Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 1
[ Bestand in K10plus ]

Herder-Handbuch des Musiktheaters


94-1-101
Herder-Handbuch des Musiktheaters : Oper, Operette, Musical, Ballett / [Basistext von Renate Wagner. Konzeption und Redaktion: Christian Scholz]. - Freiburg [u.a.] : Herder, 1992. - 1 - 2. 25 cm. - ISBN 3-451-22593-X (Gesamtwerk) : DM 198.00
[1960]

Die Publikation noch eines Nachschlagewerkes zum Musiktheater angesichts der Fülle und Kompetenz schon eingeführter Werke auf dem Markt - vor allem im Bereich Oper[1] - provoziert unweigerlich die Frage nach dem Neuen, Anderen, nach der originären Konzeption und natürlich der sachlichen Kompetenz, die ein solches Unternehmen rechtfertigt. Allzuleicht keimt nämlich - wie beim vorliegenden zweibändigen Handbuch - der Verdacht, die Verleger wollten schlicht und einfach nur kommerziell am Theaterinteresse des Publikums partizipieren. Müßig ist es in diesem Fall die Verzeichnungsdichte der einzelnen Nachschlagewerke im Vergleich zum vorliegenden aufrechnen zu wollen, da sich die Qualität eines Handbuchs zuallererst an seiner Konzeption, der Sachkompetenz seiner Autoren und nicht zuletzt am sprachlichen Niveau der Artikel messen lassen muß.

Doch zunächst zu Aufbau und Anlage. Die einzelnen Artikel ordnen chronologisch nach den Geburtsjahren der Komponisten, beginnend bei Adam de la Halle (Bd. 1, Die Komponisten und ihre Werke: Von den Anfängen bis 1900) und endend bei dem 1955 geborenen Roland Baumgartner (Bd. 2, Von 1900 bis zur Gegenwart). Die Einträge gliedern sich in Zeit und Umwelt, Leben, Werke, Werkbesprechung (nur einzelner Werke, mitunter auch nur ein pauschaler Überblick über das Gesamtschaffen) und Ausgewählte Musikaufnahmen. Bei den von den Autoren wohl als unbedeutend eingestuften, oder im aktuellen Musiktheaterrepertoire tatsächlich wenig repräsentierten Komponisten war's dies auch schon. Bei den unstreitig heute populären folgen noch Handlung, Personen, Entstehung, Bedeutung, Wirkung, allerdings sehr, sehr uneinheitlich, ohne daß an irgend einer Stelle die Kriterien für die unterschiedliche, willkürlich anmutende Gliederung von Artikel zu Artikel genannt würden. Überhaupt vermißt der Leser eine Offenlegung der Auswahl- und Darstellungsprinzipien. Den 2. Band beschließt ein Lexikon- und Registerteil mit diversen sogenannten "Lexika", nämlich der Sachbegriffe, der großen Opernhäuser und Festivals und der großen Interpreten, sowie einem Register der Arien, Szenen und Auftritte und einem Namens- und Werkregister. Dazu reichlich und willkürlich eingestreut schwarzweiße und farbige Bilder von irgendwelchen Inzenierungen.

Das Werk wirkt im ganzen sehr rasch und in großen Teilen nachlässig zusammengeschrieben, wobei der Leser durch die Lektüre nicht mehr erfährt, als er aus den bereits eingeführten Nachschlagewerken sowieso schon weiß. Mitunter liest er's gar doppelt. "Man hat Haas als 'Spitzweg der Musik' bezeichnet, als idyllischen Lyriker" - bei Pahlen[2], 29 Jahre früher, steht dies auch schon so geschrieben. Der Eingangssatz der Werkbesprechung von Honeggers Jeanne d'Arc (S. 643) findet sich sogar wortwörtlich bei Pahlen (S.169). Und die wenigen Zeilen zu Zeit und Umwelt bei Schoeck (S. 638) sind eine plumpe Kompilation des biographischen Artikels bei Zöchling[3] (S. 471). Es geht hier nicht um den Vorwurf des Plagiats. Das "Trivial-Pursuit"-Wissen zu einem Komponisten ist nun einmal begrenzt. Aber wenn die Identität ganzer Teile über das bloß Faktische hinausreicht (Wertung, Duktus der Sprache, einzelne Formulierungen), ist das peinlich und zeugt von einem hemmungslosen und zudem höchst ungeschickt verschleierten Eklektizismus. Erfährt der Leser auf S. 542, Hans Pfitzner sei der "letzte Romantiker", wundert er sich nicht wenig, dasselbe über Othmar Schoeck 88 Seiten später zu lesen. Und dann die Sprache! Verworrene Syntax: "So unmittelbar im Kreis von Richard Wagner, daß er einige Verwandlungstakte im 'Parsifal' komponieren durfte, zeigte Engelbert Humperdincks Werk den Versuch, Wagners musikalische Sprache auf ganz anders geartete Opern (Märchen) anzuwenden" (S. 444); unsägliche, platte Formulierungen: "Emmerich Kálmán ... lieferte den Höhepunkt an 'Csárdás' und 'Paprika'" (S. 613); unsachliche Anmerkungen: "Weber, dessen 'Freischütz' etwa von den Franzosen bei aller Bewunderung nicht richtig erfaßt wird, da ihnen das Werk zu irrational erscheint" (S. 168), oder (nochmals die Franzosen): "Wie eben das ganze Volk als Ergebnis einer nie unterbrochenen Tradition beinahe eines Jahrtausends innerhalb ungefähr ständig gleicher Grenzen eine starke Gleichheit des Wesens herausgebildet hatte" (S. 677); peinliche Charakterisierungen: Was, um Wotans willen, ist bloß eine "vollsaftige" Bühnenfigur (S. 215)? Es ließe sich endlos fortfahren, doch genug. Fazit: nicht empfehlenswert.

Reiner Nägele


[1]
Hierzu ausführlich IFB 93-3/4-203 - 205. - Als aktuelles Nachschlagewerk über Musicals wäre zu nennen: Musicals! Musicals : ein internationaler Führer zu 850 Musicals und 3000 Tonträgern. - Passau : Musicalarchiv Wildbihler, 1992. - (Musical-Dokumentation , 2). (zurück)
[2]
Oper der Welt / Kurt Pahlen. - Zürich : Schweizer Druck- und Verlagshaus, l963. - 575 S. (zurück)
[3]
Die Oper : farbiger Führer durch Oper, Operette, Musical / Dieter Zöchling. - Lizenzausg. - Stuttgart [u.a.] : Deutscher Bücherbund, 1985. - 767 S. - Orig.ausg. 1981 im Verlag Westermann, Braunschweig erschienen. (zurück)

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