Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 2
[ Bestand in K10plus ]

"In der Ferne gegenwärtig"


94-2-282
"In der Ferne gegenwärtig" : Katalog der Goethe-Bibliothek Dorn / bearb. und hrsg. von Richard W. Dorn und Michael Drucker. - Wiesbaden : Harrassowitz. - 25 cm. - (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen ; ...)
[1929]
[Grundwerk]. - 1986. - XIX, 414 S. - (... ; 23). - ISBN 3-447-02614-6 : DM 128.00
Ergänzungsband. - 1993. - X, 137 S. - (... ; 33). - ISBN 3-447-03264-2 : DM 98.00

Eine solch glückliche kulturpolitische Situation, den Katalog einer Goethe-Sammlung ins Gespräch zu bringen, gibt es selten: Als Bundeskanzler Helmut Kohl am 10. November 1993 im Bonner Kanzleramt die Präsentation der für das künftige Goethe-Museum Rom bestimmten Exponate eröffnete, wurden auch Highlights der Goethe-Bibliothek Dorn, die in diesem Museum ihren Platz finden wird, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie werden auch in dem eigens für diese anschließend im Landesmuseum Mainz gezeigte Ausstellung erarbeiteten Katalog[1] verzeichnet und teilweise abgebildet. Der Sammler, der Wiesbadener Verleger Richard W. Dorn, hat diese Sternstunde nicht mehr erlebt, doch vor seinem Tod im Dezember 1992 noch den Verkauf seiner Sammlung an die Bundesrepublik Deutschland bekräftigt und damit die Gewißheit ihrer künftigen Stellung in Rom vor Augen gehabt. Ein Katalog, der zugleich ein Arbeitsinstrument des ersten von Deutschland im Ausland betriebenen, ausdrücklich auf öffentliche Wirkung und zugleich wissenschaftliche Nutzung gerichteten Goethe-Museums sein wird, verdient doppelte Aufmerksamkeit. Eine private Büchersammlung wird stets von den individuellen Neigungen und persönlichen Möglichkeiten des Sammlers geprägt sein. Mit den beiden "klassischen" deutschen Goethesammlungen von Salomon Hirzel (19. Jahrhundert) und Anton Kippenberg (1. Hälfte des 20. Jahrhunderts) und deren Katalogen zu wetteifern war weder beabsichtigt noch möglich, wie R. W. Dorn in seinem Geleitwort zum Hauptband betont. So ist bei aller erstaunlichen Opulenz der Bibliothek Dorn - die beiden Katalogbände weisen insgesamt 4088 Titel bis zum Erscheinungstermin Sommer 1992 nach - die kluge Beschränkung auf zwei Schwerpunkte bald erkennbar: Erstausgaben und bibliophile Ausgaben. Dorn hat, allerdings mit jahrzehntelanger Beharrlichkeit, die Ansicht widerlegt, daß Kostbarkeiten auf diesem Gebiet nicht mehr erreichbar wären. Von den Editiones principes der Goetheschen Werke fehlt nahezu nichts. Der Bogen spannt sich bei den Teil- und Werkausgaben von den ersten unrechtmäßigen Sammlungen der Himburgs, Schmieders usw. über die erste autorisierte achtbändige Ausgabe bei Göschen bis zur Ausgabe letzter Hand bei Cotta (Nr. 1 - 14). Von den Einzelwerken seien nur die drei hervorgehoben, mit denen Goethe im zeitgenössischen Publikum Erfolg hatte: Der legendäre, durch Merck in Darmstadt veranlaßte Erstdruck des Götz von Berlichingen (Nr. 226), die "ächten" Erstausgaben des Werther und die sofort einsetzenden Raubdrucke (Nr. 270 - 275), das von verlagsgeschichtlichen Legenden umwobene Taschenbuch für 1798 mit dem Erstdruck von Hermann und Dorothea (Nr. 236). So könnte man lange fortfahren. Ein Rarissimum erster Güte ist beispielsweise auch die von Goethe und Merck edierte Ossian-Ausgabe 1773 - 1777 (Nr. 773) usw. So spiegelt der Katalog den Aufstieg der deutschen Literatur zur Klassik und zur Weltliteratur. Auch die unmittelbaren Wirkungen und kontroversen Literaturdebatten werden u. a. mit den Anti-Wertheriaden und -Xenien (Nr. 3047 - 3059 bzw. 3713) lebendig, ebenso wesentliche Fixpunkte des Weimarer Keises um Goethe wie Eckermanns Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe 1824 (Nr. 2622), das Entréebillett in Goethes Haus für den späteren Autor des am meisten verbreiteten Buches über Goethe, der Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, die natürlich mit allen Erstausgaben (1836 -1848, Nr. 1090-1093) und zahlreichen Neudrucken vertreten sind. So wird der zweibändige Katalog zu einem eindrucksvollen Spiegel der Druck- und Textgeschichte sowie der zeitgenössischen Wirkung. Auch die Verzeichnung der illustrierten, numerierten und signierten Ausgaben und Pressendrucke formiert sich zu einer erlesenen Galerie deutscher und internationaler Bibliophilie mit kostbaren älteren und jüngeren Stücken einschließlich seltener Übersetzungen. Der Glanzpunkt dabei ist die Abteilung der Faust-Ausgaben, in der die Reihe von den frühen illustrierten Prachtausgaben Cottas (z. B. Seibertz 1854, Nr. 467) bis zum illustren Illustrationswerk S. Dalís (1970, Nr. 3989) u. a. reicht.

