Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
[ Bestand in K10plus ]

Handbuch der Klavierliteratur


95-1-111
Handbuch der Klavierliteratur : Klaviermusik zu zwei Händen / Klaus Wolters. - 4., vollst. rev. und erw. Aufl. - Zürich ; Mainz : Atlantis-Musikbuch-Verlag, 1994. - 699 S. ; 22 cm. - ISBN 3-254-00188-5 : DM 98.00
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"Das vorliegende Buch wurde aus einem praktischen Bedürfnis des Klavierunterrichts heraus geschrieben", die "pädagogische Wertung" stand bei der Auswahl des Verzeichneten und der Werkbeschreibung "im Vordergrund" (Vorwort zur 1. Aufl.). Dies unterscheidet Wolters Handbuch grundlegend von den Klaviermusikführern, die sich an den Konzertbesucher wenden. Diese beschreiben die Musik wirkungsanalytisch und meist apologetisch, vom Hörer her gedacht, Wolters dagegen zensiert: "Zwei weitere a-Moll-Fugen ... erwecken keinerlei Interesse" (J. S. Bach, S. 207), "die öden Sequenzierungen des Grundmotivs A-B-E-G-G wirken etwas peinlich" (R. Schumann, S. 345), "keines der Stücke kann den Anspruch einer abgerundeten Komposition erheben" (Beethoven, S. 299), "hausbacken" (Händel, S. 215), "was soll das?" (Kurtag, S. 641). Es ließen sich natürlich ebenso viele, ja noch weit mehr positive und nicht selten schwärmerische Urteile zitieren. Der Schüler, vermittelt durch den Lehrer, soll im Unterricht lernen, was pädagogisch wertvoll ist und was nicht. Dies ist natürlich anfechtbar. Die Entscheidung darüber, was letzlich Gnade vor Wolters Urteil findet, gründet nie in formalen Kriterien, beispielsweise dem technischen Anspruch: dieser entscheidet einzig über die Zuordnung zu einem bestimmten Schwierigkeitsgrad. Es ist eher so, daß der Autor wortreich den Bildungskanon zementiert. Die anerkannten Werke der großen Meister sind durchweg gut und vorbildlich, die Bagatellen und Petitessen der Klavierliteratur dagegen haben höchsten Studienwert. Wolters Urteile überraschen nie. So scheut er sich nicht, von "Kleinmeistern" zu reden (S. 408), unter die er z. B. Fanny Hensel-Mendelssohn, Clara Schumann und Joachim Raff subsumiert. Gerade das Beispiel Raff zeigt Wolters Bemühen, nur ja nicht gegen den commen sense zu verstoßen: "Hätte er nicht so viel geschrieben ..., man müßte seinen besten Sachen noch heute Achtung entgegenbringen". Daß ihm deshalb auch die Jazzliteratur Probleme bereitet, wen wundert's. Große Namen (z. B. Dave Brubeck) fehlen, dagegen tauchen Klassiker der E-Musik auf, die sich in den 20er Jahren mehr oder weniger originell durch den Jazz inspirieren ließen (Strawinsky, Hindemith). Soweit zur Wertung von "Stil und Rang" der zitierten Literatur.

Doch Wolters leistet weit mehr, und im Hinblick auf die europäischen Klavierliteratur, Einzigartiges. Jedes Werk wird nach seinem Schwierigkeitsgrad qualifiziert, nach einer vorweg gut begründeten und nachvollziehbaren Stufengliederung. Der Autor wertet ebenso vergleichend die Ausgaben der verscheidenen Verlage und spart auch hier keineswegs mit kritischem Urteil. Die Kapiteleinteilung des Buches wechselt von zunächst formal begründeten Abschnitten (Klavierschulen, Technische Studienwerke, Anthologien) zur Einteilung nach Epochen, von den "Meistern der Renaissance und Barockzeit" bis zur "Musik unserer Zeit". Ein Personenverzeichnis beschließt das Werk. Wolters Handbuch ist nach wie vor ein Standardwerk, freilich nicht ohne internationale Konkurrenz. Daß der Autor vorrangig Produktionen deutschsprachiger Verlage berücksichtigt, ist angesichts der unermeßlichen Fülle und des Anspruchs des Autors, Wertungen nur nach Autopsie vorzunehmen, verständlich. Ergänzend bietet sich deshalb für die zeitgenössische Klavierliteratur vor allem amerikanischer Provenienz Hinsons Guide to the pianist's repertoire[1] an. Dieser folgt einer ähnlichen Konzeption wie Wolters Handbuch (kurze Beschreibung des Werkes, Einschätzung des Schwierigkeitsgrades nach einem Stufensystem). Ob freilich ein Appendix mit "Historical Recital Programs" und diverse Indeces "of Composers under Nationality Designations", "Black Composers" und "Women Composers" wirklich erfoderlich und aufschlußreich sind, mag der Leser selbst entscheiden.

Reiner Nägele


[1]
Guide to the pianist's repertoire / Maurice Hinson. - 2., rev. and enl. ed. - Bloomington, Ind. [u.a.] : Indiana Univeristy Press, 1987. - XXXIII, 856 S. - Brubeck ist bei Hinson selbstverständlich zu finden. (zurück)

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