Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
[ Bestand in K10plus ]

Eigenart und Eigensinn


95-1-004
Eigenart und Eigensinn : alternative Kulturszenen in der DDR (1980 - 1990) ; mit einem Bestandskatalog / bearb. und kommentiert von Frank Eckart. Forschungsstelle Osteuropa (Hg.). - Bremen : Edition Temmen, 1993. - 272 S. ; 25 cm. - ISBN 3-86108-307-8 : DM 39.90
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"Im Grunde hängt das ja nicht mit Produktion zusammen, sondern mit dem Produktivmachen menschlicher Verhältnisse oder eines Denkens." (Sascha Anderson). - Wohl kaum ein anderes Phänomen der DDR-Kultur der 80er Jahre ist in den vergangenen fünf Jahren so häufig beschrieben und in Ausstellungen präsentiert worden, wie die in "untergründiger Öffentlichkeit" entstandenen und vertriebenen Künstlerbücher und originalgraphischen Zeitschriften. Ihre gemeinsamen Merkmale waren: enge Zusammenarbeit von jungen, nicht oder nur zeitweilig am offiziellen Kulturbetrieb teilnehmenden oder von ihm ausgeschlossenen Künstlern und Autoren, "in Handarbeit" hergestellte Bücher und Zeitschriften, die Verwendung ungewöhnlicher Materialien, die eigenwillige, sich zwischen Experiment und Nonsense bewegende Ästhetik. Das häufigste Reproduktionsverfahren waren Schreibmaschinendurchschläge und virtuos verwendeter Siebdruck. Die Auflage bewegte sich meistens unter Hundert, erst ab dieser Anzahl war eine Druckgenehmigung erforderlich. Das Spektrum der Zeitschriften reichte von künstlerischen über essayistische bis hin zu eher politisch orientierten. In all diesen als "nonkonform", "inoffiziell", "alternativ", "privat" oder "eigenständig" bezeichneten "Samisdat"-Publikationen wurde ein erfindungsreicher Individualismus demonstriert, der durchaus als Politikum zu verstehen ist.

Mitte der 80er Jahre begann die Sächsische Landesbibliothek Dresden mit dem systematischen Sammeln dieser Zeugnisse einer "zweiten Kultur", das Buch- und Schriftmuseum in Leipzig folgte, ebenso einige westdeutsche Institutionen. Hier waren es manchmal Schriftsteller wie Adolf Endler oder Volker Braun, welche für die Unternehmungen warben und Kontakte herstellten. Über umständliche Korrespondenzen und ebensolche Zahlungswege gelangten die Zeitschriften und Bücher in den Westen. Das bibliographisch nicht immer pflegeleichte Sammelgebiet ist recht eigentlich schmal: seit dem Ausgang der 70er Jahre sind etwa 300 Künstlerbücher und mehr als 30 Zeitschriften erschienen, begehrte und kostspielige Sammelobjekte besonders nach der Wende. Nur wenige Zeitschriften wie Entwerter/Oder und Herzattacke erscheinen weiterhin in gewohnt ungewöhnlicher Form. - Grundlegende und erste Verzeichnisse waren der 1990 von Egmont Hesse und Christoph Tannert herausgegebene Katalog Zellinnendruck zur gleichnamigen Ausstellung in der Leipziger Galerie Eigen+Art[1] sowie der im folgenden angezeigte, 1991 erschienene Katalog von Henkel und Russ.

