Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 3
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Einführung in das Studium der slavischen Philologie


95-3-393
Einführung in das Studium der slavischen Philologie : Geschichte, Inhalte, Methoden / Norbert Franz. - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994. - VI, 196 S. ; 22 cm. - (Die Literaturwissenschaft). - ISBN 3-534-12007-8 : DM 49.00, DM 39.00 (für Mitglieder)
[2214]

Das Fach Slawische Philologie oder Slawistik ist so vielfältig und so umfassend, daß kein Professor der Slawistik es als Ganzes beherrschen kann. Über ein Dutzend verwandte, doch unterschiedliche Sprachen und Kulturen bilden seinen Gegenstand. Zur deutschen Tradition gehören Forschung und Lehre der Gesamtslawistik, doch an den meisten Universitäten sind Literatur- und Sprachwissenschaft" getrennt. Da ist es ein schier unmögliches Unterfangen, das Fach in seiner Vielfalt richtig darzustellen. Jeder Autor, der so etwas unternimmt, muß mehr über jene Bereiche schreiben, in denen er nicht kompetent ist, denn seine Spezialisierung betrifft stets einen Teil. Es hat aber schon einige derartige Publikationen gegeben. Reinhold Trautmann legte 1947 eine Einführung in die Slawistik[1] vor, in derselben Zeit setzte sich Maximilian Braun mit dem Fach auseinander, schrieb seine Grundzüge der slawischen Sprachen[2] und analysierte Sinn und Aufgabe der Slawistik.[3] Ausführlicher ist die 1963 erschienene Abhandlung von Paul Diels Die slavischen Völker,[4] der schon 1920 ein kleineres Buch über Die Slawen[5] veröffentlicht hatte. Hans Kohn war mit seiner zweibändigen Edition aus den Jahren 1960 - 1962 Die Welt der Slawen[6] den Weg der Herausgabe gegangen und hatte für die einzelnen Völker Fachleute herangezogen. Für die praxisnahe Reihe Schöninghs Studienführer hat Wolfgang Kessler 1973 Das Studium der Slavistik und Russistik[7] behandelt. Einmalig und nur in Teilaspekten nicht mehr aktuell ist die von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde 1980 herausgegebene, jeweils von Fachleuten geschriebene Übersicht Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland,[8] da nur sie alle Wissenschaftsbereiche erfaßt. Ebenfalls keineswegs nur für Studenten bestimmt ist Walter Andreesens mit Fritz Heidtmann beantwortete Frage: Wie finde ich slawistische Literatur.[9] Da zeigt sich, daß Bibliothekare am ehesten ein gesamtslawistisches Vorhaben bewältigen können, wenn sie auch wie Lexikographen unter dem leiden, was sie nicht einbeziehen konnten. Peter Rehder hat 1986 als Sprachwissenschaftler die Herausgabe einer Einführung in die slavischen Sprachen übernommen; die Richtigkeit, für die Teilbereiche Fachleute heranzuziehen, ist durch eine 2. Aufl. von 1991[10] bestätigt.

Dieser Überblick über vergleichbare ältere Einführungen und Gesamtdarstellungen ist natürlich nicht vollständig, aber er zeigt, womit sich ein Autor eines neuen Buches auseinandersetzen muß. Norbert Franz nennt einige davon in seinen Anmerkungen, verweist auch auf Einführungen, die in der DDR und in slawischen Ländern erschienen sind, aber es fehlen wichtige Titel: Von Braun ist nur der Aufsatz, von Diels nur das Büchlein von 1920 genannt, Kohn bleibt unerwähnt. Überhaupt hätte seine Einführung gewonnen, wenn er einen solchen Überblick zusammenhängend im Text geboten hätte. Eine Bibliographie hätte in einer Einführung in das Studium in keinem Fall fehlen dürfen. Für Diels besorgte sie einer der bedeutendsten deutschen slawistischen Bibliothekare: Alexander Adamczyk. Anlaß für die neue Einführung war die Wiedervereinigung Deutschlands. Franz hat eines der ersten Bücher geschrieben, das die deutsche Slawistik, die vierzig Jahre getrennt war, wieder als Einheit betrachtet. Der Blick auf die Einheit betrifft zwar nur einzelne Teile, doch dort hätten die früheren Unterschiede stärker herausgestellt werden können - mindestens in dem von mir vertretenen Teilbereich, der russischen Literatur. Eine Charakteristik der Eigenheiten der in der DDR geschriebenen umfangreichen Literaturgeschichten mit ihren Auslassungen und Verfälschungen im Vergleich zu den in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten, z.B. J. Holthusen[11] (der nicht erwähnt wird) gegenüber der von H. Jünger[12] edierten (von dem nur ein Aufsatz genannt wird) wäre nötig gewesen, um in einer Einführung erste Orientierungshilfen zu geben. Die Geschichten der russischen Literatur, die 1993 von K. Kasper[13] und 1994 von W. Beitz,[14] zwei ehemaligen DDR-Slawisten herausgegeben wurden und die deutliche Beweise für das Umdenken der kommunistisch erzogenen Autoren darstellen, mögen Franz noch nicht bekannt gewesen sein, als er das Buch schrieb, aber es fehlen grundsätzlich Hinweise auf viele deutsche Standardwerke der Russistik.

