Somit bleiben nach wie vor Kapps Italienische Literaturgeschichte
sowie die deutschsprachige Version von Petronios Abhandlung als
wirkliche Alternativen. Da sich bereits mehrere Rezensionen mit beiden
auseinandergesetzt haben,[2] sollen sie an dieser Stelle nicht
ausführlich vorgestellt, sondern lediglich in einigen Punkten
miteinander verglichen werden.
Im Unterschied zu Petronios Darstellung, die aus einer einzigen
Perspektive heraus verfaßt ist, zeichnet die Kappsche sich durch
methodische Heterogenität der einzelnen Kapitel aus. Der Leser wird
somit nicht allein mit der komplexen Entwicklung der Literatur
konfrontiert, er erhält zugleich einen Einblick in die unterschiedlich
fundierten Deutungsverfahren und Zugehensweisen an Texte: von
ausgewogener philologischer Literaturbetrachtung über
intertextuell-postmoderne Lesarten und der Akzentuierung rhetorischer
Dimensionen bis hin zu sozio-semiotischen Zugängen erschließt Kapps
Literaturgeschichte dem Leser auch die praktische Vielfalt
methodologischer Optionen. Der mündige Leser ist gefragt, auch wenn
der Herausgeber unterstreicht, daß man weitgehend auf ausgeprägte
fachwissenschaftliche Begrifflichkeit verzichtet habe. Verpflichtend
für alle Autoren des Werks war eine kurze Darstellung des historischen
Hintergrunds. Angesichts der rudimentären Kenntnisse, die deutsche
Italieninteressierte und Studierende von italienischer Geschichte und
Kultur vielfach haben, ist diese Option wichtig. Die Umsetzung dieses
Postulats gelingt allerdings nicht in allen Kapiteln gleich
befriedigend - mit Blick auf Petronio sei gesagt, daß seine
Darstellung in den meisten Fällen eine überzeugendere Verknüpfung der
gesellschaftlich-historischen und der kulturell-literarischen
Entwicklung erbringt. Letzteres gilt beispielsweise nicht für das
Kapitel Settecento in der Kappschen Literaturgeschichte (H. Felten):
Aufgrund des vom Autor favorisierten "postmodernen" bzw.
intertextuellen Betrachtungsansatzes, der die Historizität von
Literatur auf die Ebene der Kommunikation zwischen Texten beschränkt,
wirken die einleitenden Ausführungen zur politischen und
gesellschaftlichen Situation Italiens im 18. Jahrhundert wie ein
Fremdkörper. Anlaß zu kritischer Diskussion, durchaus im produktiven
Sinne, bieten Feltens Ausführungen und insbesondere seine
Schwerpunktsetzungen in den Abschnitten zum Theater des Settecento. Da
Ponte, Mozarts Librettist, wird als Verfasser "postmoderner" Libretti
- die doch nicht losgelöst von der Mozartschen Kompositionskunst ihre
Bedeutung erhalten haben - hoch gewürdigt, ebenso wie Gozzi, während
Goldoni mit dem konventionellen (und in weiten Teilen der heutigen
Goldoniforschung wesentlich modifizierten) Etikett der
"Wirklichkeitstreue" gleichsam den "schwarzen Peter" in der
Darstellung zugeschoben bekommt. Die metaliterarischen Qualitäten
Gozzis erscheinen aus der Sicht postmoderner Literaturtheorie
bedeutsamer als die Goldonische Theaterreform und ihre literarische
Umsetzung - dies aber ist nur ein Aspekt!
Einen gelungenen Versuch, literaturgeschichtliche Darstellung
konsequent aus einer Zentralperspektive heraus zu schreiben, die
literarisches Handeln in struktureller Entsprechung zu
historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen versteht, stellt das
Kapitel Novecento dar, das Heinz Thoma und Hermann H. Wetzel verfaßt
haben. So wird die literarische Entwicklung des frühen 20.
