Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

The Cambridge encyclopedia of Japan


94-3/4-552
The Cambridge encyclopedia of Japan / editors: Richard Bowring ; Peter Kornicki. - Cambridge [u.a.] : Cambridge University Press, 1993. - 400 S. ; 29 cm. - ISBN 0-521-40352-9 : œ 29.95
[1759]

In einer Zeit, in der die Britischen Inseln und der europäische Kontinent mit Hilfe japanischer Technologie vertunnelt werden, sollte man meinen, daß die Zusammenstellung eines europäischen Nachschlagewerks über Japan keiner besonderen Begründung mehr bedarf. Doch die beiden Herausgeber der Cambridge Encyclopedia of Japan, Richard Bowring und Peter Kornicki (beide Japanologen), sehen dies anders. Für sie ist Japan noch immer eine den Europäern "gänzlich fremde" Kultur, mit der man sich in Europa allerdings heute erstmals "aus einer Position der Schwäche" auseinandersetzen muß. Folglich gehen sie nicht etwa von der Aufgabe aus, Informationen über Japan möglichst unkompliziert und direkt an die Leser zu bringen, sondern sie stellen die Gretchenfrage nach den in Japan gepflegten universalistischen Werten: "What has Japan given to the world?" Das heißt: Die Beschäftigung mit Japan rechtfertigt sich nicht einfach dadurch, daß Japan eben in der Welt ist, sondern in der Sicht der Herausgeber durch das, was es der Welt gegeben hat.

Was Japan der Welt zu geben vermochte, wird jedoch keineswegs direkt einsehbar und systematisch in Lexikonformat dargeboten, sondern in einer lockeren Abfolge von deskriptiven Einführungsartikeln über dieses und jenes, die in acht Sachgruppen zusammengesammelt werden: Geographie, Geschichte, Sprache und Literatur, Denken und Religion, Kunst und Handwerk, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft. Die weitere Untergliederung folgt entweder der Chronologie oder nicht weiter spezifizierten sachlichen Gesichtspunkten. Dabei findet sich pikanterweise die unabhängige Justiz - gleich nach der Beschreibung des Beamtenwesens - in der Sachgruppe Politik, getrennt von der Beschreibung des Rechtswesens, das unter Gesellschaft figuriert. Hingegen wird die Bevölkerung nicht unter Gesellschaft dargestellt, sondern bei der Geographie erdgebunden untergebracht. Schlagwörter oder sonstige lexikographische Ordnungsmittel werden nicht verwendet; Informationen zu bestimmten Wörtern und Sachen müssen über das knappe Register gesucht werden, das alphabetische und (auf nachgeordneter Ebene) systematische Ordnungsmerkmale miteinander vermischt. Dieser Aufbau des Handbuchs folgt also einem idiosynkratischen Enzyklopädie-Begriff, der gleichwohl von Cambridge University Press für Sachgebiete (z.B. Archäologie oder Biologie) bereits verwendet wurde, jedoch im vorliegenden Fall nicht immer zur Erhellung von Sachverhalten führt.

Wie stellt man Japan "aus einer Position der Schwäche" dar? Ganz einfach: Man hebt seine Mängel und Widrigkeiten hervor. Das Land erscheint geplagt von regelmäßigem Wassermangel (zutreffend, zumal im Jahr 1994), anderen Unbilden der Natur (z.B. Erdbeben, für die allerdings keine geologische Erklärung geboten wird, oder todbringende Vulkanausbrüche) sowie rücksichtsloser Ausbeutung der spärlichen Resourcen (z.B. wird die bange Frage gestellt, wie lange die subtropischen Sandstrände von Okinawa noch "sauber" bleiben werden). Man beschreibt, als sei dies ein Spezifikum, Japan als Land am Scheideweg, gekennzeichnet durch "Ungleichgewichtung der Regionen, überalterte Bevölkerung, Arbeitsmangel, Änderung des Konsumverhaltens" (S. 111); bei alledem bleibt, so wird suggeriert, offen, wie es weitergehen soll; aber die Zukunft verheißt nichts Gutes. Man suggeriert schließlich Armut: In den Haushalten wird noch auf so etwas Vorsintflutlichem wie Gasbrennern gekocht (Backöfen sagt man, gibt es nicht), und das Wasser wird "noch" mit Durchlauferhitzern gesiedet (die Omnipräsenz elektrischer Wasserkocher, die das Wasser nicht nur kochen, sondern auch heiß halten, wird unterschlagen); Japaner nächtigen auf Reisen in numerierten "Kapseln" anstatt in ordentlichen Gästezimmern (die Unterscheidung von [traditionellen] ryokan und [westlichen] Hotels bleibt unerwähnt; über Reisen im Land erfährt man nichts); die medizinische Versorgung reicht kaum über die urbanen Zentren hinaus (die beträchtlichen Anstrengungen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in den ländlichen Gegenden während der letzten zwanzig Jahre werden übergangen); die Japaner haben wenig gesetzlichen Urlaub und nehmen das ihnen Zustehende nicht einmal wahr (ein Klischee, das sich seit Jahrzehnten hartnäckig hält, aber allein schon durch die stetig zunehmende Auslandsreisetätigkeit ausgehebelt wird).