Die Einführung beginnt mit einer Geschichte der Slawistik, die ein gutes Viertel des Bandes einnimmt und nicht auf Deutschland beschränkt ist.[15] Mit Recht betont Franz: "Das Fach münzt in wissenschaftliche Fragestellungen um, was seit der direkten Nachkriegszeit der Sowjetunion an Neugierde entgegengebracht wurde". Unter dem Begriff der "zentralen Wissensbestände der Slavistik" stellt Franz dann die Sprachen und Literaturen auf jeweils drei bis vier Seiten vor, zieht dabei zur Veranschaulichung der sprachlichen Eigenheiten das Johannes-Evangelium heran ("Im Anfang war das Wort"), also einen gut vergleichbaren, aber stilistisch nicht typischen und dazu übersetzten Text, informiert über Grundzüge der jeweiligen literarischen Entwicklung und bietet einen tabellarischen Grundkanon "Literaturwissen".

Außerhalb des Themas Slawistik steht eine längere "inhaltliche Bestimmung von 'Wissenschaft'", die Franz mit einem "Exkurs: Funktion und Dysfunktion im kulturellen System" abschließt. Bei dem gegebenen geringen Umfang der "Einführung" wäre der Raum sicher besser für Slawistisches genutzt worden. Hier wird der spezifische, auf Einordnung in Systeme und Strukturen ausgerichtete Ansatz des Autors auch für literarische Forschung deutlich. Als Beispiel wählt er indessen einen Text aus der Gummibereifung von Kraftfahrzeugen.

Die Seiten 142 - 154 dürften die meistkopierten des Buches sein, denn hier wird eine aktuelle Liste der Slawischen Institute Deutschlands mit Personalausstattung, Bibliotheksbestand, Adressen und Telephonnummern, sowie von Institutionen außerhalb der Universitäten geboten, die slawistische Forschung betreiben.

Eine Einführung wendet sich primär an Studenten, an Studienanfänger. Darauf hat Franz z.B. die Kurzbeschreibungen der einzelnen Sprachen und die Literaturlisten ausgerichtet. Ob die Institutsliste, der historische Überblick und eine Geschichte der Edition des Igorliedes solchen Nutzen bringen, ist anzuzweifeln. Am Schluß des Buches wird zur Begründung des Faches ein "Handzettel" des russischen Sprachvereins von München aus dem Jahre 1905 ausführlich zitiert. Das mag dem Historiker Vergnügen bereiten. Der Studienanfänger aber hat höchstens einen Nutzen aus den daraus gezogenen Schlüssen für die Gegenwart und aus dem Hinweis auf geringe Berufschancen.

"Überlegungen zur Reform des Studiums" gehören in einen anderen Kontext. Wenn Franz "eine auch semantisch aufgewertete Zwischenprüfung" fordert, die er dann "Baccalaureus" nennt, so wäre der Adressat mindestens die Rektorenkonferenz. Seine Vorstellung von einem zweijährigen Studium nach der Zwischenprüfung, also insgesamt acht Regelsemester ist angesichts der zu erlernenden Sprachen reine Theorie.

Die Schwächen des Buches liegen aber nicht nur in der Unklarheit, für wen es geschrieben ist und in der Ungewöhnlichkeit der Schwerpunkte, sondern - wie der Sprachwissenschaftler Werner Lehfeldt[16] in einer langen Rezension detailliert nachgewiesen hat, in der Masse der Detailfehler. Er resümiert: An "Genauigkeit fehlt es dem Buch, und deshalb kann das Gesamturteil nur negativ sein."[17] Er zählt erschreckend viele falsche Namensschreibungen, Transkriptionen und Jahresangaben auf. Ergänzende Proben im Bereich Literaturwissenschaft bestätigen ihn: Die letzten vier Titel der Lektüreempfehlungen aus der russischen Literatur enthalten z.B. vier Fehler, wobei Rakovoj korpus, statt ...kovyj und Josif Brodskij statt Iosif... kaum noch als Druckfehler zu erklären sind. Ähnliches gilt für die inhaltlichen Aussagen. Lehfeldt hat erhebliche Fehler im Sprachwissenschaftlichen nachgewiesen, und bei der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist z.B. ihre Spaltung in Inlands- und Auslandspublikationen (Emigration und Tamizdat) bis zur allmählichen Wiedervereinigung seit der Perestroika zu wichtig, als daß man sie unerwähnt lassen könnte; auch ist es eine so ungewöhnliche Besonderheit, daß zur russischen Literatur von der späteren Sowjetperiode an auch nichtrussische Schriftsteller gehören, daß dies hätte erwähnt werden müssen. Solshenizyn als "Autor der Geschichte Rußlands" (S. 92) zu bezeichnen ist ebenso falsch wie das Wörterbuchprojekt bei der Mainzer Akademie "deutsch-russisch" zu nennen (S. 42). Es ist "russisch-deutsch" und der Initiator war Herbert Bräuer.

