Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
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Die Leseliste


95-1-064
Die Leseliste : kommentierte Empfehlungen / zsgest. von Sabine Griese, Hubert Kerscher, Albert Meier, Claudia Stockinger. - Stuttgart : Reclam, 1994. - 199 S. ; 15 cm. - (Universal-Bibliothek ; 8900). - ISBN 3-15-008900-X : DM 8.00
[2344]
95-1-065
Was sollen Germanisten lesen? : ein Vorschlag / von Wulf Segebrecht. - Berlin : Erich Schmidt, 1994. - 76 S. ; 20 cm. - ISBN 3-503-03061-1 : DM 12.80
[2355]

Im Lehrbetrieb amerikanischer Universitäten haben Leselisten für Studenten der Literatur ihren festen Platz. Dort wird allerdings auch kontrolliert, ob sie durchgearbeitet sind - mit so einfachen Fragen, wie etwa der, wer denn in welchem Drama in welcher Szene den Aigisth erschlägt. Da solche Überprüfung obligatorischer Minimalkenntnisse bei uns auch in der xten Hochschulreform nicht zur Debatte stehen, obwohl allenthalben offen oder hinter vorgehaltener Hand der Rückgang der Lektürekenntnisse beklagt wird, können Leselisten nur empfehlenden Charakter haben.

"Es ist müßig, über Auswahlen zu streiten ... Jeder Versuch einer Auswahl aus schwer übersehbarer Fülle kommt der Quadratur des Kreises gleich und bleibt daher unbefriedigend. So ist auch hier vieles gar nicht erwähnt, was ein Forscher oder ein Liebhaber vielleicht für besonders beachtenswert hält ... Es galt, an die zeitlich begrenzten Möglichkeiten des Studiums zu denken. Den suchenden Studenten zu planmäßiger und konzentrierter Lektüre anzuhalten, ist der Sinn der Liste" - so leitete Karl Otto Conrady die seiner Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft[1] beigegebene Leseliste ein - mit ihren 20 Seiten immer noch der zweitbeste Ratschlag, den der akademische Lehrer den Studenten der neueren deutschen Literaturgeschichte geben kann, wenn man ihnen den besten schon vorenthält: täglich Primärtexte zu lesen, soviel wie möglich, extensiv neben den Lehrveranstaltungen, intensiv für dieselben, und Sekundärliteratur als das zu nehmen, was sie ist: lediglich sekundär gegenüber den Quellen. Eigentlich eine schöne und leistbare Arbeit, die auch Vergnügen machen sollte: In drei Tagen trug ein Rhapsode die "Ilias" vor, warum sollte ein Student sie nicht in drei Tagen in einer Übersetzung lesen können?

Nun kommen fast gleichzeitig zwei neue Listen auf den Tisch und fachen die verwirrende Kanon-Debatte neu an. Nur Segebrecht bekennt sich aber zu der möglichen kanonisierenden Nebenwirkung seiner Liste, während die des Reclam-Verlags sich von einem solchen Anspruch ausdrücklich distanziert. Leselisten können für Studium oder sonstiges literarisches Interesse immer nur das Notwendigste, nie Hinreichendes bieten.

Den Kommentierten Empfehlungen des Reclam-Verlags liegt die Auffassung zugrunde, aus den etwa 600 verzeichneten Autoren und Werken lasse sich "ein zuverlässiger, fachwissenschaftlich verantwortbarer Einstieg in den Entwicklungsgang namentlich der deutschen Literatur" finden und die "reale Dynamik der Literaturgeschichte ... erfahrbar" machen. In der Tat enthält die Liste keinen Titel, von dem man nicht sagen würde: "Nimm und lies!" Das gilt freilich für den literarischen Teil des gesamten Programms der Universal-Bibliothek, so daß ein Student lieber gleich zu Reclams Titel-Verzeichnis selbst als zu dieser Leseliste greifen sollte. Was die Liste zum Ärgernis macht, sind die Kommentierungen. In drei bis sieben Zeilen läßt sich zu Ilias oder Odyssee, zum Grünen Heinrich oder zum Mann ohne Eigenschaften - abgesehen von Entstehungs- oder Erstdruckdaten - nichts Gescheites sagen![2]

Solcher Kommentierungen enthält sich Segebrecht in seinem "Vorschlag" Was sollen Germanisten lesen?[3] mit guten Gründen. Dafür sind in den Text zahlreiche Abbildungen eingestreut: mal eine Handschriftenprobe, mal ein Titelblatt, mal eine zeitgenössische Illustration, mal ein Autorenporträt. Auch er teilt Entstehungsdaten mit, verweist außerdem auf zahlreiche Anthologien, zu denen er auch die bibliographischen Angaben bietet, während er für die Einzelausgaben der Werke sinnvollerweise nur den Blick in die Taschenbuchverzeichnisse von Reclam, Insel usw. empfiehlt. Segebrecht will mit seiner Liste zum Lesen "verführen", besonders zum Lesen "unter dem Gesichtspunkt des Zusammengehörens ... Dabei lassen sich Reihenbildungen der verschiedensten Art denken: nach Themen und Stoffen, Gattungen und Formen, nach Epochen und Generationen ..."