Der Katalog einer Sammlung beruht als Bestandsverzeichnis auf lückenloser Autopsie der Quellen. Wie wurde diese Chance im vorliegenden Fall genutzt? Für die bibliographische Standardbeschreibung solid, aber nicht voll befriedigend. So fehlen die Bandtitel und die entsprechenden Seitenzahlen bei mehrbändigen Ausgaben. Bei den Erstausgaben wurde leider bis auf wenige Ausnahmen auf tiefergehende textgeschichtliche Annotationen verzichtet, obwohl mit den Veröffentlichungen von Waltraud Hagen und ihren Mitarbeitern zur Druckgeschichte der Goetheschen Werke (Katalog Nr. 1251, 1252, 3258 und 4065) die Standardwerke hierfür zur Verfügung stehen. Die buchkünstlerischen Daten werden allerdings in knapper Form mitgeteilt. Letztere werden in den bibliophilen Ausgaben und Pressendrucken zu ausführlichen Annotationen, ja sachkundigen Kommentaren, teilweise mit Hinweisen auf weiterführende Sekundärliteratur, ausgeweitet; dies stellt die wichtigste Leistung des Katalogs überhaupt dar. Wie ist es gelungen, die Qualität im einzelnen durch eine adäquate Systematik zu einem Gesamtbild zu formen? Erscheint die generelle Einteilung der Primärliteratur in 8 Hauptgruppen (Werkausgaben, Teilausgaben, Einzelausgaben, naturwissenschaftliche Schriften, zeichnerisches Werk, Tagebücher, Briefe und Briefwechsel sowie Gespräche) durchaus angemessen und übersichtlich, so wirft die - von den Katalogbearbeitern selbst im Vorwort als problematisch zugestandene - Aufsplitterung der Hauptgruppe "Einzelausgaben" in der Tat Fragen auf. Die Zweiteilung in "zeitgenössische Ausgaben und spätere Gebrauchsausgaben" und "illustrierte, numerierte und signierte Ausgaben sowie Pressendrucke" ist nicht nur terminologisch unscharf, sondern zerstört auch die besondere Chance, eine vom Material her mögliche eindrucksvolle chronologische druckgeschichtliche und buchkünstlerische Suite zu präsentieren, wie sie an anderer Stelle, z. B. bei den Werkausgaben oder für das zeichnerische Werk, sichtbar ist. Der Verlust an Übersicht wird auch durch den Registerapparat nicht kompensiert, da die Goetheschen Werktitel in ihn nicht mit aufgenommen wurden. Auch die Aufsplitterung der Gruppe "Teilausgaben" in vier Untergruppen ist nicht sinnvoll. Einen gewissen Ausgleich bietet lediglich das gut durchdachte System von Gruppen- und Einzelverweisungen, wenn es auch in einer Reihe von Fällen noch hätte ausgebaut werden können (z.B. bei Nr. 1125 durch Verweisung auf 1175, nach Nr. 2092 auf 46 und 868, nach Nr. 2527 auf 65). Trotz der Breite und Vielfalt der verzeichneten Primärliteratur überwiegt in dem zweibändigen Katalog mit ca. 60 % doch der Anteil der Sekundärliteratur, also der Veröffentlichungen über Goethes Leben, Werk und deren Wirkung. Vergleicht man dies mit den entsprechenden Relationen bei einer vollständigen personalbibliographischen Erfassung, so ist gerade im Falle Goethes daraus zu schlußfolgern, daß selbst mit 60 % die Sekundärliteratur nicht die erforderliche Dichte des Materials erreicht. Dem Sammler, der in erster Linie "systematisch an den Erwerb von Erstausgaben sowie von bibliophilen Drucken" gegangen war (Geleitwort, S. XII), ist dies allerdings nicht anzukreiden. Wissenschaftliche Literatur über Goethe wurde von ihm vor allem im Sinne einer "Arbeitsbibliothek" für die Einordnung und Bewertung der gesammelten Zimelien erworben. Auch der gedruckte Katalog hat nicht das "primäre Ziel", "einen Beitrag zur Goethe-Bibliographie zu leisten" (Vorwort im Hauptbd., S. XIV). Dennoch wäre es falsch gewesen, auf die Verzeichnung der Sekundärliteratur zu verzichten. Allerdings darf man die sui generis gegebenen Grenzen des vorliegenden Katalogs nicht vergessen. Spezifischen Recherchen zur Forschungsliteratur hält er nur bedingt stand, zumal er Einzelbeiträge aus Periodica eher zufällig nur in Form von Sonderdrucken enthält und leider die vorhandenen Sammelbände nicht im einzelnen erschließt. (Dies alles hat übrigens auch Konsequenzen für die bibliothekarische Ausstattung des künftigen Goethe-Museums in Rom, das also auf diesem Gebiet einen ergänzenden, zusätzlichen Bestandsaufbau benötigt.) Positiv fällt ins Gewicht, daß die Forschungsliteratur in einigen Gruppen (z. B. zur Druck- und Verlagsgeschichte und zur Wirkungsgeschichte) eine beachtliche Dichte aufweist. Andererseits fehlen in den betreffenden Gruppen wichtige Darstellungen wie die von G. Sichardt zum Weimarer Liebhabertheater (Weimar 1957) oder von H. Bräuning-Oktavio über die Herausgaber und Mitarbeiter am berühmten Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen (Tübingen 1966), um nur zwei Standardwerke zu nennen. Auch eine Reihe neuerer Reprints zu in der Sammlung vorhandenen Werken vermißt man (z. B. zu Nr. 2621, 2614, 2617, 2565 und 3279); sie wären für den ständigen Gebrauch nützlich, um die Originale zu schonen.

