrale Thema.

Diederichs unternimmt keineswegs den untauglichen Versuch, diese Entwicklung in extenso zu dokumentieren. Er wählt bedachtsam anhand der Literatur diejenigen Märchengestalten aus, die als aktueller Bewußtseinsinhalt gelten können: die am meisten verfilmten, am häufigsten parodierten, in Umfragen oft genannten. Das Sample umfaßt schließlich 230 Artikel: Märchenheldinnen und -helden, topische Gestalten wie Drache, Hexe, Fee - der Autor nennt sie "Märchenpersonal", aber eben auch eine nicht unerhebliche Reihe von monographischen Artikeln über einzelne Märchen, jeweils von der Heldin, vom Helden her gesehen. 110 Verweisungen von abweichenden Namens- oder Titelfassungen bieten weitere Einstiegmöglichkeiten; Binnenverweisungen innerhalb der Artikel sind häufig. Das Taschenbuch soll ohne Register auskommen und kann dies auch. Der integrierte Verweisungsapparat ist sorgfältig gearbeitet.[4]

Märchenmotive sind international verbreitet; Märchen und Märchensammlungen werden über Staats- und Sprachgrenzen hinweg tradiert, sei es als Übersetzung literarischer Werke, durch Massenmedien oder durch mündliche Überlieferung. Nichtdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Erzählforschung auf der Überlieferung in europäischen Sprachen, auch wenn die von ebendieser Forschung versammelten Textcorpora weit darüber hinausgehen. Die stete Bezugnahme auf einzelne Märchenfiguren legt die literarisch-kulturhistorische Betrachtungsweise nahe; Märchengeschichte als Stoff- und Motivgeschichte. Ausgangspunkt sind, wie gesagt, Märchenfiguren als aktueller Bewußtseinsinhalt. Ihre Herkunft und Verbreitung sind Gegenstand der Darstellung. Zuerst daher die nächstliegende Ausformung des Motivs, wenn nicht bei den Brüdern Grimm (82 Artikel) dann bei Hans Christian Andersen (18) oder in 1001 Nacht (10). Alle anderen Quellen bleiben an Häufigkeit darunter: die slawischen (Afanasjev 7), die romanischen (14), die englischen (10). Einzelne Artikel führen Märchenhelden aus Indien, Ägypten und China vor. Das betrifft die jeweils bekannteste und nächstliegende, vielleicht auch vollständigste, ursprüngliche oder am besten einleuchtende Motivvariante, das, was Walter Scherf "Leitfassung" nennt; von ihr geht die Darstellung aus. Ein gutes Drittel der Artikel beschäftigt sich mit den Protagonisten Grimmscher Märchen; aus dem Grimm-Kanon werden vier Zehntel dokumentiert, viermal soviel wie die zehn Prozent, von denen der Autor sagt, sie seien im kollektiven Bewußtsein verankert (S. 11).

Das Who's who im Märchen gründet sich auf die Auflösung literarischer Genres und ihre gegenseitige Durchdringung. Es kann daher auch ein Stichwort wie Anselmus enthalten, Protagonist des Goldenen Topfes von E.T.A. Hoffmann, der seine Geschichte in charakteristischer definitorischer Unklarheit als "Mährchen" bezeichnet hatte (1814). Der das "kindlich poetische Gemüt" feiernde Text hat keine Beziehung zum Volksmärchen, vielmehr - als eine Geschichte von Elementargeistern - zur gelehrten Überlieferung. Außer einer knappen Nacherzählung Hoffmanns kann Diederichs hier denn auch bloß auf einige Illustratoren und eine Oper verweisen (S. 28 - 29). - Die Märchenfiguren der literarischen Überlieferung haben einen hohen Anteil am Personal des Lexikons. Nicht alle stammen aus Kunstmärchen (H. C. Andersen ist mit 17 Artikeln am besten vertreten). Die Märchendichtung der Romantik ist außer durch Hoffmann mit Werken von Hauff, Chamisso, Brentano und Fouqué in das Who's who eingegangen; der problematische Eichendorff fehlt, seine Märchenfiguren gehören nicht zum überlieferten Personal.[5] Umdichtungen und Parodien von Franz Fühmann (1967) bis zu Anthologien von 1983 und 1986 wurden außerdem ausgewertet; die Wirkungsgeschichte umfaßt Hinweise auf Illustrationen und Cartoons, Dramatisierungen, Verfilmungen, die psychologische Rezeption u.a.m. Daß Verfilmungen selten angegeben werden und Hörspiele ganz fehlen, ist dem Autor nicht anzulasten; man kann die Quellenlage in diesen Bereichen nur desolat nennen. Trotz erster Anfänge bei der Aufarbeitung der Märchenverfilmungen bleibt hier noch alles zu tun.[6]

