Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 2
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Magyar nagylexikon


95-2-186
Magyar nagylexikon . - Budapest : Akadémiai Kiadó. - 27 cm. - ISBN 963-05-6611-7 (Gesamtwerk). - (Kubon & Sagner, München)
[2601]
1. A - Anc. - 1993. - XXXI, 831 S. - ISBN 963-05-6612-5 : Ft. 3800.00, DM 190.00 (Kubon & Sagner)

Genau hundert Jahre nach Erscheinungsbeginn des Großen Pallas-Lexikons[1] konnte der erste Band des unter den Auspizien der Ungarischen Akademie der Wissenschaften erarbeiteten ersten modernen ungarischen Großlexikons auf den Buchmarkt gebracht werden. Der Ehrgeiz der Ungarn, an den großen ausländischen Vorbildern orientierte Eigenerarbeitungen herauszubringen, hat mithin Tradition.[2] Noch kaum vom deutschen Vorbild gelöst hatte sich das nach der 8. Aufl. der Allgemeinen deutschen Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände (Brockhaus) erarbeitete erste große Konversationslexikon Közhasznú ismeretek tára [Gemeinnütziger Wissensspeicher], 1831 - 1834 in 12˙Bänden erschienen. Um seine Qualität entbrannte ein sog. Konversationslexikonstreit, dessen Parteien die konservative Redaktion einerseits und junge, progressive Autoren andererseits waren. Auf hohem Niveau stehende Eigenerarbeitungen waren dann das noch ohne Abbildungen arbeitende Magyar Lexikon [Ungarisches Lexikon], 1879 - 1885 in 12 Bänden, dessen straff aufgebaute Artikel und Faktengrundlage den Grundstock für das Pallas-Lexikon bildeten, das seinerseits mit schwarz-weißen und farbigen Abbildungen sowie farbigen Karten und Stadtplänen europäisches Niveau auch in der Gestaltung erreicht hatte. Für seine Herausgabe war 1884 eigens die Pallas-Literatur- und Druck-AG gegründet worden. Der Quellenwert dieses Lexikons wird auch heute noch als hoch eingeschätzt. Mit den Rechten an dem Werk war dann von der Literaturgesellschaft der Gebrüder Revai (Révai Testverek Irdodalmi Társaság) von 1911 bis 1931 das ebenfalls hochbewertete Révai Nagy Lexikona [Großes Révai-Lexikon] in 21 Bänden mit doppelt sovielen Lemmata - 200.000 auf 16.000˙Seiten - wie das Pallas-Lexikon verlegt worden, was auf eine Straffung der Artikel zurückzuführen ist. Das geschah unter Heranziehung von etwa 500˙Wissenschaftlern.[3]