Nicht gut beraten waren die Bearbeiter, als sie das Material in den Gruppen der Sekundärliteratur entgegen der üblichen chronologischen Abfolge alphabetisch nach Autoren bzw. Sachtiteln ordneten. So geht der interessante forschungsgeschichtliche Progreß verloren; als "Nebeneffekt" entstanden kuriose "Nachbarschaften" wie Kannegießer (1835) und Walther Killy (1982, Nr. 2660/61), der Altvater des Positivismus Düntzer (1836) und der unbequeme moderne Psychoanalytiker Kurt R. Eissler (1984, Nr. 2795/97) u. a. Methodisch souverän wird dagegen die Verklammerung des Ergänzungs- mit dem Hauptband durch Konkordanz der Inhaltsverzeichnisse und der laufenden Nummern am unteren Seitenrand des Ergänzungsbandes, durch Gruppen- und Einzelverweisungen sowie die kumulierenden Register realisiert. Wie bereits angedeutet, ist zu bedauern, daß in dem ansonsten gut ausgebauten Registerapparat (getrennte Register der Verfasser und Herausgeber, Buchkünstler bzw. Pressen, Verleger und bibliophilen Gesellschaften) die Titel der Goetheschen Werke (Primär- und Sekundärliteratur) nicht mit erfaßt wurden. Dadurch geht u.a. der Konnex zwischen den bibliophilen Ausgaben einzelner Werke (Gruppe A 3 b) und den der Sekundärliteratur zugeordneten "reinen" Illustrationsfolgen zu denselben Werken (in Gruppe B IV) verloren. Trotz gegenteiliger Versicherung der Bearbeiter werden die in den Titelbeschreibungen bzw. Annotationen genannten Namen nicht immer im Register der Verfasser und Herausgeber bzw. der Buchkünstler berücksichtigt (vgl. hierzu die Nr. 6, 7, 1021, 1023, 1025 u.a.), was sehr zu bedauern ist. Der im einzelnen sehr sorgfältig gearbeitete Katalog weist verschwindend wenige Fehler oder Versehen auf: Nr. 1348: Holtzhausen muß heißen Holtzhauer (auch im Register); bei Nr. 2010 und 2556 fehlt der Verlagsort Weimar; Nr. 4015: Erscheinungsjahr 1896, nicht 1986; Nr. 2676 betrifft die Venezianischen Epigramme, müßte also nach Nr. 2714 eingeordnet werden. Pikanterweise haben die Bearbeiter die bekannten Ulkschriften des Herrn Baus (Nr. 3461, 3781, 3844, 3863 und 3865) offensichtlich nicht durchschaut, so daß sie nicht in der Gruppe B VI 2 (Obtrectationes, Pamphlete, Satiren), sondern in den vermeintlichen Sachgruppen auftauchen.

Der zweibändige Katalog der Goethe-Bibliothek Dorn ist eine wichtige, willkommene Arbeit, eine gehaltvolle neue Quelle zur Goethe-Druckgeschichte und -Bibliophilie. In Rom wird er ein nützlicher Schlüssel zum "in der Ferne gegenwärtigen" Werk Goethes sein.

Siegfried Seifert


[1]
Casa di Goethe : eine Ausstellung zum Goethe-Museum Rom im Bundeskanzleramt Bonn ; 10. November 1993 bis 28. Januar 1994 / [Red.: Ursula Bongaerts-Schomer ...]. - 1993. - 151 S. - DM 10.00. - Arbeitskreis Selbständiger Kultur-Institute e. V., Prinz-Albert-Str. 34, 53113 Bonn. - Vgl. auch: Kulturberichte / Arbeitskreis Selbständiger Kulturinstitute e.V. - 1993,2/1994/1. - S. 4 - 7. (zurück)

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