Die Sammeltätigkeit der Forschungsstelle für Unabhängige Literatur und Gesellschaftliche Bewegungen Osteuropas an der Universität Bremen war seit langem bekannt; mit dem vorliegenden Katalog erlaubt diese jedoch zum ersten Mal einen Blick in ihre Bestände. Wurde im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/N. in der Absicht einer literarischen Dokumentation gesammelt, so hat man in Bremen zwischen 1981 und 1993 auch das Umfeld berücksichtigt. Der Titel des Bestandskatalogs, Eigenart und Eigensinn, nimmt den programmatisch zu verstehenden Namen der Leipziger Galerie Eigen+Art auf, deren Initiator, Gerd Harry ("Judy") Lybke, 1983 in einer Privatwohnung begann, künstlerischen Aktionen, Ausstellungen und Lesungen Raum zu geben. Der Band umfaßt einen Textteil (Kap. I, II) und den eigentlichen Bestandskatalog (Kap. III, IV), umfangreiche Register (Kap. V) erschließen die Nachweise auf vielfältige Weise (Institutionen, Themen, Personen). In Kapitel I gibt der im Vorwort als Insider vorgestellte Bearbeiter Franz Eckart einen Überblick über die Kulturentwicklung der DDR in ihrer letzten Dekade. Neben viel Bekanntem[2] erfährt man auch Neues. So sind beispielsweise Eckarts Ausführungen über die Bedeutung, d.h. politischen Implikationen der Siebdrucktechnik für die "Untergrundliteratur" spannend zu lesen, desgleichen seine "soziologisch-psychologischen" Deutungen der alternativen Bewegung. Sein Epilog Bekenntnisse : zum deutsch-deutschen Bilderstreit" führt zwar vom Thema weg, aber zu neuen Perspektiven hin: ausgehend von der westdeutschen Debatte über die Bewertung der DDR-Kunst konstatiert er für die 80er Jahre überraschende Parallelen in der Organisation und den Inhalten der Kunst in Ost und West.

Antonia Grunenberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle, widmet sich in Kap. II den sog. inoffiziellen Zeitschriften, deren Geschichte, Charakteristika und redaktionellen Profilen, den lokalen Szenen. In einer langen, durch Kursivierung abgesetzten Vorbemerkung berichtet sie über Anfänge und Umstände ihrer Sammeltätigkeit. Dieser persönlich gehaltene Erfahrungsbericht, ihre Einschätzung und Bewertung des Phänomens, sind der eigentliche Gewinn des Kapitels. Der Bestandskatalog umfaßt sieben Teile: unter A die Künstlerbücher, Kunstmappen und Typoskriptsammlungen, B die originalgraphischen Zeitschriften im Eigenverlag (knapp 60% der geschätzten 238 erschienenen Hefte seien im Bestand der Forschungsstelle), C die Plakate, D Ausstellungsmaterialien wie Einladungen und Kataloge, E Dokumente der Mail-Art, F Kunstblätter, unter G die Materialien aus dem kirchlichen Umfeld, Publikationen der Bürgerbewegung der DDR und politische Literatur im Eigenverlag bis 1989; alle Nachweise orientieren sich in der Aufnahme an RAK-WB für Kunstbibliotheken, sind jeweils durchnumeriert und tragen im Anhang die Inventarnummer der Forschungsstelle. Obwohl Teil A und B sich in gewissen Punkten mit der Bibliographie von Henkel/Russ ergänzen, ist es doch immer wieder verwirrend, wie sehr beide Verzeichnisse in der Beschreibung der Ausstattung identischer Exemplare voneinander abweichen. Liegt es an mangelnder Standardisierung, an uneinheitlicher Terminologie oder an einem unterschiedlichen Grad von Vertrautheit mit der handwerklichen Materie?

Die Teile C und D (mit jeweils erstaunlichem Umfang) geben einen guten Überblick über Plakatkunst und Ausstellungsbetrieb der DDR. Jedoch ist den bibliographischen Angaben nicht anzusehen, was die Materialien zu Dokumenten einer "alternativen Kulturszene" macht. Wenn die Plakate wegen der überwiegend angewandten Technik des Siebdrucks ausgewählt wurden (vgl. I.2.1 Über die Plakatsammlung), dann verschwimmen eigentlich die inhaltlichen Aufnahmekriterien.[3] Teil E zeigt mit 167 Nummern eindrücklich die Mail-Art-Sammlung der Forschungsstelle, ein "Archiv persönlicher und intimer Zeichen", die der Kommunikation zwischen Künstlern und Galeristen diente, und als ein Tor zur Welt in der DDR einen besonderen Stellenwert hatte. Diese Materialien hätten eine ausführlichere Würdigung verdient. Zur Vertiefung sei die detaillierte Chronik der DDR Mail Art 1975 - 1990[4] und der Band Mail-Art-Szene DDR 1975 - 1990[5] empfohlen.