Als Einführung in das Studium kann man das Buch nicht empfehlen. Ein Fachmann kann jedem Buch Anregungen entnehmen, wird hier aber jede Angabe überprüfen müssen. Ähnliche Unternehmungen sind heute besser nicht von einem einzelnen Autor zu bewältigen, schon für einen Herausgeber ist die Arbeit schwer genug.

Wolfgang Kasack


[1]
Die slavischen Völker und Sprachen : eine Einführung in die Slavistik / Reinhold Trautmann. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1947. - 173 S. (zurück)
[2] Grundzüge der slawischen Sprachen / Maximilian Braun. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1947. - 125 S. (zurück)
[3] Sinn und Aufgabe der Slawistik / Maximilian Braun. // In: Zeitschrift für Kultur und Erziehung. - 5 (1950),3, S. 133 - 141. (zurück)
[4]
Die slavischen Völker : mit einer Literaturübersicht / Paul Diels. - Wiesbaden : Harrassowitz, 1963. - 381 S. - (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München ; 11) (zurück)
[5]
Die Slawen / von Paul Diels. - Leipzig [u.a.] : Teubner, 1920. - 141 S. - (Aus Natur und Geisteswelt ; 740) (zurück)
[6]
Die Welt der Slawen / hrsg. von Hans Kohn. - Frankfurt/M : Fischer. - (Fischer-Bücherei ; ... : Bücher des Wissens). - 1. Die West- und Südslawen. - 1960. - 302 S. - (... ; 340). - 2. Russen, Weissrussen, Ukrainer. - 1962. - 282 S. - (... ; 454) (zurück)
[7]
Das Studium der Slavistik und Russistik / Wolfgang Kessler. - Paderborn : Schoeningh, 1973. - 197 S. - (Schoeninghs Studienführer ; 13) (zurück)
[8]
Osteuropaforschung in der Bundesrepublik Deutschland. // In: Osteuropa. - 30 (1980),8/9, S. 653 - 1064. (zurück)
[9]
Wie finde ich slawistische Literatur / Walter Andreesen und Frank Heidtmann. - Berlin : Berlin Verlag Spitz, 1986. - 316 S. - (Orientierungshilfen ; 59) (Veröffentlichungen des Instituts für Bibliothekswissenschaft und Bibliothekarausbildung der Freien Universität Berlin). - ISBN 3-87061-213-4 : DM 42.00. (zurück)
[10]
Einführung in die slavischen Sprachen / hrsg. von Peter Rehder. - 2., durchges. Aufl. - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986. - XIV, 192 S. - (Die Sprachwissenschaft). - ISBN 3-534-06150-0 : DM 42.00 (für Mitglieder) (zurück)
[11]
Russische Literatur im 20. Jahrhundert / Johannes Holthusen. - 2., unveränd. Aufl. - Tübingen : Francke, 1992. - 330 S. - (UTB für Wissenschaft ; 695). - ISBN 3-7720-1270-1 - ISBN 3-8252-0695-5 : DM 32.80. - Die 1. Aufl. ersch. 1978. (zurück)
[12]
Geschichte der russischen Sowjetliteratur / Hrsg.: Willi Beitz ... Leitung: Harri Jünger. - Berlin : Akademie-Verlag. - 1. 1917 - 1941. - 1973. - XI, 674 S. - 2. 1941 - 1967. - 1975. - IX, 608 S. (zurück)
[13]
Russische Prosa im 20. Jahrhundert : eine Literaturgeschichte in Einzelporträts ; 1914 - 1934 / Karlheinz Kasper (Hrsg.). - München : Fink, 1993. - 447 S. - ISBN 3-7705-2781-X : DM 98.00. (zurück)
[14]
Vom "Tauwetter" zur Perestroika : russische Literatur zwischen den fünfziger und neunziger Jahren / Willi Beitz (Hrsg.). - Bern : Lang, 1994. - 459 S. - ISBN 3-906750-97-3 : DM 135.00. (zurück)
[15]
Zur Geschichte der Slawistik erscheint jetzt eine laufende Bibliographie, deren erster Band 1992 vorgelegt wurde: Istorija mirovoj slavistiki : ukazatel' literatury / Mezdunarodnyj Komitet Slavistov, Mezdunarodnaja Komissija po Istorii Slavistiki. - Moskva : Institut Naucnoj Informacii po Obscestvennym Naukam. - 1982/84 (1992). - 243 S. - DM 25.00 (Kubon & Sagner) [sh]. (zurück)
[16]
Vgl. seine neueste, hier einschlägige Monographie: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten / Werner Lehfeldt. - München : Sagner, 1995. - 167 S. - (Slavistische Beiträge ; 324) (Studienhilfen ; 3) - ISBN 3-87690-606-7 : DM 30.00 [sh]. (zurück)
[17]
Zeitschrift für slavische Philologie. - 54 (1994),1, S. 163 - 170; das Zitat von S. 170. (zurück)

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