In dieser Tradition sieht sich das jetzt mit dem ersten Band vorliegende neue ungarische Großlexikon. Als es nach 1945 darum ging, in Übereinstimmung mit dem Wechsel des gesellschaftlichen Regimes auch die Lexikonarbeit auf neue ideologische Grundlagen zu stellen, hatte man 1954 beim Akademieverlag - Organ der Akademie - eine Lexikonredaktion gegründet, die fortan unter Einbezug einer Vielzahl von Akademiemitgliedern und -mitarbeitern eine umfangreiche Lexikonarbeit leistete, vor allem auf dem Gebiet der Fachlexika, die auch heute noch anerkannt wird. Das zwischen 1959 und 1962 herausgebrachte Uj magyar lexikon [Neues ungarisches Lexikon] in 7 Bänden mit 40.000˙Lemmata erhob den Anspruch, das erste auf marxistisch-leninistischer Grundlage zu sein, und hat schon seinerzeit wegen seiner unzulänglichen Faktenvermittlung Kritik ausgelöst. Zwar war bereits für Ende der 7Oer Jahre ein neues Großlexikon angekündigt worden, aber Querelen ("Ereiferungen, wütender Streit, Steine-in-den-Weglegen, Fehlschläge" - lt. Vorwort des Akademie-Präsidenten im jetzt begonnenen Lexikon) der unterschiedlichsten Art verschoben die Realisierung bis in Ungarns Nachwendezeit. Wie bereits zu Zeiten des oben erwähnten ersten Konversationslexikonstreits entzündete sich die Diskussion an der Frage, ob es für eine kleine Nation ausreiche, ausländische Lexika einfach zu übersetzen, ggf. zu adaptieren, oder ob eine Eigenerarbeitung vorgelegt werden müsse. Die Befürworter der nationalen Alternative konnten den Streit für sich entscheiden mit dem Argument, daß ein solches Werk ausdrücklich für das es nutzende Volk unter Berücksichtigung seiner Traditionen erstellt werden müsse, wie auch beim Pallas-Lexikon und beim Révai-Lexikon geschehen. Der Bedarf des Bildungsbürgers an zeitgemäßem Wissen war die Orientierungsgrundlage. Nach Distanzierung von der Gängelung der Akademie und ihrer Organe von einem zentralistisch geleiteten und ideologisch überwachten Staat nahm die speziell mit dem Vorantreiben eines Universallexikons beauftragte Redaktion mit einer Mannschaft von rund anderthalb tausend Autoren die völlige Neuerarbeitung in Angriff und wies es von sich, wie im Vorwort betont wird, lediglich ein Zusammenführung des Lemmabestandes der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Fachlexika vorzunehmen. Daß man diese allerdings nicht beseite ließ, läßt ein Vergleich mit dem wohl wegen seines spezifisch ungarischen Gegenstandes auch im Ausland genutzten Magyar irodalmi lexikon [Ungarisches Literaturlexikon] 1963 - 1965 in 3 Bänden erkennen, dessen Artikel in den geprüften Alphabetausschnitten vor allem für unbekanntere Autoren nahezu vollständig und fast unverändert übernommen wurden, was nur für dieses vor allem für die ältere ungarische Literatur zuverlässige Lexikon spricht. Dazu muß bemerkt werden, wie es auch die Redaktion in ihrem Vorwort - im Gegensatz zur ungenauen Aussage des Akademiepräsidenten in seiner Einführung, der es völlig als Produkt der Wende bezeichnet - getan hat, daß nämlich das Lexikonvorhaben bereits 1987 mit der Bildung eines Redaktionskomitees energisch in Angriff genommen worden war, so daß 1990 die Stichwortlisten der Fachredakteure vorlagen. Die gesellschaftlichen Veränderungen bewirkten dann eine zusätzliche Modifizierung des Redaktionskonzepts, d.h. Konzentrierung auf die Aufgabe des Lexikons als Faktenspeicher und Unparteilichkeit der Darstellung. Danach setzte nach Veränderung der Redaktionsstrukturen und Schaffung neuer technischer Voraussetzungen die Materialsammlung, Koordinierung, Redaktion, Vereinheitlichung usw. ein, so daß 1993 der erste Band des auf 150 - 160.000˙Lemmata - die Anzahl ist nicht angegeben - geplanten Lexikons vorgelegt werden konnte.[4] Es erhebt Anspruch auf eine universelle Widerspiegelung des Wissens, betont aber gleichzeitig den Verlauf der ungarischen Geschichte und die gegenwärtigen nationalen Belange. Darin dürfte auch der Hauptwert für ausländische Bibliotheken liegen. Schon im ersten Band fällt die große Zahl der geographischen Artikel, speziell auch zu kleinen ungarischen Ortschaften, darunter solchen in ehemals ungarischen Gebieten, auf.[5] Die Angabe der deutschen, rumänischen, slowakischen oder slowenischen Ortsnamen und Verweisung von diesen - jedenfalls ist das an den wenigen bisher nachprüfbaren Namen zu erkennen - untermauern diese Aussage. Eine ähnliche Fundgrube dürfte das Lexikon auch für Personennamen werden. Autorenartikel haben einen bibliographischen Anhang (unter F.M. = Hauptwerke). Bei Künstlern sind teilweise die Standorte ihrer Werke angegeben (dort Anhänge vielfach mit T.M. = weitere Werke). Auch größere Artikel haben vielfach Literaturanhänge mit Grundlagenliteratur. Das Lexikon ist zweispaltig gesetzt. Graphische Darstellungen, Tabellen, Schwarz-Weiß- und Mehrfarbenabbildungen sind in den Text je nach Bedarf integriert. Nur farbige Karten nehmen ganze Seiten ein. Das im Mehrfarben-Offset-Druck hergestellte Lexikon erfüllt die an ein modernes Großlexikon zu stellenden Kriterien. Ob die Einstellung in eine deutsche wissenschaftliche Allgemeinbibliothek erforderlich ist, muß aufgrund der Sprachbarriere vom Benutzerpotential her entschieden werden, kann aber empfohlen werden.

Erika Tröger


[1]
Pallas nagy lexikona / föszerk. Bokor József. - Budapest : Pallas Irodalmi Társaság, 1893 - 1897. - Köt. 1 - 16,2. (zurück)
[2]
Vgl. Die Entwicklung der ungarischen Lexikographie unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Lexikographie / Sándor Zsilinszky. // In: Lexika gestern und heute / hrsg. von Hans-Joachim Diesner und Günter Gurst. - Leipzig : Bibliographisches Institut, 1976. - S. 319 - 335. (zurück)
[3]
Das am Ende des ersten Bandes plazierte Vorwort (Prospektus) zu diesem Lexikon stellte den Abschluß des Lexikons in 5 bis 6˙Jahren in Aussicht. Der konnte aber erst nach 20˙Jahren erreicht werden. Eingedenk der dazwischen liegenden historischen Ereignisse ist das kein Wunder, eher eines, daß es dennoch unter Beibehaltung der hohen Qualität auch in der Ausstattung zu Ende geführt werden konnte. (zurück)
[4]
Wie es weiter geht, konnte auf der Leipziger Buchmesse 1995 nicht, wie vorgehabt, erkundet werden, da die Ungarn aus Kostengründen nicht erschienen waren. Wenn das Lexikon zügig voranschreiten will, müßten wohl jedes Jahr einige Bände erscheinen. Oder hatte man nur aus Anlaß des Pallas-Jubiläums das Erscheinen des ersten Bandes forciert? (zurück)
[5]
Vergleicht man die mit dem Präfix Alsó- (Unter-, Nieder-) beginnenden Geographika im vorliegenden Lexikon mit dem Révai-Lexikon, so sind diese fast identisch. Fast alle Ortschaften liegen heute außerhalb Ungarns. Daß die Artikel hier 68 Spalten, dort nur etwa die Hälfte einnehmen, liegt an den wesentlich erweiterten Angaben zur Geschichte und territorialen Zugehörigkeit einschließlich der Angabe sämtlicher Namensformen der Ortschaften. (zurück)

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