Die Zeitschriften und Materialien des letzten Teils G sind in Form einer analytischen Bibliographie verzeichnet. Man habe sich dazu entschlossen wegen der begrenzten Lebensdauer dieser Publikationen (bei der Herstellung und Vervielfältigung wurden vielfach papierzerstörende Substanzen verwendet), der geringen Auflagenhöhe und wegen der noch ausstehenden detaillierten Forschungen. Die meisten Publikationen sind zwischen 1987 und 1989 entstanden, inoffiziell, billig hergestellt und in Auflagen von 200 - 400 Exemplaren unter der Hand vertrieben. Sie stellen die aufregendsten Zeitdokumente dieses Katalogs dar. Verdienst gebührt dem Bearbeiter für die vielen, notwendigen Kommentare zu den einzelnen Beiträgen. Entsprechend lang und detailliert ist das vor allem aus diesen Einträgen erzeugte Themen-Register geworden. Kritik verdient das Personen-Register, nicht aus philologischer Pedanterie, sondern weil ein solches Register das A und O einer Bibliographie ist. Da ist kein einziger Akzent gesetzt, da werden Umlaute mal aufgelöst, mal nicht, da gibt es insgesamt zu viele Flüchtigkeitsfehler. Schlimmer noch: Die Pseudonyme sind nicht aufgelöst, Namen daher nicht zusammengeführt, unterschiedliche Namensformen sind nicht verwiesen, obwohl zuhauf in den bibliographischen Einträgen zu finden.

Der schön gestaltete Band bietet einen wunderbaren Fundus für die Forschung, ist aber von einer gewissen inhaltlichen Unausgewogenheit. Man hätte sich gewünscht, mehr über jene Sammlungen zu erfahren, die nur als Satelliten um die schon an anderer Stelle vielbeschriebenen Künstlerbücher und originalgraphischen Zeitschriften gruppiert werden. Und noch etwas: Einer Forschungsstelle hätte es nicht schlecht angestanden, parallel zu ihren Beständen Literaturverzeichnisse anzulegen und zu veröffentlichen.

Jutta Bendt


[1]
Zellinnendruck / [Hrsg.: Egmont Hesse und Christoph Tannert. Präsentiert in der Galerie EIGEN+ART, Leipzig, 2.3. - 25.3.1990 und im Literarischen Colloquium Berlin, Juni 1990]. - Leipzig, 1990. - 77 S.
Es handelt sich um die erste Dokumentation über originalgraphische Zeitschriften, Graphik-Lyrik-Editionen und Künstlerbücher; enthalten sind auch eine Reihe aufschlußreicher programmatischer Texte, Statements von Herausgebern von Zeitschriften und Auszüge aus Editorials. Bis zum Erscheinen von Henkel/Russ boten die Titelnachweise wertvolle Informationen auf einem für Sammler noch nicht abgesteckten claim. (zurück)
[2]
Hingewiesen sei auf die Literaturangaben in den beiden folgenden Ausstellungskatalogen:
non kon form : Künstlerbücher, Text-Grafik-Mappen und autonome Zeitschriften der DDR 1979 - 1989 aus der Sammlung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Galerie der Stadt Esslingen Villa Merkel. Stadtgalerie im Sophienhof Kiel. [Ausstellung und Katalog / Renate Damsch-Wiehager ...] - Kiel, 1992. - 88 S. - ISBN 3-927979-24-4.
Zwischen den Seiten : Kunstlerbücher [sic] und Buchobjekte. [Die Ausstellung ... findet vom 25. April bis 7. Juni 1992 in den Brandenburgischen Kunstsammlungen statt / Konzeption und wissenschaftliche Bearbeitung: Jörg Sperling]. - Cottbus : Brandenburgische Kunstsammlungen, 1992. - 72 S. - ISBN 3-928696-33-5.
Ferner sind folgende Themennummern der zur Wochenzeitung Das Parlament erscheinenden Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte zu erwähnen, nämlich 1991,B41/42; 1992,B20; 1994,B10. (zurück)
[3]
Ging es nur um die Demonstration der Bestandsfülle, oder was ist das "Inoffizielle" am Plakat C 014: Bahnbrecher der Moderne in Österreich : zwölf Künstler zwischen 1898 und 1938. Ausstellung in der Nationalgalerie, Berlin vom 25.06. bis 10.08.1986? (zurück)
[4]
DDR Mail Art 1975 - 1990. // In: Entwerter/Oder. - Nr. 46 (1992), [ohne Pag.]. (zurück)
[5]
Mail-Art-Szene DDR : 1975 - 1990 / hrsg. von Friedrich Winnes und Lutz Wohlrab. - Berlin : Haude & Spener, 1994. - 121 S. - ISBN 3-7759-0390-9. (zurück)

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