Dieser Anspruch wird allerdings für die fremdsprachige Literatur nicht eingelöst, wenn S. 34 f. in der Form einer Anzeige "Wir protestieren ... Ohne uns geht es nicht!" einige Autoren der Weltliteratur mit allermeist nur einem Werk daherkommen und wenn es gar am Schluß der Anzeige heißt: "Sie werden lachen: Die Bibel." Da läse man lieber etwas Genaueres, daß es z. B. unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte für den Germanisten wichtiger ist, Genesis, Exodus, Hiob, Psalter, das Hohelied, Jesaja, die Evangelien, die Paulusbriefe und die Apokalypse gründlich zu kennen als Deuteronomium, die kleinen Propheten oder die Johannes-Briefe. Wo schon Theologie-Studenten der Wegweisung bedürfen, brauchen die Studenten der Literatur sie erst recht. Auswahl hin, Auswahl her - hier fehlt unverzeihlich viel, z. B.: Sappho, Pindar und Menander, Catull, Apuleius und Augustinus, Goldoni, Leopardi und Svevo, Villon, La Rochefoucauld und Hugo, Tirso de Molina, Borges und Paz, Turgenjew, Tschechow und Mandelstam, Chaucer, Albee und O'Neill, Tausendundeine Nacht und der Cid. Von Horaz werden nur die Poetik, nicht die Carmina, von Aristophanes nur die Vögel, nicht die Lysistrate genannt. Zur Weltliteratur bietet die Reclam-Liste ungleich mehr als der mißglückte Scherz dieser Annonce.

Über aller Kritik sei jedoch das Erfreuliche an den Listen nicht vergessen. Sie setzen ein Zeichen, daß nach Jahrzehnten eines weithin zur Iliteralität verkommenen Deutschunterrichts und eines entsprechend depravierten Studiums das Bewußtsein dafür zurückkehrt, daß ernsthafte Beschäftigung mit Literatur im Kern bedeutet, sich der anstrengend-vergnüglichen Lektüre von Höhenkammliteratur zu widmen, statt seine Zeit für eine (oft nur vermeintlich) kritische Analyse von Trivialliteratur o. ä. zu verwenden. Vielleicht hätten die Autoren der Listen gleich auch noch aussprechen sollen, daß tägliche Lektüre so unabdingbare Grundlage für das Literaturstudiums ist wie das Üben für das Violinspiel und daß es sich mit beidem insofern gleich verhält, als es Zeit kostet und einem von keinem Dritten abgenommen werden kann. Lesen lassen kann der Manager, nicht der Literaturstudent.

Wer sich anregen lassen will, greife getrost zu den gedruckten Leselisten! Die beiden neuen Listen schließen - im Gegensatz zu Conrady - auch das Mittelalter ein. Da die Listen zugleich über sich hinaus weisen, können sie auch nicht als Gängelei mißverstanden werden. Zugleich beschränken sie sich auf einen faßlichen Rahmen - im Gegensatz etwa zu der Zweitvermarktung des Neuen Kindler unter dem Titel Hauptwerke der deutschen Literatur.[4] Dort wird hochgestapelt, wenn es von 19.000 Einzelbeiträgen heißt, ihre Auswahl orientiere sich "an den Bedürfnissen von Schule und Universität". Da taucht am Horizont schon die aus Examina bekannte Elendsgestalt auf, die Lektüre von Werken durch die von Kindler-Artikeln ersetzt hat. Bringt es doch auch das fleißigste Leseleben auf wenig mehr als 8.000 wirklich gelesene Bücher.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft / Karl Otto Conrady. Mit Beitr. von ... - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1966. - 245 S. - (Rowohlts deutsche Enzyklopädie ; 252/253). (zurück)
[2]
Vgl. auch: Steppe : Reclam, der nackte Kanon / Gustav Seibt. // In: Frankfurter Allgemeine. - 1994-07-22, S. 23. (zurück)
[3]
Im Angebot desselben Verlags gibt es Leselisten auch für andere Fächer: Was sollen Philosophen lesen? / von Annemarie Pieper ; Urs Thurnherr. - Berlin : Erich Schmidt, 1994. - 192 S. - ISBN 3-503-03079-4 : DM 19.80. (zurück)
[4]
Hauptwerke der deutschen Literatur : Einzeldarstellungen und Interpretationen / ausgewählt und zsgest. von Rudolf Radler. - München : Kindler. - 25 cm. [2431]. - Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Romantik. - 1994. - 563 S. - ISBN 3-463-40261-0 : DM 39.80. - Bd. 2. Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. - 1994. - 772 S. - ISBN 3-463-4062-9 : DM 39.80. - Vgl. IFB 94-3/4-457. (zurück)

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