Angesichts solcher Klagen und des zuweilen aufdringlichen Spotts über Mängel und Widrigkeiten bleibt für nüchterne Fakten wenig Raum. So fehlen Informationen über Grundtatsachen; z.B. sucht man vergebens Listen über Namen, Größe und Bevölkerungszahl der (heute 47) Präfekturen [ken] (ganz zu schweigen von Informationen über die historische Anbindung dieser Präfekturen an die früheren Länder [kuni]) und größeren Städte; es gibt keine Zusammenstellung der Reihe der Tenn“namen mit Herrschaftsdaten, keine Übersicht über die Jahresdevisen [neng“], die zum Verständnis mancher Benennungen und Begriffe Voraussetzung ist; in der Liste der Ministerpräsidenten fehlen Angaben zur Parteizugehörigkeit; es gibt keine Zusammenstellung der bedeutenderen Unternehmen, Hochschulen oder Kultureinrichtungen und keine produktspezifische Außenhandelsstatistik. Außerdem werden enthaltene Fakten mitunter an schwer auffindbaren Stellen präsentiert; wer z.B. nach dem Gründungsjahr der Universität Ky“to sucht (1897), findet die Angabe (ohne Verweisung aus dem Register) in einer Kurzbeschreibung der Geschichte der Universität T“ky“ (S. 82); wer wissen will, wie viele Hochschulen es in Japan gibt, erhält eine ungefähre Information (ca. 1.080), allerdings verpackt in die Klage, daß trotz der bezifferten Zahl 25% der Bewerber keinen Hochschulstudienplatz bekommen; wer wissen will, wo Japaner im 16. und frühen 17. Jahrhundert in Thailand Handel trieben, findet den Ort auf einer Handelsroutenkarte eingezeichnet (S. 69), aber ohne Nennung des Namens Ayutthaya; wer etwas über die Geschichte der Feuerwaffen in Japan erfahren will, wird über die Schlacht bei Nagahino (1575) belehrt, nicht aber über den Umstand, daß nur wenig mehr als zwanzig Jahre nach der Schlacht die Feuerwaffen aus den Kriegswaffenarsenalen verschwanden (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts); wer schließlich etwas über die Hintergründe des Recruit Skandals von 1988 ermitteln will, geht - trotz fünf Verweisen im Register - leer aus; völlig hilflos bleibt, wer Angaben zu Ausgaben von Primärquellen (z.B. literarischer Werke) haben will; der Text enthält solche Angaben nicht, und das im Anhang beigefügte Literaturverzeichnis enthält keine Angaben zu weiteren Nachschlagewerken.

Andere Fakten werden so vereinseitigt, daß ihr Bezug zur Realität schwer verständlich erscheint. So z.B. wird die sog. Eintrittsprüfungshölle (S. 248) am Beispiel einer Prüfungsfrage zur Weltgeschichte in der Meiji-Universität (T“ky“) erläutert. Da wird ein Prüfungstext zum Golfkrieg in Übersetzung präsentiert, wobei den Prüflingen aufgegeben wurde, durch Nummern gekennzeichnete Lacunen im Text mit den danebenstehenden Wörtern zu füllen. Diese Aufgabe kann nur lösen, wer über Detailkenntnisse der Politik im Nahen Osten verfügt, und eben dieser Umstand wird als Beleg für die Behauptung herangezogen, im japanischen Erziehungswesen herrsche stumpfsinniges Einpauken von Faktenkenntnissen vor. Nun mag es sein, daß dies für die Meiji-Universität zutrifft. Aber, um ein Gegenbeispiel zu nennen, ein derartiger Prüfungstext ist an der Universität Tsukuba in den vergangenen fünf Jahren im Prüfungsfach Weltgeschichte nie gestellt worden, sondern stets und ausschließlich offene Fragen, die mit diskursiven, von den Prüflingen selbst zu verfassenden Texten zu beantworten waren. Da die jährlichen Eintrittsprüfungsfragen für alle Fächer veröffentlicht werden, wäre es für die Herausgeber ein Leichtes gewesen, die Repräsentativität ihres Beispiels zu prüfen.