Von besonderem Interesse werden für den Benutzer nach dem Gesagten die 43 Artikel sein, die nicht von einem bestimmten literarischen Text ausgehen, sondern längsschnittartig Protagonisten eines Märchentyps in verschiedenen Varianten vorstellen. Auf dieses Fünftel der Artikel läßt sich der Titel des Werkes am besten beziehen. Leider erweisen sich gerade diese Aufsätze bei näherem Hinsehen als wenig ergiebig, z.B. die Eintragung Dummling, die von der umfangreichen Literatur praktisch keinen Gebrauch macht und die von Max Lüthi getroffene Unterscheidung zwischen Dummling und Dümmling ignoriert.[7] Wir müssen uns mit einem amüsanten Abschnitt über H. C. Andersens Klodshans begnügen. - Auch der Artikel Rübezahl beschränkt sich auf wenige Zeilen, die die literarische Überlieferung und wichtige Illustratoren angeben sowie eine Oper, ein Drama und eine Verfilmung nennen.[8] Wenn die literarische Überlieferung ins Spiel kommt, wird man, wie der Vergleich zeigt, für die erste Orientierung eher zu den Handbüchern von Elisabeth Frenzel greifen.[9] Hingegen faßt der Artikel "Hexe" deren auf das Märchen beschränkte Funktionen und Fähigkeiten bündig zusammen und zählt zur Freude des Lesers auch ihre bei den Brüdern Grimm vorkommenden Todesarten auf: "... sechsmal verbrannt ..., fünfmal aufgehängt, fünfmal in Faß oder Sack ertränkt - ein Widerschein der historisch verbürgten gnadenlosen Hexenverfolgungen -, außerdem dreimal von Tieren zerrissen, dreimal geblendet, zweimal geköpft" (S. 160).[10]

Das Lexikon erfüllt vollauf seine Aufgabe, dem interessierten Laien die Erinnerung an die Märchen seiner Kindheit wachzurufen und das für die Gegenwart konstatierte Anspielungswissen aus der Märchenwelt anhand konkreter Namen lebendig zu halten. Zur Beantwortung der Frage "Was war noch gleich mit Dornröschens Kindern?", die Diederichs zu Beginn seiner Einführung stellt, ist es hervorragend geeignet (sie kommen bei den Grimms nur in der Erstausgabe 1812 als Märchen Nr. 84 unter dem Titel Die Schwiegermutter vor und entgehen knapp dem Gefressenwerden); für weitergehende Fragen wird man zusätzliche Nachschlagewerke heranziehen müssen.