Jahrhunderts - basierend auf Gramscis Entwurf einer Geschichte der
Intellektuellen - als Versuch der literarischen Intelligenz
interpretiert, die gesellschaftlichen Spannungen des
postrisorgimentalen und doch nicht geeinten Italien künstlerisch zu
verarbeiten. Gerade im Vergleich mit den entsprechenden Abschnitten in
Petronios Literaturgeschichte erweist sich die Qualität dieses
Kapitels (vgl. etwa die Abschnitte zu Gramsci oder zu Calvino).
Petronio vermag aufgrund seines Festhaltens am Postulat der
Ideenliteratur, dem Beharren auf der letztlich moralischen Aufgabe von
Literatur zu ungunsten einer ästhetischen Dimension sowie der
Überbetonung des Inhaltselements wenig Überzeugendes zur
zeitgenössischen Literatur zu sagen: Welchen Erkenntnisgewinn hat sein
Vorwurf gegenüber Pavese, dieser habe das Gefühl existenzieller
Einsamkeit nicht überwinden können? Autorpsychologie anstelle von
Texterläuterung. Ein Moravia-Zitat, das Pavese als "decadente di
provincia" etikettiert (S. 960 - in der Übersetzung abgeschwächt!),
wird vorgeschoben, was den Zitierten allerdings nicht davor schützt,
selbst als Dekadenter abgekanzelt zu werden. Die Überlegungen von
Thoma/Wetzel zum Scheitern des Neorealismus in Italien ziehen zwar
auch das dekadente Erbe ein, verkürzen das Dekadenzphänomen jedoch
nicht - wie Petronio es tut - auf autorenpsychologische Dimensionen,
sondern rekurrieren vielmehr weiter auf Ursachen, die mit dem
politischen und mentalitätengeschichtlichen Wandel in Zusammenhang
gebracht werden. Ebenso wenig instruktiv sind Petronios Ausführungen
zum Phänomen der "postmodernen" Literatur. Die deutsche Darstellung
sieht die europäisch-internationale Dimension dieser jüngsten
Literaturentwicklung deutlicher und widmet ihr mehr Raum. Dies liegt
sicherlich auch daran, daß etwa die Gruppe der sog. giovani scrittori
von der bundesrepublikanischen Forschung (und dem deutschen
Buchmarkt!) in ihrer Bedeutung recht hoch eingeschätzt worden sind.
Auch wenn man postmodernes Erzählen durchaus als eine neue Spielart
manieristischer Literatur verstehen kann, so sollte die Qualifikation
"manieristisch" nicht als Kategorie der Wertung - wie bei Petronio -,
sondern der Beschreibung eingesetzt werden. Während Petronios
Darstellung von Calvinos Biographie informativer ist als die
entsprechenden Ausführungen von Thoma/Wetzel, gelingt letzteren
wiederum die überzeugendere Analyse des Werks, indem dieses auch in
die europäische Erzählliteratur eingeordnet und in vielen Facetten
besprochen wird.
Die Gegenüberstellung der beiden Darstellungen fällt vor allem für die
Literatur des 20. Jahrhunderts deutlich zu ungunsten Petronios aus;
die Bedeutung seiner Darstellung liegt in der breiten Dokumentation,
dem erzählenden Verfahren (auch wenn deutsche Leser an mancher Stelle
mehr Nüchternheit erwarten), vor allem aber in der konsequenten
Handhabung seines methodischen Inventariums, wenngleich eben darauf
einige grundsätzliche Mängel zurückzuführen sind. Nicht nur aufgrund
des deutlichen Preisgefälles und der ansprechenden Gestaltung wird
mancher studentische Leser sich für Kapps Literaturgeschichte
entscheiden: der Informationsgehalt ist durchweg höher, der
historiographische Ansatz in seiner Pluralität ist zeitgemäßer. Ein
Platz in Lesesälen der Bibliotheken[3] gebührt beiden Darstellungen
allemal.
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