Eine andere Art der Vereinseitigung von Fakten liegt in dem Grundsatz, nach Möglichkeit eine Auswahl mit bezug auf britische Leser zu treffen. So besteht nach Ansicht der Herausgeber der wichtigste Fehler des japanischen Gesundheitswesens darin, daß es vom staatlich observierten britischen System (NHS) abweicht (wobei man einen Vergleich der baulichen Substanz britischer und japanischer Hospitäler diskret vermeidet); über die Niederländische Ostindische Kompagnie (VOC) erfährt man nichts, obwohl diese Handelsgesellschaft immerhin zwischen spätestens 1641 und 1854 das japanische Handelsmonopol für Südostasien und Europa besaß; dafür wird man über die English East India Company, die nur einen Handelsstützpunkt in Hirado hatte, sogar mit einem Auszug aus dem Tagebuch des Oberhaupts Richard Cocks unterrichtet (freilich ohne Quellenangabe). Dagegen läßt man ausnahmsweise - und notgedrungen - bei der Erwähnung der herbstlichen Laubfärbung Neuengland als Maßstab gelten.

So schwelgt das Buch in Farben - kaum eine Seite ist nicht irgendwie koloriert. Die zahlreichen Abbildungen sind durchweg von hoher technischer Qualität - das verdient hervorgehoben zu werden angesichts des Preises von œ 29.95, der nur wenig über dem Preis eines anspruchsvolleren Taschenbuchs liegt. Gleichwohl entspricht der Preis für dieses Bilderbuch der Dürftigkeit seines Texts, der gehobenen Journalismus bietet, aber keinen Zugang zu wissenschaftlich fundiertem Wissen eröffnet und so seiner von den Herausgebern zugewiesenen Aufgabe als "erste Anlaufstelle" kaum gerecht werden dürfte. Also ist das Werk für den Nachschlagebestand entbehrlich und für den sonstigen Bestand nur dann von Nutzen, wenn man eine künftige Quelle für das Japanbild in Cambridge vorrätig halten will.

Das Techtelmechtel der Cambridge University Press mit der Leichtfüssigkeit des gehobenen Journalismus ist freilich nur wenig verständlich, nicht nur aus prinzipiellen Überlegungen, sondern speziell, da derselbe Verlag ein Standardwerk zur japanischen Geschichte vorgelegt hat, das wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die seit 1978 in Arbeit befindliche, auf sechs Bände angelegte, aber noch nicht vollständige Cambridge history of Japan[1]. Alle Bände sind nach den bei der Cambridge University Press üblichen, beispielsweise bei der New Cambridge modern history oder der Cambridge history of India erprobten Gestaltungsgrundsätzen in fachlich spezifische Einzelartikel untergliedert, die die politische, Wirtschafts-, Sozial- und Ideologiegeschichte (für die ältere Zeit außerdem die Kultur- und Religionsgeschichte) behandeln. Jeder Band wird durch eine zusammenfassende Bibliographie der zitierten Werke (in japanischer Sprache sowie nicht-japanischen Sprachen, unter Verwendung von chinesischen Schriftzeichen für japanische Titel) ergänzt und durch ein Indexglossar erschlossen.


[1]
Bisher sind die folgenden Bände erschienen: Vol. 3. Medieval Japan / ed. by Kozo Yamamura. - 1990. - XVIII, 712 S. - Vol. 4. Early modern Japan / ed by John Whitney Hall and James L. McClain. - 1991. - XXVIII, 831 S. - Vol. 5. The nineteenth century / ed. by Marius B. Jansen. - 1989. - XII, 828 S. - Vol. 6. The twentieth century / ed. by Peter Duus. - 1992. - XVIII, 866 S. (zurück)

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