Willi Höfig


[1]
Für den englischsprachigen Bereich vgl. Abbey lubbers, banshees & boggarts : an illustrated encyclopedia of fairies / Katharine M. Briggs. - New York, NY : Pantheon Books, 1979. - 158 S. (zurück)
[2]
Das Zaubermärchen im niederländischen (einschließlich flämischen) und westfriesischen Sprachbereich / Jurjen van der Kooi. // In: Märchen und Märchenforschung in Europa / hrsg. von Diether Röth und Walter Kahn. - Frankfurt a. M. : Haag und Herchen, 1993, S. 156 - 169; hier S. 167. (zurück)
[3]
Neben Ulf Diederichs' zahlreichen landschaftsgebundenen Sagensammlungen stehen Titel wie Wo die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen : Sehenswürdiges und Sagenhaftes von der Wartburg bis zur Insel Rügen (1990) oder Das grosse Kölner Weihnachtsbuch : Festtagsbräuche, Familienleben und Wandel der Zeit (1993). Der Autor hat, nicht anders als der Verlag Diederichs, wesentlichen Anteil an der Popularisierung volkskundlicher Phänomene und grenzwissenschaftlicher Bezüge der Folkloristik. Die Reihe Märchen der Weltliteratur ein Dreivierteljahrhundert hindurch konsequent fortgeführt zu haben, ist eine verlegerische Großtat. (zurück)
[4]
Kleine Ausnahme: S. 18 Vw. auf Vogel Roc, was wiederum nur eine Vw. auf Wundervogel ist. (zurück)
[5]
Hauff: Der falsche Prinz, Kalif Storch, Das kalte Herz, Der kleine Muck, Zwerg Nase. - Hoffmann: Der goldene Topf, Nußknacker und Mäusekönig. - Chamisso: Peter Schlemihl. - Fouqué: Undine. - Brentano: Gockel, Hinkel und Gackeleia. - Es gibt kein Quellen- oder Autorenregister. (zurück)
[6]
Vgl. etwa: Adaptionen klassischer Märchen im Kinder- und Familienfernsehen / Christoph Schmitt. - Frankfurt a. M., 1993. - (Studien zur Kinder- und Jugendmedienforschung ; 12) sowie den Art. Film in der Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Sp. 1111 - 1132. (zurück)
[7]
Vgl. den Artikel Dümmling, Dummling von Max Lüthi in der Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3, Sp. 937 - 946. (zurück)
[8]
Der Artikel Rübezahl der Enzyklopädie des Märchens ist noch nicht erschienen. - Die von Diederichs angegebene Etymologie ribe (mhd) Hure und zagel (mhd) Penis ist denkbar, aber nicht herrschende Lehrmeinung. Weitere deutsche Verfilmungen entstanden 1933/34 und 1957. (zurück)
[9]
Stoffe der Weltliteratur : ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte / Elisabeth Frenzel. - 8., überarb. und erw. Aufl. - Stuttgart : Kröner, 1992. - XVI, 931 S. ; 18 cm. - (Kröners Taschenausgabe ; 300). - ISBN 3-520-30008-7 : DM 48.00 [1517]. - Vgl. dort etwa die Artikel Amor und Psyche; Blaubart; Fortunatus. - Motive der Weltliteratur : ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte / Elisabeth Frenzel. - 4., überarb. u. erg. Aufl. - Stuttgart : Kröner, 1992. - XVI, 907 S. ; 18 cm. - (Kröners Taschenausgabe ; 301). - ISBN 3-520-30104-0 : DM 42.00 [1518]. - Zu den beiden Werken von Frenzel vgl. zuletzt IFB 93-1/2-058 - 059.- (zurück)
[10]
Problematisch die Etymologie von Hexe (ahd hagazussa, nicht hagazuzza): Wohl nicht, wie der Autor meint, "Die in der Umzäunung Lebende", sondern die auf dem Zaun Reitende oder die außerhalb des Eingefriedeten Lebende; vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. ... von Hanns Bächtold-Stäubli. - Berlin [u.a.], 1927 - 1942. - Bd. 3, Sp. 1838. - Ferner: Die Hexe als Zaunreiterin / Otto Lauffer. // In: Volkskundliche Ernte, Hugo Hepding dargebracht. - Gießen, 1938. - (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie ; 60), S. 114 - 130 [Reprint: Amsterdam, 1968]. (zurück)

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