Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
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Germanistik


95-1-062
Germanistik : eine Einführung / Christa Dürscheid ; Hartmut Kircher ; Bernhard Sowinski. - Köln [u.a.] : Böhlau, 1994. - 362 S. ; 21 cm. - (Böhlau Studienbücher : Grundlagen des Studiums). - ISBN 3-412-09093-X : DM 39.80
[2624]

Der Band führt in die drei Teildisziplinen ein, in die sich Institute wie Studium der Germanistik heute üblicherweise gliedern: Germanistische Linguistik (C. Dürscheid), Ältere deutsche Sprache und Literatur (B. Sowinski) und Neuere deutsche Literaturwissenschaft (H. Kircher).

Die Anlage ist ungleich. Die Abschnitte zur Germanistischen Linguistik und zur Älteren deutschen Sprache und Literatur verwenden z. B. Anmerkungen nur sparsam oder gar nicht. Die zugehörige Literatur wird in jeweils auf die einzelnen Abschnitte bezogenen Bibliographien am Ende des Bandes zusammengefaßt und beschränkt sich auf grundlegende Werke. Der Abschnitt zur neueren deutschen Literatur bringt es auf über 300 Anmerkungen mit Nachweisen zum Text, und die zugehörige Bibliographie am Schluß des Bandes rekapituliert ebendiese Titel in alphabetischer Folge. Grundlegende Titel - wie z. B. Autorenlexika oder Fachbibliographien - finden sich dagegen nur in den fortlaufenden Text eingestreut.

Ärgerlich ist, daß die Bibliographien am Schluß des Bandes verschiedenen Prinzipien folgen: diejenige zur Linguistik folgt angelsächsischem Modus (Name - Jahr - Titel), die anderen gliedern in der Folge Name - Titel - Jahr, dafür wird aber in der Bibliographie zur neueren Literaturgeschichte die Auflagenbezeichnung ganz an den Schluß hinter das Impressum gerückt. Wie soll ein Studienanfänger bei solcher Mixtur in einer Einführung das Bibliographieren lernen?

Inhaltlich erstrecken sich die Einführungen zur Linguistik sowie zur Älteren deutschen Sprache und Literatur auf die jeweiligen Hauptgebiete (also auf Phonetik/Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik im Kapitel Linguistik, das allerdings der Sprachphilosophie keine Aufmerksamkeit schenkt; auf die historischen Sprachstufen Germanisch, Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutsch in der Sprachgeschichte und auf die Perioden der älteren deutschen Literatur). Im Abschnitt zur neueren Literaturwissenschaft steht dagegen der Methoden- und Theorienpluralismus so im Vordergrund, daß man für den Anfänger einige Verwirrung befürchten muß. Besonders ausführlich wird die Analyse von Erzähltexten erörtert, aber ausgerechnet zu dieser Thematik fehlt in der Literaturliste E. Lämmerts "klassisches" Buch Bauformen des Erzählens[1] und die Generalattacke darauf durch J. H. Petersens Erzählsysteme.[2] Auch K. Hamburgers Logik der Dichtung[3] fehlt, obgleich sich Erzählforschung an dem Buch noch immer kräftig stößt.

Zur neueren Literaturgeschichte selbst wird nur wenig Information geboten; die drei (!) Literaturhinweise S. 2506[4] können doch nicht ernsthaft als hinreichendes Angebot zur neueren Literaturgeschichte genommen werden!

Die große Diskrepanz zwischen den Teilen des Buches schlägt auch bei den Literaturhinweisen durch: Für das Mittelalter werden die einzelnen Bände der großen, von de Boor und Newald begründeten Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart sowie die einschlägigen Darstellungen von Wehrli, Kartschoke/Bumke/Cramer und Haubrichs/Vollmann-Profe/Heinzle genannt, auch die Altdeutsche Metrik von W. Hoffmann. Nichts Entsprechendes dagegen für die neuere Literaturgeschichte, nichts zu den Grundlagen von Metrik und Stilistik; auch die Rhetorik kommt lediglich knapp im Rahmen der mittelalterlichen Literatur zur Sprache.

