Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 1(1993) 3/4
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Vom Medizinstudenten zum Doktor


93-3/4-251
Vom Medizinstudenten zum Doktor : die Göttinger medizinischen Promotionen im 18. Jahrhundert ; sozialhistorisch-vergleichender Überblick / von Ulrich Tröhler. Bibliographie eingel. und bearb. von Sabine Mildner-Mazzei. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1993. - 273 S. : Ill. ; 24 cm. - (Göttinger Universitätsschriften : Serie C, Kataloge ; 3). - ISBN 3-525-35877-6 : DM 78.00
[1681]

Mehr noch als für Juristen hatte die Promotion für Mediziner bereits in der frühen Neuzeit herausragende Bedeutung. Obwohl letztere selten wesentlich mehr als 10 % der Studenten einer Universität ausmachten, schlossen weit über 50 % ihre Studien mit dem Doktor- oder zumindest mit dem billigeren, ansonsten jedoch gleichwertigen Lizentiatengrad ab. Da fast alle Kandidaten pro gradu disputieren mußten, war die Anzahl der medizinischen Inauguraldissertationen vor 1800 beträchtlich. Die meisten entfielen auf die bedeutendsten Universitäten der Aufklärung, nämlich Halle und Göttingen. Für Göttingen haben nun Ulrich Tröhler, Ordinarius für Geschichte der Medizin, und Sabine Mildner-Mazzei eine umfassende Dokumentation der medizinischen Promotionen bis 1800 vorgelegt. Tröhler gibt zunächst einen sozialgeschichtlichen Überblick über den Stellenwert der medizinischen Promotion an den Universitäten des Alten Reiches. Trotz des Status von Göttingen als der renommiertesten Universität der Spätaufklärung, war auch dort das medizinische Promotionswesen auf ein so erschreckend niedriges Niveau gesunken, daß man bereits Schmähschriften darüber verfaßte. Allzu oft ließen die an Promotionen gut verdienenden Professoren den Kandidaten, der in Göttingen besonders hohe Promotionsgebühren aufzubringen hatte, selbst bei bescheidensten Kenntnissen passieren. Die mündliche Disputation, die seit etwa 1770 ohne die ordnende Hand des Präses durchgeführt wurde, geriet immer öfter zur Farce. Zu Zeiten eines Albrecht von Haller[1] (1736 - 1753 in Göttingen) war dies noch ganz anders gewesen. Nicht nur wegen der leichten Bedingungen war Göttingen bei den Medizinstudenten beliebt. Landeskinder durften sich mit einem Göttinger Examen privilegiert im Kurfürstentum Hannover niederlassen. Außerdem wurde die Göttinger Universität nicht so stark von den Auswüchsen des Duellwesens und des Pennalismus heimgesucht und letztlich blieb das Niveau des Göttinger medizinischen Unterrichts trotz gewisser Klagen insgesamt höher als an den meisten anderen Universitäten. So fanden sich bald Kandidaten aus ganz Europa ein. Im liberalen Göttinger Klima verwehrte man auch sozialen Randgruppen wie den Juden[2] die Promotion in der Medizin nicht.

Der von Sabine Mildner-Mazzei betreute bibliographische Teil weist dann die 793 zwischen 1735 und 1800 eingereichten Inauguraldissertationen[3] und - in einer Negativliste - die 80 zweifelhaften oder nachweisbar nicht in Göttingen vollzogenen Promotionen nach. Durch die sehr günstige Quellensituation - weder Universitätsarchiv noch -bibliothek erlitten nennenswerte Verluste - konnte die Bearbeiterin eine Kumumentation von seltener Dichte zusammenstellen. Die Schriften sind bis auf drei in Göttingen vorhanden und werden nach Autopsie beschrieben. Der Dokumentationsteil liefert dann die weiteren Göttinger Daten des Kandidaten, nämlich das Immatrikulationsdatum, das Promotionsgesuch, den Eintrag in das Protokollbuch der Medizinischen Fakultät, den meist gedruckt vorliegenden Lebenslauf[4] und letztlich die Anzeige oder Besprechung der Dissertation in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Die Bibliographie wird durch ein Namen- (Respondenten-), ein geographisches und ein Register der Präsides erschlossen. - Insgesamt verbinden die Verfasser bibliographische Dokumentation vorbildlich mit sozialhistorischer Analyse, wobei die fachhistorische Komponente vielleicht etwas zu kurz kommt. Anhand der Disputationsthemen hätte man sicher etwas mehr über die medizinische Lehre in Göttingen sagen und, da ein Fachmann zur Verfügung stand, auch ein Schlagwortregister beigeben können.

Manfred Komorowski


[1]
Die Privatbibliothek des wohl bedeutendsten Göttinger Mediziners des 18. Jahrhunderts befindet sich heute in der Biblioteca Nazionale Braidense in Mailand und beinhaltet auch eine riesige Dissertationensammlung. Sie wird durch den folgenden gedruckten Katalog erschlossen:
Catalogo del Fondo Haller della Biblioteca Nazionale Braidense di Milano / a cura di Maria Teresa Monti. - Milano : Angeli. - (Pubblicazioni del "Centro di Studi del Pensiero Filosofico del Cinquecento e del Seicento in Relazione ai Problemi della Scienza" del Consiglio Nazionale delle Ricerche : Ser. 2, Strumenti bibiografici ; ...) (Filosofia e scienza nel Cinquecento e nel Seicento)
Pt. 1. Libri. 1983 - 1984. - Vol. 1 - 3,1 - 2. - (... ; 6 - 9)
Pt. 2. Dissertazioni. - 1985 - 1987. - Vol. 1 - 5. - (... ; 10 - 14) (zurück)
[2]
Bis 1800 promovierten 31 Juden in Göttingen. Vgl. dazu: Bio-bibliographisches Verzeichnis jüdischer Doktoren im 17. und 18. Jahrhundert / Manfred Komorowski. - München [u.a.] : Saur, 1991. - 128 S. - (Bibliographien zur deutsch-jüdischen Geschichte; 3).- (zurück)
[3]
In einigen Fällen auch nur die Promotion, da keine Dissertation vorgelegt wurde. (zurück)
[4] In der Regel erschienen die Curricula vitae in Verbindung mit dem Einladungsprogramm des Präses. Sie bieten reiches Material für biographische Untersuchungen aller Art. (zurück)

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