An Nachlässigkeiten fällt u. a. auf: S. 237 W. Koch als Begründer des Kosch; Bd. 15 des von W. Killy hrsg. Literatur-Lexikons enthalte Register und Nachträge - Register ja, Nachträge nein. Einfach falsch dargestellt wird die Tragödiendefinition des Aristoteles mit der Furcht- und Mitleid-Frage (S. 282). Hier ist die altphilologische Forschung der letzten 30 Jahre nicht rezipiert worden, die - u. a. aufgrund peripatetischer Interpretamente zur aristotelischen Poetik - zu klaren Ergebnissen gelangt ist. "Schauder und Jammer" ist die einzig richtige Übersetzung, die falsche Übersetzung "Furcht und Mitleid" durch Lessing hat freilich als produktives Mißverständnis spezifische Folgen, die aber eine Sache für sich sind. Kircher stützt sich hier - dies die Ursache des Fehlers - ausweislich des Literaturverzeichnisses auf die alte Poetik-Übersetzung O. Gigons (in der Reclam-Ausgabe), die der Verlag längst durch die neue von M. Fuhrmann ersetzt hat, in deren Nachwort auch die Ergebnisse zu der in Rede stehenden Frage ausgebreitet sind.

Zum Mittelalter-Kapitel bleiben nur kleinere Wünsche offen: So sollte das grundlegende Phänomen der Typologie erklärt werden. Das Auslegungsprinzip des mehrfachen Schriftsinns wird nur einmal en passant erwähnt (S. 202); dabei kann dem Anfänger nicht deutlich werden, was es mit litteraler, allegorischer, moralischer und eschatologischer Auslegung auf sich hat.[5] Vielleicht sollte der Abschnitt Mittelalter-Rezeption (S. 225 - 227) wenigstens um einen Hinweis auf R. Wagner ergänzt werden.

Das Kapitel zur neueren Literatur bedarf größerer Überarbeitungen, ehe man es vorbehaltlos etwa neben der bewährten Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft[6] empfehlen kann. Eine Überarbeitung sollte auch die Beziehungen der Literatur zu Musik und Bildender Kunst erörtern.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Bauformen des Erzählens / Eberhard Lämmert. - 8., unveränderte Aufl., 58. - 60. Tsd. - Stuttgart : Metzler 1993. - 299 S. - (Metzler-Studienausgabe). - ISBN 3-476-00097-4 : DM 29.80. (zurück)
[2]
Erzählsysteme : eine Poetik epischer Texte / Jürgen H. Petersen. - Stuttgart : Metzler, 1993. - 191 S. - (Metzler-Studienausgabe). - ISBN 3-476-00896-7 : DM 39.80. (zurück)
[3]
Die Logik der Dichtung / Käte Hamburger. - 4. Aufl. - Stuttgart : Klett-Cotta, 1994. - 273 S. - ISBN 3-608-91681-4. (zurück)
[4]
Darunter die bei dtv erschienenen Daten deutscher Dichtung (Frenzel/Frenzel) und Reclams Die deutsche Literatur : ein Abriß in Text und Darstellung. (zurück)
[5]
Derartiges wird für den Anfänger vorzüglich ausgebreitet in Einführung in die germanistische Mediävistik / Hilkert Weddige. - 2., durchges. Aufl. - München : Beck 1992. - 364 S. : Ill. - (C.-H.-Beck-Studium). - ISBN 3-406-36749-6 : DM 39.80. (zurück)
[6]
Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft : ein Arbeitsbuch / von Dieter Gutzen ; Norbert Oellers ; Jürgen H. Petersen. - 6., neugefaßte Aufl. - Berlin : E. Schmidt, 1989. - 388 S. - ISBN 3-503-02287-2 : DM 43.80. (zurück)

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